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Читать книгу: «Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid», страница 6

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XIV

Der nächste Vormittag traf Dietrich auf dem Wege zu Frau von Müller. Er wollte sie in Kenntniß des Anerbietens setzen, das Madame Vernon ihr machen werde, und sie bitten, es abzuweisen.

Minutenlang ließ man ihn heute vor der Thür warten. Er läutete mehrere Male diskret und geduldig nach entsprechenden Zwischenpausen. Ihm kam vor, als ob er in der Küche flüstern, leise Schritte über die Steinplatten gleiten hörte, als ob eine Thür möglichst geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen würde.

Endlich hob sich der Zipfel des weißen Vorhanges. Die Dienerin erschien am Fenster und fuhr beim Anblick Brand’s erschrocken zurück.

»Was ist? was giebt’s? Machen Sie doch auf!« rief er laut und beunruhigt.

Noch eine Weile zögerte sie, öffnete aber endlich doch und stand vor dem Eintretenden, sie die brave, in Ehren ergraute Magd, verwirrt, mit unstät flackernden Blicken, mit glühenden Wangen, ein Bild des schlechten Gewissens. »Niemand zu Hause,« stotterte sie und sah dabei schief und verstört nach einem Gegenstande hinüber, der auf dem Küchenbrette lag neben einem kleinen Krater aus Mehl, in den sie ein Eigelb eingebettet hatte. Dieser Gegenstand war eine Zehnguldennote.

»Sie lügen schlecht,« sprach Brand. »Ja, was Hänschen nicht lernt, meine liebe … Darf ich um Ihren werthen Namen bitten?«

»Pauline, zu dienen.«

»Meine liebe Pauline. Die gnädige Frau mag nicht zu Hause sein, aber jemand Anderer ist da bei Ihnen. O, Pauline, in Ihrem – ich will sagen in unserem Alter – in Abwesenheit der gnädigen Frau, und mitten im Kochen!«

»Herr Rittmeister, Jesus Maria, was glauben Sie von mir? Ich weiß nicht, was ich thun soll, ich weiß nicht, was ich sagen soll …«

»Die Wahrheit, Pauline. Wer ist da, wen verstecken Sie?«

»Ich verstecke ihn nicht, er versteckt sich selbst. Ich weiß nicht, warum. Er hat mir befohlen, zu sagen, daß Niemand zu Hause ist, wenn wer Anderer kommt, als die gnädige Frau, und er muß auf sie warten und muß mit ihr sprechen in Geschäften.«

»Er hat befohlen? Wer hat Ihnen etwas zu befehlen?«

»Der Herr Chef, Herr Jesus! Er ist der Chef. Der gnädige Herr Chef wird doch etwas zu befehlen haben. Er kann uns Alle brotlos machen, sagt er.«

»Brotlos machen, so? Nun, meine Liebe, ich habe Ihnen zwar nichts zu befehlen, aber rathen möchte ich Ihnen …«

Herr Jesus! dieser Rath war in einer Manier gegeben, viel fürchterlicher als die des Chefs, Befehle zu ertheilen. Fast hätte die arme Pauline aufgeschrieen.

»Seien Sie still und kochen Sie ruhig weiter, das ist mein Rath. Und dieses Geld« – Brand wies auf die Banknote – »dieses Sündengeld …«

»Sündengeld?« – Jetzt war ihr Gekreische nicht mehr zu unterdrücken: »Ich mag’s nicht, ich hab’s nicht angerührt. Nehmen Sie’s, gnädiger Herr, geben Sie’s zurück.«

»Gut, vortrefflich.« Brand steckte das Geld zu sich und trat ins Atelier. Aber da war Niemand.

Der Elende hatte sich weiter zurückgezogen, ins Zimmer nebenan – Gnade ihm Gott! – ins Schlafzimmer Sophiens. Dietrich ging auf die Thür zu, eine niedere Thür ohne Schloß, drückte die Klinke, und stand in dem Zimmer, in dem die Geliebte, ja, ja, die Vielgeliebte! ausruhte von den Mühen des Tages.

Ein armes, schmales, grau getünchtes Stübchen. An der kurzen Wand, dem geöffneten Fenster gegenüber, stand ein mit einem rothen Kotzen zugedecktes eisernes Bett, ziemlich dicht daneben ein alter, kleiner Ofen, und zwischen diesem und dem Bett war Herr Weiß eingeklemmt und machte verzweifelte Anstrengungen, sich, immer tiefer niederkauernd, zu verstecken. Ein lächerliches Unternehmen, von dem nur Einer, der vor Angst den Kopf verloren hat, glücklichen Erfolg erwarten konnte.

Brand betrachtete ihn mit durchbohrender Verachtung. »Kommen Sie doch hervor,« sagte er, »Sie demoliren noch den Ofen.«

Der Rittmeister spaßte. Unerwartetes Glück! da konnte ja auch Herr Weiß spaßen. Er richtete sich auf, glättete seinen Rock, seine Weste, lachte gequält und stotterte mit unverfälschtem Galgenhumor: »Ha, ha, Überraschung über Überraschung – Sie verderben mir eine Überraschung … Ich wollte – ja, wollte im Auftrage meiner Frau …«

Brand hatte den Blick von ihm ab und auf einen eleganten Cylinder gewendet, der auf dem Bette lag: »Sie haben Ihren Hut in unpassender Art abgelegt, nehmen Sie ihn wieder auf!« sprach er gebieterisch, und Eduard brachte nur ein: »O Pardon!« heraus und gehorchte.

Brand stellte einen Sessel, den einzigen, der da war, vor die geschlossene Thür, setzte sich und kreuzte die Arme.

Weiß sah ihm mit bangen Gefühlen zu. »Was beliebt Ihnen eigentlich?« fragte er, Schlimmes ahnend, aber bemüht, einen »legeren Ton« anzunehmen. »Sollen wir Frau von Müller hier erwarten?«

»Wir nicht. Sie gehen gleich, das heißt, Sie springen – da hinaus.«

Verwirrte die Furcht Eduards Sinne oder streckte der entsetzliche Brand jetzt wirklich den Arm aus, gegen das Fenster?

Er war ganz Kraft, ganz Wille, dieser ehemalige Rittmeister. Unerbittliche Entschlossenheit funkelte aus den tiefliegenden Augen, und um den Mund mit den fest aufeinander gepreßten Lippen hatte ein Zug sich gebildet – dieselben scharfen Furchen mochten sich, wie mit dem Grabstichel in Erz gezeichnet, von den Mundwinkeln herab gezogen haben, damals, als er die Pistole hob, um den Obersten durch und durch zu schießen … In Eduard stieg ein einziger, heißer Wunsch auf, der alle anderen Wünsche verschlang, der Wunsch, aus der Nähe dieses gefährlichen Menschen zu kommen.

»Ich empfehle mich,« sagte er, »bitte nur, mir Platz zu machen.«

»Dort ist Platz genug,« versetzte Brand. Und wieder die entsetzliche Gebärde. »Frau von Müller kann jeden Augenblick nach Hause kommen, und ich will ihr das Mißvergnügen, Ihnen zu begegnen, ersparen. Deshalb gehen Sie nicht über die Stiege, sondern springen aus dem Fenster, wenn Sie es nicht vorziehen, hinaus geworfen zu werden. Sie nehmen auch Ihr Eintrittsgeld mit …« Er hielt ihm die Banknote hin, die Eduard in rathloser Bestürzung einsteckte. »Wenn ich bedenke, daß Sie sich erfrecht haben, Eintrittsgeld zu zahlen …«

»Herr Rittmeister, Sie verkennen meine Absichten, ich versichere Ihnen auf Ehre …«

»Reden Sie nicht von Ehre!« rief Brand. »Ich habe auch Nerven, ich kann manche Worte von manchen Leuten nicht aussprechen hören. – Springen Sie!« Wieder streckte er den Arm aus, und Eduard überlief’s.

Was thun? Sich mit dem Fürchterlichen in einen Ringkampf einlassen – der wahnsinnige Gedanke kam ihm, doch verwarf er ihn sogleich und stotterte: »Es giebt eine Polizei –«

»Nicht in der Nähe. Wenn Sie rufen, kommt höchstens die Hausmeisterin.«

»Die nicht! die nicht!« Vor der graute ihm offenbar – was mochte es gegeben haben zwischen ihr und ihm?

Helle Tropfen perlten auf seiner Stirn. Er näherte sich dem Fenster. Ein Blick, den er in den Garten hinabwarf, beruhigte ihn einigermaßen; es war ein geringes Wagniß, das von ihm gefordert wurde. Nur eine abscheuliche Verletzung der Eitelkeit, niederträchtig beschämend. Aber da kam Hülfe in der Noth, da hatte er einen rettenden Einfall. Der Spieß ließ sich umdrehen und dem Beschützer Sophiens ins väterliche Herz stoßen.

»Wenn ich’s thu’, thu’ ich’s, weil ich’s will, weil’s mir einen Jux macht,« sprach er munter, »weil’s flott ist, weil’s fesch ist. Mich braucht’s nicht zu tangiren, wenn man mich aus dem Schlafzimmerfenster der Frau von Müller springen sieht.«

»Keine Gefahr. Die unteren Fenster sind blind, und der zweite Stock ist unbewohnt. Man läutet. Nun, wird’s?«

»Aus Jux thu’ ich’s – merken Sie sich das …« Er hatte sich auf das Fensterbrett gesetzt und die Füße hinaufgezogen; er sah, daß Brand aufstand und auf ihn zukam. Nein, nein! das verbat er sich – Nachhülfe war überflüssig. Hastig erhob er die Hände zur Abwehr, verlor das Gleichgewicht, fuchtelte, einen Stützpunkt suchend, in der Luft herum, und plumpste kopfüber hinaus.

Brand trat ans Fenster und sah ihn auf dem Boden liegen, und gar nicht »fesch«, gar nicht »flott«, mit blöd aufgerissenen Augen zum blauen Himmel empor starren. Er war tief eingesunken in ein frisch rigoltes Beet, das zur Aufnahme schöner Blumen und nicht zu der eines solchen Klotzes bestimmt war. Dietrich warf ihm seinen Cylinder nach, den er vergessen hatte, und konnte nicht umhin, einen neuen Mangel in der Erziehung dieses Herrn zu rügen:

»Wenn er voltigiren gelernt hätte, wie ganz anders wäre er da unten angekommen.«

XV

Sophie kehrte in freudiger Stimmung heim. Sie war nicht erstaunt, Brand da zu finden. Madame Amélie hatte ihr gesagt, daß er ihr abrathen werde, das Anerbieten des Herrn Vernon anzunehmen, und:

»Einen einmal gefaßten Entschluß lang hinauszuschieben, liegt nicht in Ihrer Art … Aber denken Sie, jährlich zweitausend Gulden!«

Daß ihr Talent, ihre Thätigkeit so hoch angeschlagen wurden, erfüllte sie mit einem wahren Glücksgefühl. Wenn sie auf den Vorschlag, den Amélie ihr gemacht hatte, einging, war sie sorgenfrei, hatte die Möglichkeit, ihre Kinder gut zu nähren und zu kleiden. »Erwägen Sie, was das heißt,« rief sie aus.

»Es heißt viel,« versetzte Brand. »Sich aber täglich für zwölf Stunden von ihnen trennen und sie der Obsorge der Dienerin überlassen, heißt mehr.«

»Pauline ist brav, und meine Kinder sind gehorsam. Georg hält sein Wort wie ein Mann; ich weiß, was ich mir von ihm versprechen lasse, geschieht. Die Trennung an jedem Morgen wird mir freilich schwer werden, aber was erträgt man nicht, wenn man weiß, in zwei Jahren wird Alles besser. Und das wird sein, denn ich darf jetzt hoffen, in zwei Jahren meine verpfändete Pension eingelöst zu haben.«

»So haben Sie angenommen …«

»Noch nicht Ich habe mir eine achttägige Bedenkzeit ausgebeten, obwohl Madame Amélie anfänglich auf sofortiger Entscheidung bestand und den Grund meines Zögerns durchaus kennen wollte. Ich konnte ihr ihn nicht sagen, diesen einzigen Grund … es ist unmöglich – und auch vielleicht höchst lächerlich … In meinen Jahren sollte ich doch die Furcht vor der Zudringlichkeit eines Frechlings überwinden können, der seine albernen Späße gewiß einstellen würde, wenn ich den Muth fände, ihn einmal derb abzuweisen.«

»Fragen Sie Pauline, welchen Spaß der Frechling sich eben erst machen wollte,« sagte Brand und schilderte ihr kurz und lebhaft, was zwischen ihm und Eduard vorgefallen war.

Sophie schüttelte den Kopf. Sie war mit seiner Handlungsweise nicht einverstanden: ihr schien, daß er eine Unvorsichtigkeit begangen hatte, eine Übereilung! Er und eine Übereilung! Wie kann man seinem Charakter so untreu werden?

Dietrich suchte sich zu rechtfertigen. Er war mit den Gepflogenheiten des Hauses schon bekannt genug, um zu wissen, daß um diese Stunde höchstens der schwarze Kater sich im Hofe aufhielt. Pauline ist die Einzige, meinte er, der man zu erklären braucht, wie so der Herr Chef zwar durch die Thür herein, aber nicht mehr durch die Thür hinaus spazierte.

Sophie nahm den Hut ab und die altmodische Mantille, die sie sorgfältig zusammenfaltete, damit das vielfach geflickte Futter nicht zum Vorschein komme. Dann setzte sie sich an den Werktisch und fing an, eine Haube zu montiren.

Sie saß am Fenster im vollen Lichte des sonnigen Tages und Dietrich ihr gegenüber, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Ihre Wangen waren leicht eingefallen, ein Zug von Schwermuth spielte um den Mund mit seinen etwas zu blassen Lippen. Sie sah in diesem Augenblick nicht jünger aus als ihre Jahre. Nur ihre schönen, kunstfertigen Hände waren ganz unverändert geblieben und lösten mit bewunderungswürdigem Geschick und erstaunlicher Leichtigkeit ihre heikle Aufgabe. Der kleine Finger der Rechten, der selbst am Wenigsten leistete, schien der geistige Urheber all des Geleisteten zu sein, schien zu prüfen, zu leiten, sanft gerundet Beifall zu spenden, jäh ausgestreckt Bedenken zu erheben. Brand betrachtete ihn und hätte ihn küssen mögen, bezwang sich aber und blieb regungslos; ein stiller Beobachter, aus dem allmählich ein gekränkter wurde. Etwas von dem, was in ihm vorging, hätte Sophie doch errathen müssen. War’s möglich, daß der Kampf, den er mit seinem übervollen Herzen kämpfte, von ihr unbemerkt blieb? Nur absolute Gleichgültigkeit kann eine scharfsichtige und gütige Frau so blind und grausam machen. Sophie war sich seiner Anwesenheit wohl gar nicht mehr bewußt, sie hatte ihn vergessen über den Spitzen und Bändern, aus denen sich immer deutlicher ein wunderhübsches, kopfputzartiges Ding gestaltete, das sie nun in die Höhe hielt und aus einiger Entfernung prüfend ansah.

»Nein, das könnt’ ich nicht,« rief Dietrich plötzlich aus. Sie lachte:

»Das glaub’ ich, daß Sie das nicht können.«

Er hatte aber etwas ganz Anderes gemeint. Er hatte gemeint: Ich könnte einen Menschen, der mich liebt, der blutig bereut, mich nicht schon einst geliebt zu haben wie jetzt, dem sein ganzes Leben und Alles, was er hat, erst dann etwas werth würde, wenn er es mir darbringen dürfte, nicht so neben mir sitzen lassen, ohne ihm ein Zeichen der Theilnahme zu geben.

Die Kinder waren zurückgekehrt. Man hörte sie in der Küche laut und eifrig sprechen; Annerl lief herein und mit ausgebreiteten Armen auf die Mutter zu:

»Wir sind gefahren, so weit, so geschwind, in einem zugemachten Wagen. Und Fräulein Julie sagt, wenn wir andere Kleider haben werden, werden wir in einem offenen Wagen fahren. Und jetzt sind wir wieder da.«

Georg folgte der Schwester bald nach. Sein melancholisches Gesichtchen war freudig belebt, aber der ihm ungewohnte Ausdruck erlosch plötzlich, er richtete die dunkeln Augen finster auf Brand, zögerte einen Augenblick und kehrte auf der Schwelle wieder um.

»Sehen Sie nun,« sprach Sophie, »so ist er. Daß er nicht Alles findet, wie er sich’s wahrscheinlich vorher ausgemalt hat; daß Sie da sind, daß Annerl ihm zuvorgekommen ist mit ihrer Begrüßung, macht ihn unglücklich, verdirbt ihm die Laune für den Rest des Tages. Ein anderes Kind würde man strafen. Ich hab’ es ja auch bei ihm mit Strenge versucht, aber immer bereut. Er leidet zu viel darunter, die Strafe steht außer Verhältniß zu dem Vergehen.«

Sie hatte die Kleine auf ihren Schoß gehoben, und das Kind umschlang den Hals der Mutter mit beiden Ärmchen und war glückselig.

Brand hatte sich kerzengrade auf seinen Sessel aufgerichtet: »Gnädige Frau,« sagte er, »ich wiederhole meine schon neulich gestellte Bitte: Vertrauen Sie Ihren Sohn meiner Leitung an, überlassen Sie mir seine Erziehung.«

Sophie erhob die Augen zu ihm, sah ihn dankbar an, aber sie schwieg.

»Thun Sie’s,« fuhr Dietrich fort, »Georg soll es gut haben bei mir, es soll ihm an nichts fehlen, auch nicht an weiblicher Pflege. Diese ließe ihm eine höchst anständige Person zu Theil werden, Frau Magdalena Peters, die Mutter meines Täuflings, Dietrich Peter Peters.«

»Sie haben Alles erwogen, ich seh’s,« versetzte Sophie freundlich, ja herzlich, und dennoch klang eine leise Ironie aus ihrem Tone. »Aber man mag sich etwas Unbekanntes noch so deutlich vorstellen, wenn es in Wirklichkeit an uns herantritt, überrascht es doch immer. Sie wissen nicht, was Sie sich aufbürden wollen … Ich habe es schon einmal gesagt – ein Kind, in ihrem gewiß schönen, musterhaft geführten Haushalt …«

»Ein Kind?« fiel er ihr ins Wort. »Zwanzig Kinder tummeln sich wöchentlich einmal bei mir herum. Ich gebe Soiréen, Erziehungs-Unterhaltungen … Ihr Sohn ist feierlich geladen. Gestatten Sie mir meinen Beruf auch an ihm zu erfüllen; es würde vielleicht nicht ohne Nutzen für ihn sein. Für mich – was freilich kaum in die Wagschale fällt – wäre es ganz gewiß ein Glück. Lassen wir’s auf eine Probe ankommen, gnädige Frau. Natürlich müßte ich vor Allem trachten, Georg an mich zu gewöhnen, seine Zuneigung zu erringen. Ich würde am Liebsten morgen schon den ersten Versuch machen und ihn abholen kommen zu einem Spaziergang, wenn Sie es erlauben.«

»Gern, wie gern, und ich danke Ihnen.« Sie war verlegen und gerührt und sprach mühsam: »Ich danke, und in einem Athem bitte ich auch … Was die Antwort betrifft, die Madame Vernon in acht Tagen von mir erwartet – Herr Rittmeister, da lassen Sie mich allein entscheiden. Rathen Sie nicht ab, suchen Sie nicht, mich zu beeinflussen. Ich muß in dieser Sache ganz frei, ganz nach eigener Einsicht handeln.«

»Wenn ich nicht abrathen darf«, erwiderte Brand schmerzlich, »darf ich Sie während der Bedenkzeit, die Sie sich bedungen haben, nicht sehen, nicht sprechen, denn sonst …«

Er wurde durch das Eintreten Paulinens unterbrochen, die den Tisch decken kam.

»Warten Sie,« rief Sophie ihr hastig entgegen und erröthete über und über; sie wollte keinen Zeugen haben bei ihrer ärmlichen Mahlzeit.

Brand empfahl sich, und es that ihm bitter weh, daß ihr Abschiedswort lautete:

»Auf Wiedersehen also, in acht Tagen.«

Unter dem Thore wurde er von der Hausmeisterin erwartet.

Sie schlich auf ihn zu, eine lächelnde Hyäne, warf einen spähenden Blick in die Runde, konnte nirgends einen Lauscher entdecken, und sprach:

»Hob’n e’n beim Fenster ’nausg’schmiß’n! Recht is ihm g’scheg’n. Nur schod, daß mer kein’ dritt’n Stock hob’n.«

»Ich habe Niemanden zum Fenster hinausgeworfen,« erwiderte Brand.

»No, versteht si!« Sie lächelte verschmitzt, und jetzt erinnerte sie an ein Krokodil. »Thon hoben’s es nit, aber hundertmol verdient hätt’s der Schuft, der miserabliche. Schon von weg’n den jung’n Ding von do drib’n. So an arm’s jung’s Ding. Die Eltern sein Schneidersleit’, brave Leit’, und ’s Mädl war a brav … Bis der Schuft – ober dös steht ihm no ins Haus, dös wird sei Gnädige erfohren, ob s’es g’freit oder nit … Jetzt’n hot er’s satt, dös arme Ding, und bandlet gern an mit uns’rer Frau von Miller. No jo, so en einschichtigs Frauenzimmer wäre ihm holt commod, ’s is a Glick, daß der gnä’ Herr zum Recht’n seg’n und ihn ’nauspfeffern.«

»Frau Hausbesorgerin, ich habe ihn nicht hinaus »gepfeffert«, ich habe ihn ersucht, sich selbst an die frische Luft zu setzen,« sprach Brand ernst und nachdrücklich.

»Wenn er nur g’setzt ist, wenn’s ’n nur obg’schofft hob’n. Wie S’n obg’schofft hob’n« – sie fuhr mit dem Arme durch die Luft, als ob sie etwas Schweres bei Seite bringen und für immer begraben wollte, und legte dann betheuernd ihre Rechte auf die Brust: »Dös bleibt bei mir!«

XVI

Die ganze folgende Woche hindurch kam Brand regelmäßig, um Georg abzuholen. Er übernahm ihn am Morgen an der Thür und gab ihn Abends an der Thür wieder ab. Der Kleine kehrte täglich mit einem größeren Wiesen- und Waldblumenstrauß heim, und auch täglich munterer, mit frischeren Augen, rosig angehauchten Wangen.

Das Porträt, das er an jenem Tage, an dem die Anwesenheit Brand’s seinen Unmuth erregt, in die tiefste Tiefe des Malkastens verbannt hatte, kam wieder zum Vorschein; Georg strichelte so lange daran, bis der Kopf und der geheimnißvolle Hintergrund, von dem man nicht wußte, ob er einen Gewitterhimmel mit Geisterschlacht, oder ganz einfach die Zimmerwand vorstellen sollte, ganz schwarz wurden. Aber Ähnlichkeit mit einem ins Mohrenhafte übersetzten Dietrich Brand war da, und nach einiger Zeit befestigte der Knabe das Bild an der Wand neben seinem Bette und schlief unter den rabendunkeln Augen des neuen Freundes ein. Freilich nur, um bald wieder zu erwachen. Ruhiger, gesunder Schlaf wollte sich weniger als je einfinden. In seinen Träumen setzte Georg die Wanderungen mit dem »Herrn Rittmeister« fort, lachte laut über die tollen Sprünge eines aufgescheuchten Häsleins, fuhr auf mit einem gellenden Schrei, weil er eine Schlange heranschleichen und sich ringeln sah auf seiner Bettdecke. Kaum beschwichtigt und wieder eingeschlummert, übte er im Schlafe seine neueste Kunst, ahmte den Schlag der Nachtigall nach, den Sang der Drossel, das zierliche Gezwitscher der Meise. Es klang eigen, lieblich und unheimlich zugleich, und Sophie fragte sich, ob ihrem armen Kinde auch die Freude, die es jetzt genoß, zum Unsegen werden sollte.

Die Bedenkzeit war um; am achten Tage kam Sophie selbst, den Touristen die Thür zu öffnen und Brand fragte:

»Was werden Sie beschließen?«

»Ich habe schon beschlossen, ich habe heute mein Amt angetreten.«

Dietrich fuhr zusammen. Ihm war, als stände er nicht mehr vor ihr an ihrer Schwelle, als sei sie ihm in weite Ferne gerückt, als hätte eine Kluft sich plötzlich zwischen ihnen aufgethan. Und in der war versunken, was ihm mehr, als er selbst es gewußt, die letzte Zeit hindurch das Leben erhellt hatte – eine leise und hold schimmernde Hoffnung auf zukünftiges Glück.

»So?« sprach er. »So? … Ganz recht, Sie sind Ihr eigener Herr.«

Sie war’s und wollte es bleiben; hätte sie ihm das deutlicher beweisen können? Sein Rath, sein Wunsch, seine Bitten galten ihr nichts. Nun ja, wenn einem ein Mensch gleichgültig ist! Denke den Gedanken nur aus – eine erloschene Neigung läßt sich nicht wieder anfachen, nie. Dietrich verbarg seine schmerzvolle Enttäuschung; er lächelte nur sehr traurig, als Frau von Müller sagte:

»Sie sind im Begriff, meinem Kind zu Liebe Ihr Behagen aufzugeben, Ihre Freiheit, und ich sollte dieses große Opfer annehmen und selbst nicht das kleinste bringen? Es ist unmöglich. O, Herr Rittmeister, Sie an meiner Stelle würden das auch finden, Sie würden genau so fühlen und handeln wie ich.«

Brand erwiderte, daß er nicht im Stande sei, sich in die Empfindungsweise einer Dame hinein zu versetzen. Übrigens verstehe es sich von selbst, daß Sophie nichts Anderes thun könne und dürfe als das, was sie für das Rechte halte.

Er nahm Abschied und war ein wenig erbittert und fest entschlossen, mit sich fertig zu werden. Es mußte ihm gelingen, es gelingt jedem tüchtigen Menschen, dem eine schöne Aufgabe gestellt ist, an deren Erfüllung er mit ganzer Liebe geht, die ihn abzieht von der Grübelei über das eigene Wohl und Weh und dem thörichten Hangen und Bangen nach Unerreichbarem. Diese Aufgabe war zunächst: Georg an sich zu gewöhnen und die Eiswand ein- für allemal zum Schmelzen zu bringen, die immer noch von Zeit zu Zeit wie auf ein Zauberwort aus dem Boden stieg und sich zwischen ihm und dem Kinde aufstellte.

Dietrich warb um seine Zuneigung mit großer Kunst, mit stets bewährter Geduld, und mußte lange werben und durfte sich’s nie merken lassen, daß er warb. Er mußte ihn selbst herankommen lassen, den scheuen kleinen Menschen, der so viel Liebe brauchte und sich immer wieder in plötzlichen Anwandlungen des Mißtrauens von Dem abwendete, der ihm die reichste entgegen trug.

Der berühmte Kinderarzt, mit dem sich Brand seit der Geburt seines Täuflings befreundet hatte und dem er nun auch seinen Pflegesohn vorführte, empfahl die äußerste Sorgfalt. Gute Nahrung, gute Luft, Bewegung, aber keine Ermüdung, Beschäftigung, aber keine Anstrengung. So ein geschicktes Lootsen zwischen allen möglichen Klippen, schwer, schwer! – »Nun,« setzte er tröstend hinzu, als er den tieftraurigen Eindruck sah, den seine Worte auf Brand machten. »Sie bringen ihn vielleicht durch. Ein Erziehungskünstler sind Sie schon, jetzt müssen Sie noch das Krankenwarten erlernen. Schwächlich bleibt Ihnen der Bursch übrigens sein Lebtag.«

Schwächlich und einsam, dachte Brand. Georg paßte nicht in die Gesellschaft anderer Kinder; hülflos und fremd stand er bei den Samstag-Versammlungen, betheiligte sich nicht an den Spielen der Kinder, sah ihnen nur aufmerksam zu, und dabei verklärte gar oft ein Aufleuchten der Freude, der Liebe, der Bewunderung sein stilles Gesichtchen. Die Kinder wußten diese platonische Theilnahme nicht zu schätzen. Die Mädchen lachten ihn aus, die Buben neckten ihn, vor denen mußte ihn Brand fortwährend retten.

»Wehr’ Dich!« rief er ihm einmal zu, als ein übermüthiger Junge sich vor ihn hinstellte, ihn zum Kampf herausforderte und ihm statt aller anderen Präliminarien einen Faustschlag versetzte.

»Wehr’ Dich!« wiederholte Brand.

Georg richtete einen seltsam fragenden, überlegenden Blick auf ihn, schüttelte den Kopf und sprach: »Nein, laß’ ihn, den Armen.«

Was ging in ihm vor? Verstand er, was er da sagte? Woher kam ihm die Offenbarung, daß Unrecht thun mehr Qual in sich birgt als Unrecht erfahren, und bedauerte er deshalb den Knaben, der ihn schlug?

Ein solcher Mitleidskünstler sollte dieser kleine Georg sein, dem jede sentimentale Weichlichkeit fern lag, der, wie manches von Geburt an kränkliche Kind, körperliche Schmerzen mit klaglosem Heldenmuth ertrug? Er hatte kaum gezuckt, als die Faust des Angreifers auf ihn niederfiel, er hätte sich als Mann nicht anders benehmen können, wenn die schwere Hand des Schicksals ihn getroffen hätte.

Die Zeit, zu der Dietrich in den vergangenen Jahren seine Sommerreise angetreten hatte, war vorbei, und noch immer traf er nicht die geringste Vorbereitung, die Stadt zu verlassen. Frau Peters und ihr pausbäckiger Junge residirten schon seit einigen Wochen im Hochparterre der Villa in Neuwaldegg, die seit dem Tode der Eltern Brands leer gestanden hatte. Magdalena kam wöchentlich zweimal, um »im Geschäft« nachzusehen, das in ihrer Abwesenheit von der »Kusin« geführt wurde, und versäumte nie, Dietrich zu besuchen und zu ermahnen.

»Kommen’s doch hinaus, Herr Rittmeister, ’s is ja Sünd und Schad, so ein schönes Haus, und Niemand drin als ich und mein kleiner Bub. So ein schöner Garten, und wenn ich Abends da sitz allein unter den Buchen, da mein ich ordentlich, ich hör’ sie lamentiren, um ihren Herrn.«

»Glauben Sie das, Frau Peters,« erwiderte Brand. »Sie hören die Buchen um Jemand ganz Andern lamentiren als um mich.«

Magdalena erröthete und sprach resolut: »Daß ich nix dagegen hätt, wenn mein Mann da wär, das ist natürlich, aber auch Sie, Herr Rittmeister, gehören zu uns. Wenn einem der liebe Gott so was Schönes beschert, will er auch, daß man was davon hat. Auf so einen Besitz, so einen prächtigen, g’hören mehr Leut hin als wir Zwei, mein Peterl und ich.«

Brand wußte wohl, wer seiner Meinung nach »hingehörte«, wen er am Liebsten durch die Zimmer schreiten sähe, die ihm so traut belebt wurden durch die Erinnerung an seine Eltern. Er wußte, wem er am Liebsten gesagt hätte: Tritt ein, nicht als Gast, nein, als Gebieterin, und verwandle mir mein verödetes Eigenthum in ein trautes Zuhause. Sophie hielt ihn aber viel zu kurz, als daß er eine Anspielung auf einen so kühnen Wunsch wagen durfte. Er getraute sich nicht einmal, von seinen peinigenden Sorgen um sie zu sprechen und sah doch, daß ihre Kräfte in dem selben Maße sanken, in dem ihr Eifer, die übernommene Aufgabe gut zu erfüllen, stieg. Daß diese Aufgabe keine leichte sein werde, darüber hatte sie sich nicht getäuscht, hatte im Voraus gewußt, daß sie sich die Stellung, die man ihr gab, erst machen müsse. Es war eben ein Kampfplatz in Miniatur, auf dem sie stand. Sie hatte den passiven Widerstand der älteren Fräulein gegen eine »plötzlich hereingeschneite« Autorität zu erdulden und die Unbotmäßigkeit der jungen Fräulein zu besiegen.

»Und – was mir am Schwersten fällt,« sagte sie, »ich muß mich gewöhnen, die Arbeit, die ich immer mit Ernst und Sorgfalt gethan habe, von Anderen mit empörender Nachlässigkeit thun zu sehen, ohne sie ihnen aus der Hand nehmen und kurz und gut selbst fertig machen zu dürfen. Ich werde für etwas ganz Anderes bezahlt; ich soll lehren, leiten, heranbilden.«

»Lehren, leiten, heranbilden – unmöglich, wenn man Ihnen keine Macht einräumt,« erwiderte Brand nach einigem Nachdenken. »Ich staune nur, daß ein großes Etablissement wie das von Madame Vernon’s überhaupt bestehen kann ohne militärische Organisation.«

Sie lachte: »Schlecht und recht geht’s doch weiter, und was mich betrifft, ich muß und ich werde mich zurecht finden. Es ist Feigheit von mir, daß ich klage. Eines, die Hauptsache, hat sich von Anfang an so gut gemacht, wie ich’s besser gar nicht wünschen kann – der Chef ignorirt mich. Das verdanke ich Ihnen, auch das …«

»Wann werden Sie sich eine Erholung gönnen?« fiel Brand rasch und beinahe aggressiv ein. »Wann gedenken Sie Urlaub zu nehmen?«

»In diesem Jahre doch nicht, im ersten Jahre doch nicht. Am wenigsten doch jetzt, da in sechs Wochen der Schluß der Ateliers für fast zwei Monate während der saison morte bevorsteht.«

Mit dieser Antwort mußte er sich bescheiden und war in nicht eben rosiger Laune, als Madame Amélie nach langer Zeit einmal wieder einen Hülferuf ertönen und Brand zu sich bitten ließ.

Er traf sie in einem bejammernswerten Zustand. Sie lag auf dem Ruhebette, über dessen Lehne ihre langen dichten Haare, in Strähnen aufgelöst, hingen; sie stöhnte und hielt dem Eintretenden mit krampfhaft zuckenden Fingern einige zerknitterte, thränengetränkte Briefe entgegen:

»Eh bien – voilà!«

Sie wußte Alles. Ein Armenadvokat hatte sie in Kenntniß von der neuen Schlechtigkeit ihres Gatten gesetzt, der die jüngste und hübscheste unter den jungen Arbeiterinnen verführt, verlassen und, als sie ausblieb aus dem Atelier, schändlich verleumdet hatte bei seiner Frau. O, ihr graute, ihr ekelte vor ihm. Er war kein pauvre chéri mehr, er war Monsieur Weiß, der fripon, den sie verachtete, und von dem sie sich trennen wollte, auch wenn ihr Herz darüber in Stücke ginge.

»In Stücke, darüber? da müßte es doch ein recht zerbrechliches Ding sein. Ich aber halte es für ein stolzes und standhaftes Herz, das sich aus erniedrigenden Banden befreien wird. Gehört Heldenmuth dazu? Sie haben ihn, Sie sind gewiß nicht umsonst die Tochter des Landes, das so viele Heroïnen geboren hat.«

Amélie richtete sich auf, der Schmeichelei war sie noch am Rande der Verzweiflung zugänglich.

Dietrich fuhr eine Weile in gleichem Tone fort, warf sich dann aber auf das Praktische: »Wenn Sie diesen Menschen noch eine Zeit lang als Chef walten lassen, führt er eine Paschawirthschaft ein, verwandelt Ihre Ateliers in Harems. Die Achtung, in der Ihr Haus steht, geht verloren. Ihr sauer erworbenes Geld, das Sie guldenweise hereingebracht haben, fliegt zu Tausenden hinaus. Wofür, Allgerechter! Ihre Schande, die Sünden, die man an Ihnen begeht, werden damit bezahlt.«

Madame Amélie hörte ihm zu, rieb sich die Schläfen mit Migränestift, erröthete und erbleichte. Niemals hatte die Beredsamkeit Brands eine solche Wirkung auf sie ausgeübt, wie im Augenblick, in dem er gegen Herrn Eduard für ihr Geld plaidirte. Sie gab ihm in Allem Recht. Ja, es war aus und mußte aus sein! Elend hatte der fripon sie gemacht, zur Bettlerin sollte er sie nicht machen. Sie trennte sich von ihm, sie that’s, wenn es auch – von dieser Befürchtung kam sie nicht los – ihren Tod herbeiführen oder doch beschleunigen werde.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
01 августа 2017
Объем:
290 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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