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3. Kapitel

Was für eine Schnapsidee das von ihr war, mit dem Auto in Wien herumzufahren. Walli ärgerte sich. Bereits das dritte Mal war sie erfolglos um denselben Häuserblock im 18. Wiener Gemeindebezirk gekurvt. Kein Parkplatz weit und breit.

Nur ruhig bleiben. Irgendwo würde sich schon etwas finden, hoffte Walli Winzer. Auch, wenn ihre Geduld bereits an einem seidenen Faden hing.

Sie beobachtete bereits zum zweiten Mal, wie ein Mann versuchte, sein Motorrad zu starten, dessen Zündung offenbar streikte. Eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob und ein Kleinkind an der Hand hielt, war während ihrer Runden auch nicht viel weiter gekommen. Und ein alter Mann, der zuvor auf der einen Straßenseite gestanden war und versucht hatte, mit dem Feuerzeug seine Zigarette anzuzünden, hatte es aktuell nur auf die gegenüberliegende Seite geschafft.

Endlich! Walli Winzer war erleichtert, als schließlich jemand vor ihr aus einer Parklücke fuhr. Diese kleine Freude des Alltags hob gleich ihre Stimmung. Das war auch notwendig. Vor allem, wenn sie an die Moralpredigt von Thomas dachte, die demnächst auf sie niedergehen würde. Er wartete immerhin schon eine halbe Stunde auf sie. Und eines wusste Walli mit Sicherheit: dass er das ganz und gar nicht mochte.

Zu warten. Auf sie zu warten.

Wie er das früher, während ihrer Ehe, so oft getan hatte. Das von ihr hinnehmen musste, als sie noch verheiratet waren.

Walli hatte nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen und begonnen, ihre Agentur aufzubauen. Viel Unvorhersehbares trat natürlich in den ungeeignetsten Momenten ein. Eh klar! Walli musste darauf reagieren und hatte Berufliches immer vor ihre Ehe mit Thomas Drexler gestellt. Ja, und? Okay, das geht mit einem bürgerlichen Mann nicht. Auf Dauer hatte sich das gerächt. Ihre Ehe zerbrach. Sicher nicht nur daran.

Thomas war letztlich kein einfacher Charakter. Spröde und voll hoher Erwartungen an seine Umgebung. Natürlich war er das in gewisser Weise bis heute geblieben. Denn keiner konnte seine Persönlichkeit um 180 Grad ändern. Schließlich war bei jedem nur so viel da, wie eben da war. Auch wenn Mentaltrainer und Psychiater einem das mehr oder weniger anders verklickerten.

Zugegeben, Thomas war in den letzten Jahren etwas nachsichtiger geworden. Musste er wohl auch, denn welche Frau ließ sich heutzutage von einem moralisierenden Spießer auf Dauer gängeln und sich permanent sagen, wo’s langginge?

Walli Winzer nahm den Weg zum Café quer über den Platz.

Bemängelte Walli einst Schrulliges an Thomas, reagierte der jedes Mal eingeschnappt. Irgendwann wurde es ihr zu bunt. Nämlich dann, als sie bemerkte, dass sie im Beruf immer erfolgreicher wurde und sich die charmantesten Männer für sie zu interessieren begannen.

Als Thomas allerdings anfing, eine Reptiliensammlung anzulegen, und diverse Schlangen und Leguane zeitweise ihren Käfig verließen, um über ihre Bettdecke zu huschen, wurde es Walli Winzer zu viel. Sie musste raus. Raus aus diesen sie einengenden Verhältnissen. Raus aus der kleinbürgerlichen Lehreridylle. Und raus aus diesem Unverständnis gegenüber ihrer Gesamtsituation.

Überall hieß es: Frauen ran an die Schaltstellen der Macht! Kam frau dem nach, gab es nicht nur diesen einen Thomas, der einen daran hinderte, obwohl man ihn sogar liebte.

Viele machten es wie er. Als Lehrer erzogen sie die nächsten Generationen, manchmal noch nach längst überholten Gesellschaftsmustern. Auch Konzernbosse tickten nicht anders – außer man zog sie ganz schnell mit weiblicher Strategie ins Vertrauen – dazu gehörte auch Sex.

Selbst dieser fehlte Walli irgendwann in ihrer Beziehung. Doch wie hieß es später so oft: Alles war mittlerweile Geschichte, und Walli Winzer war eine der mächtigsten PR-Ladys in Österreich geworden.

»Hallo, Thomas!« Walli sah ihn, gebeugt über seinem Handy mit einer Tageszeitung neben sich. Er blickte auf und sein Gesicht verriet bereits eine gewisse Angespanntheit.

»Sorry! Aber du weißt, der Verkehr in Wien, vor allem seit Corona …« Walli ersparte sich weiterzusprechen. Thomas würde ihr sowieso kein Wort glauben.

Er sagte auch nichts, stand hingegen auf, küsste sie auf die Wangen und wies ihr den Platz.

»Komm setz dich!« Vorher nahm er seine Jacke vom gegenüberliegenden Stuhl und wartete darauf, dass Walli ihr Cape auszog. Damit machte er sich auf den Weg zum Kleiderständer, der sich neben der Eingangstür befand.

Walli sah ihm nach. Sie konnte es nicht glauben. Wo war seine Moralpredigt? Gut, über seine Belehrungen war sie altersmäßig hinausgewachsen. Aber wo blieben seine Vorwürfe? Gift hätte sie darauf genommen, dass er seinen Ärger nicht für sich behielt. War das wirklich Thomas? Ihr Thomas, den sie seit nunmehr 30 Jahren kannte?

Irgendetwas war da im Busch, dessen war sie sich sicher. Irgendetwas, worüber sie nicht informiert war. Sie spürte es förmlich. Was war es nur?

Die Spannung stieg. Augenblicklich würde sie es erfahren. Erfahren wollen! Was überlegte sie da überhaupt noch. Thomas würde damit sowieso nicht hinter dem Berg halten. So gut kannte sie ihn. Gleich würde er es ihr sagen, es sozusagen aus ihm heraussprudeln.

Thomas Drexler kam an den Tisch zurück. Walli schaute ihn vielsagend an. Er erwiderte ihren erwartungsvollen Blick und sagte: »Erholt schaust du aus! Das Waldviertel tut dir wirklich gut. Die Ruhe, die Stille.« Er musterte sie weiter.

Walli sagte nichts und wartete ab, was noch kommen würde. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Etwas hatte er noch in petto, da war sie sich sicher.

Aber was?

Es kam nichts. Auch weiterhin.

Stattdessen verhielt sich Thomas wohlwollend und friedlich. Schenkte ihr Beachtung. Er lächelte sie sogar an. Und das, obwohl sie zu spät gekommen war.

Die Situation war Walli nicht geheuer.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Eine Idee. Eine Eingebung. Ja, langsam wurde sie sich dessen immer sicherer. Nur das konnte es sein. Er wirkte so ausgeglichen, so in sich ruhend. Yoga machte er bestimmt nicht. Das konnte sich Walli nicht vorstellen. Also blieb nur eins: Thomas war einer Sekte beigetreten.

Ohne ihn weiter anzusehen, griff sie sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Schläfen und begann dort einen Punkt zu massieren. Nicht zu fest und nur langsam. Walli schloss dabei die Augen. So hatte ihr Erna Reisinger, Hebamme und Kräuterexpertin in Großlichten, es gezeigt. Die Spannungen würden sich dadurch lösen, die Sauerstoffzufuhr im Gehirn angekurbelt und die Atmung langsamer werden.

Tatsächlich.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Thomas besorgt. Er griff nach ihrer Schulter und wartete auf eine Reaktion.

Walli Winzer verharrte in ihrer Position und änderte diese nur langsam. Sie richtete sich auf und blickte in Thomas’ erwartungsvolles Gesicht. Gleich darauf starrte sie auf das kleine Blumenarrangement neben der Getränkekarte auf dem Kaffeehaustisch. Sie atmete tief ein, ohne die Luft hörbar wieder abzugeben. Walli war sich nicht sicher, wie und ob sie Thomas in seiner Lebenskrise würde beistehen können. Denn nur so etwas konnte es sein, wenn er bereit sein würde – obwohl katholisch –, sich jetzt für eine Sekte zu interessieren.

Nun ja, verklemmt war Thomas allemal. Auch wenn man es ihm auf den ersten Blick nicht gleich ansah. Aber seine Liebe zu strikter Regelmäßigkeit, zu Ritualen und seine Starrheit waren schon Hinweise darauf, dass er in einer immer komplexeren und unvorhersehbareren Welt nach Ankern suchte. Und das besonders in einer Chaoswelt, wie sie es mancherorts an Wiens Schulen war.

Orientierung verkündeten die neuen Heilsbringer aus den Sekten. Zufriedenheit und Gemeinschaft versprachen sie. Gaben esoterische Ziele vor. Emotionalisierten. Stimulierten unter ihrem Einfluss mehr Lebenszufriedenheit, um danach ihre jeweilige Ideologie besser durchsetzen zu können.

Walli wusste nicht, mit welchen Personen ihr Ex gerade abhing, wer Teil seines Freundeskreises war. Oder dirigierte ihn jetzt Alma, seine Frau, die bisher allerdings als eher aufgeschlossen gegolten hatte? Vielleicht war sie es, die Thomas so weit gebracht hatte? Na ja, nicht dass Walli Alma ablehnend gegenüberstand. Im Gegenteil! Sie war einst froh gewesen, dass Thomas eine Neue gefunden hatte. Und das, obwohl er zuletzt besonders anstrengend gewesen war.

Walli mochte ihren Ex ja nach wie vor. Aber anders eben. Auf Distanz. Na, war das schlecht, fragte sie sich, wenn man Jahre später einem vertrauten Menschen auf einer neuen Ebene begegnen konnte? Dabei auch all seine positiven Eigenschaften kannte und schätzte, die einem ja immerhin einmal etwas wert gewesen waren? Gewissermaßen in einem anderen Leben, aber eben doch. Zumindest einen Lebensabschnitt lang.

Thomas schaute Walli an. Er kannte ihren verhaltenen Blick. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen. So, wie sie jetzt vor sich hin schaute und ihn dabei aus den Augenwinkeln heraus beobachtete, wusste er, dass sie sich eindeutig über etwas Gedanken machte. Nur worüber? Er erinnerte sich, dass sie das auch früher gerne gemacht hatte. Manchmal. Ihn heimlich beobachten. Das war aber schon lange her. Damals waren sie beide noch sehr jung gewesen.

Er erinnerte sich an den Sommer vor vielen, vielen Jahren, als er mit einer Gruppe von Freunden abhing. Lustig und frei ging’s damals unter ihnen zu. Sie besuchten den Prater. Genauer gesagt: den Wurschtlprater, den Wiener Vergnügungspark.

Ausgelassen waren sie gewesen.

Damals.

Ihr spärliches Taschengeld hatten sie zusammengekratzt und wollten unbedingt etwas erleben. Hoch hinaus! All die Träume, Hoffnungen, Wünsche! Die ganze Welt schien ihnen offenzustehen. Würde ihnen noch offenstehen.

Welches Hochgefühl! Mutprobe im Wurschtlprater war damals wie heute die Hochschaubahn. Diese riesige Achterbahn mit den vielen Kurven. Erst hoch – dann tief und steil nach unten.

Gut, dass sie alle vom Leben noch nichts gewusst hatten. Wie es sein konnte. Kommen würde. Kommen konnte. Nicht eben nur Sonnenschein, den sie damals erlebten, sondern auch trübere Tage. Solche, die sie noch nicht kannten. Worüber sie nie nachdachten, weil sie wohlbehütet aufgewachsen waren. Ihre Eltern Sorgen vor ihnen fernhielten. Sie innerhalb der Gruppe voller Übermut ihre Kräfte maßen. In Freundschaft natürlich. Meistens jedenfalls.

Thomas mochte es, an seine Jugendzeit zurückzudenken. Unbeschwert. Auch wenn er dabei einige unangenehme Lümmel aus seiner Klasse ausblendete. Doch all das hatte ihn ermutigt, ein Lehramtsstudium zu beginnen. Er liebte seinen Beruf. Auch heute noch. Viel hatte er für Kinder übrig. Obwohl sie tatsächlich anders als früher waren: anstrengender, fordernder, individueller, kurz gesagt: nerviger.

Aber an diesem Punkt konnte er sich schon während seiner Ehe mit Walli abarbeiten. Dieser Unsteten, Wechselhaften und nur in einem Punkt Beständigen: in ihrem Anstrengend-Sein!

Sei’s drum. Trotzdem war’s das alles wert gewesen. Sie beide – ein Team. Wie Walli damals schreiend und lachend in der Gondel der Hochschaubahn gesessen hatte, die Arme voller Begeisterung in die Höhe gerissen und danach schwankend, aber glücklich zum Ausgang getorkelt war. Dies alles hatte Thomas plötzlich wieder deutlich vor Augen. Wie er sie dabei beobachtet hatte.

Damals. Sie ihn aber nicht wahrgenommen hatte. Nicht bemerkte.

Vorerst.

Er sie schon. Denn sie gefiel ihm. War sexy, schlank, sinnlich.

Sie war auch lustig. Er hatte sie angesehen und sich in ihren Anblick vertieft. Die junge Frau berührte sein Herz. Sehr. Damals. Just in diesem Moment hatte sie seinerzeit zu ihm herübergeblickt. Eine Welt war für ihn aufgegangen.

In diesem Augenblick spürte er – nur sie.

Walli wurde langsam unrund. Sie bereitete sich darauf vor, Thomas sein Geheimnis zu entlocken. So behutsam sie konnte. Dabei sah sie ihn freundlich an. Überlegte vorerst aber, was sie beim Ober bestellen sollte. Es fiel wenig originell aus. Sie bestellte: »Einen Caffè Latte, bitte!«

»Auf dich ist eben Verlass, zumindest dabei«, witzelte Thomas gut gelaunt.

Walli war erstaunt. Er zeigte Humor. Auch wenn der gerade auf ihre Kosten ging. Aber immerhin. Ein neuer Zug an ihm. Thomas bestellte eine Melange. Das war ein Espresso mit doppelt so viel Wasser und Milchschaum. Sie wusste, er liebte diese klassische österreichische Kaffeespezialität.

»Du bist ja so gut drauf. Gibt es da etwas?«, fragte Walli Winzer vorsichtig.

Thomas sah sie offen an und schüttelte bedächtig seinen Kopf. »Ich freu mich, dass wir einander wiedersehen. Das ist alles. Ist ja schon eine Ewigkeit her.«

»Ja, ich weiß gar nicht, wann’s das letzte Mal war?«

»Ein halbes Jahr ist das mindestens her«, war sich Thomas Drexler sicher.

Walli begann erst gar nicht nachzurechnen. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, die für sie ungewöhnliche Situation unter Kontrolle zu halten. Sie sah daher ihren Ex mild und verständnisvoll an.

Da Thomas die gedankliche Abwesenheit Wallis nicht erklären konnte, beschloss er, ihr von seiner letzten Reise zu erzählen: »Eine beeindruckende Reise und ein unglaublicher Gegensatz, diese Türkei, damals zu heute …«

4. Kapitel

»Pass doch auf!«

Ein Mann fortgeschrittenen Alters wandte sich behänd einem jüngeren zu und stöhnte. Das Silbertablett, das mit Schwarztee gefüllten Gläsern beladen war, kippte seitlich. Den langen Weg durch den Schauraum hatte der Kellner unbeschadet gemeistert, und jetzt dieses Malheur! Die braune Lure auf dem Tablett drohte, auf Walli Winzers Blazer zu tröpfeln. Im letzten Moment konnte der erfahrenere Mann das Schlimmste verhindern.

»Puh, das war jetzt knapp.« Walli Winzer war rechtzeitig in Deckung gegangen und geschickt ausgewichen. Dabei war sie vom Stuhl aufgesprungen und hatte sich ungewollt einem der Umstehenden angenähert. Sie lächelte entschuldigend, was dieser mit besonderer Höflichkeit erwiderte. Er verneigte sich mit sanft abwehrender Geste vor ihr, die wohl Gleiches verdeutlichen sollte.

»Ömer, du musst schauen, wo du hinsteigst!«, rief ihm dessen Vorgesetzter wenig freundlich zu, dann wandte er sich an Walli: »Entschuldigen Sie. Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert?« Er musterte Wallis Blazer.

Walli merkte, dass er stoppte, um ihr nicht zu nahe zu treten, und dass er seine Augen von ihr abwandte. Er winkte eine junge Kollegin herbei, die in der Nähe einer Besuchergruppe stand. Sie sollte seinen Gast auf der Suche nach vermeintlichen Teespritzern auf der Kleidung unterstützen.

Walli neigte sich ein wenig und musterte ihren Blazer, konnte aber nichts erkennen. »Lassen Sie’s. Es passt schon«, entgegnete sie in Richtung der jungen Frau. Diese ließ sich nicht aufhalten und ging um Walli Winzer herum, die jetzt in der Mitte des Verkaufslokals stand. Es war geräumig und voller handgeknüpfter Teppiche. Einige lagen gestapelt im Seitenbereich. An den Wänden hingen in Muster und Farbe aufeinander abgestimmte Kostbarkeiten.

»Da, sehen Sie! Sie haben doch etwas Tee auf der Hose. Seitlich vom Bug. Schauen Sie mal.«

Walli Winzer winkelte ihr Bein ab und stand plötzlich mehr oder weniger nach Balance suchend da. Sie bot eine unfreiwillig komische Pose. Sie wusste nicht, ob es das oder doch eher die Gesamtsituation war, die die Blicke der anderen auf sie zog. Die junge Frau kicherte, als sie Walli Winzer auf einem Bein hin und her hüpfen sah. Walli musste ebenfalls darüber lachen. Sie fuhr sich mit der Hand über den Fleck.

Eine ältere Frau kam auf sie zu und zischte: »Adile, draußen sind noch einige Häppchen hereinzuholen.« Sie machte eine beschleunigende Geste in Richtung der Nebenräume.

Die junge Frau tat, wie ihr geheißen. Ihrem heiteren Gesichtsausdruck tat dies dennoch keinen Abbruch.

»Natürlich ersetzen wir Ihnen die Reinigung. Wir haben eine Putzerei, die das für Sie erledigen wird. Adile Gül wird morgen bei Ihnen vorbeikommen und das Ensemble abholen.«

»Nicht der Rede wert.«

»Doch. Es ist uns sehr peinlich. Aber Ömer ist erst seit vergangener Woche als Praktikant bei uns.«

Walli Winzer lachte: »Da hat er aber tatsächlich noch einiges zu lernen. Vor so vielen Leuten quer durch den Saal zu laufen, ist sicher nicht leicht. Angestarrt zu werden und nicht nervös zu werden, das muss man erst lernen. Beim nächsten Mal kann er es schon.«

Walli wunderte sich über ihre Nachsicht. Vor zwei Jahren, also vor ihrem Waldviertel-Trip, wäre sie in so einer Situation vor Zorn explodiert. Aber jetzt? Keep cool. Alles war ersetzbar.

Sogar ein Hosenanzug von Valentino. Sündhaft teuer zwar, aber ersetzbar.

Repräsentieren war diesmal nicht so wichtig. Denn das Geschäft zwischen Manfred Tuchner und Halim-Istanbul war bereits abgeschlossen. Er hatte bloß darauf bestanden, dass auch Walli sich die Teppiche der Kollektion ansehen sollte.

Die Männer des Teppichgeschäfts Halim-Istanbul hatten sich inzwischen einander zugewandt und besprachen letzte Details zur Vorführung der Stardesignerin Lale Eser. Sie war ein neuer Stern am Firmament des internationalen Kunstmarktes, lebte im Westen, bezog aber ihre Impulse weiterhin stark aus der türkischen-orientalischen Ornamentik. Wiens prominentester Teppichhandel mit exklusiven Kontakten zu ausgewählten anatolischen Teppichwerkstätten hatte von Bachwirken und der Designerin genaue Anweisung erhalten, geeignete Objekte passend zur Stoff- und Tapetenkollektion zu finden.

Junge Männer brachten unter hektischer Anweisung edle Stücke unterschiedlicher Größe in den Schauraum. Einige davon waren offenbar so schwer, dass nur mehrere zugleich die großen Rollen hereintragen konnten.

Beim größten und schwersten Teppich mussten zwei Männer ran. Nachdem sie ihn griffbereit platziert hatten, wurden noch einige oberhalb positioniert. Ein junger Mitarbeiter zog ruckartig an einem der unteren, worauf sich ein höher liegender löste, herabfiel und entrollte.

Der Verantwortliche, Bülent Yüksel, schnaubte vor Wut über die Ungeschicklichkeit, weshalb er kurzerhand auf seinen Mitarbeiter zuging und ihm vor allen einen Klaps auf den Hinterkopf verabreichte. Erschrocken mehr der Schmach als des Schlags wegen zog der Beschämte seinen Kopf ein und machte sich gleich daran, den Schaden zu beheben. Einige Kollegen halfen ihm dabei.

»Ja, bei uns geht’s manchmal ohne viele Worte.« Adile Gül lächelte verlegen. Sie hatte Walli Winzers verwunderten Blick gesehen. »Chef der Mannschaft ist Bülent, ein Verwandter von mir. Manchmal wird er sehr zornig, er meint es aber nicht so.«

»Aha«, sagte Walli überrascht. »Na ja, ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich so etwas nicht selbst kenne. Die g’sunde Watschn, wie man eine Ohrfeige nennt, war bis vor Kurzem in Österreich gang und gäbe. Jetzt sieht man’s zumindest halt in der Öffentlichkeit weniger.« Walli drehte sich von der Szene weg.

Adile gab sich erstaunt: »Mag sein. In meiner Genossenschaftswohnung in Donaustadt schreit oberhalb von mir manchmal ein Zehnjähriger furchtbar laut. Die Mutter schlägt ihn regelmäßig. Alle hören das. Sie sperrt ihn in seinem Zimmer ein. Dort jammert er oft stundenlang. Sie tut nach außen immer sehr freundlich. Niemand macht etwas dagegen.«

»Und Sie?«

»Ich? Denken Sie, dass mir beim Jugendamt jemand glaubt? Als junger Türkin? Gegen eine Österreicherin? Eine Lehrerin noch dazu? Damit ich im Haus alle gegen mich aufbringe?«

Die junge Frau wandte sich ebenfalls ab. »Ich habe Ihnen ein feuchtes Tuch mit ein bisschen Fleckenreiniger darauf geholt. Damit trocknet der Tee nicht zur Gänze ein.«

Walli nahm Adile Gül das Schwammtuch aus der Hand. Tatsächlich hellten die Flecken bereits nach Kurzem auf.

Inzwischen kam auch der Geschäftsführer, Eraydin Turan, aus einem der Nebenräume zielstrebig auf Walli Winzer zu. Von all dem, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte, hatte er nichts mitbekommen. Er stellte sich daher gleich neben sie und gab ihr Unterlagen, die er vor der Schau für sie vorbereitet hatte.

»Ah, ich sehe, die Teppiche sind schon griffbereit gestapelt.«

Die Belegschaft hatte sich ebenso versammelt und blickte erwartungsvoll zu Turan.

»Ich fasse für Sie kurz zusammen, was einen türkischen Teppich, in unserem Fall einen anatolischen, ausmacht: Dass die türkische Knüpfkunst sehr alt ist, wissen Sie. Sie geht bis ins zwölfte Jahrhundert zurück. Und ihre Einflüsse sind global. Über die Jahrtausende hinweg! Die Muster wären nicht so charakteristisch, wenn es keinen regelmäßigen Austausch mit anderen textilknüpfenden Nationen gegeben hätte. Das sind nicht nur Persien, Indien, Armenien, China, sondern auch Pakistan, Syrien, Griechenland und die Kurden. Sprich: jedes Land, das in der Welt des Teppichs je Bedeutung erlangt hat. Wir werden das gleich sehen. Eine Erlebniswelt vom Feinsten. Eine Reise durch die Jahrtausende.«

Walli Winzer hielt alle Ausdrucke in ihren Händen, war aber nicht interessiert, darin zu blättern, weil sie den Ausführungen Turans lauschen wollte. Sie überlegte bereits, wie sie ihn im Pressegespräch einsetzen könnte. Eine kleine exotische Note wäre in der globalen Kollektionsausrichtung sicher willkommen. Und wer, wenn nicht er, wäre dazu besonders geeignet?

Eraydin Turan erzählte weiter von der turkmenischen und der kaukasischen Tradition. Von der höfischen, feineren Webkunst in Istanbul sowie den hochwertigen Gebrauchsteppichen Anatoliens, Richtung Osten der Türkei.

»Und die Leute lebten tatsächlich für und mit ihren Teppichen?«, fragte Walli zwischendurch erstaunt.

»Ja, der Teppich ist heute noch in unserer Kultur ein wichtiger Bestandteil der Wohnung. Seine Muster erzählen Geschichten. Tiere und Menschen werden selten abgebildet. So wie Bilder an Wänden kaum üblich sind.«

Turan gab Bülent Yüksel den erwarteten Wink. Daraufhin zogen zwei junge Männer einen der Teppiche vom Stoß und rollten ihn nach kurzem Anheben und einem kräftigen Ruck in der Mitte des Schauraums aus.

»Sehen Sie: Türkische Teppiche können unterschiedlich aussehen. Dieser hier wird den höfischen Teppichen zugeordnet und ist in seiner floralen Ornamentik stärker an Persien orientiert. Allein aufgrund der Größe der Türkei gab und gibt es bis heute große regionale Unterschiede, die sich auch in der Webkunst wiederfinden: der Teppich als Ausdruck künstlerischer Eingebung und kultureller Vielfalt.«

Eraydin Turan winkte nach dem nächsten Teppich. Wie zuvor wussten seine Angestellten genau, welche der riesigen Kostbarkeiten sie zu wählen hatten.

Der Experte fuhr fort: »Nomaden hingegen konnten aufgrund ihrer mobilen Verhältnisse keine großen Webstühle aufbauen. Sie spezialisierten sich daher auf kleinere Fertigungen. Charakteristisch sind geometrische Muster, die sich konzentrisch zu verkleinernden Rautenformen verdichten.«

Walli Winzer staunte nicht schlecht.

Turan fuhr fort: »Die Istanbuler Stardesignerin Lale Eser interessiert aber mehr das 21. Jahrhundert, in dem sie die Weiterentwicklung und Gegenüberstellung geometrischer Muster aus dem Narrativ des anatolischen Formenkanons heraus verortet, den sie in ihren neuen Mustern der Pluralität des digitalen Binärcodes im Kontext des stilistischen Formenkanons des Jugendstils künstlerisch gegenüberstellt. Ihre neue Stoff- und Tapetenkollektion für Bachwirken befindet sich in Ihrer Mappe.«

Uff! Das war Walli Winzer nun doch zu hoch. Gedanklich begann sie sich jetzt auszuklinken. Was war denn ein Formenkanon? Sie kannte Kanon nur von der Musikstunde. Das war, was sie in der Schule mehrstimmig miteinander gesungen hatten. Ja, das hatte ihr immer gut gefallen. Aber ein Kanon mit Teppichen? Was sollte das sein?

Sie versuchte dennoch weiterhin gute Miene zur Ausführung zu machen. Auch wenn diese sie langsam zu ermüden begann. Zugegeben, der Totaleinsatz und die Begeisterungsfähigkeit dieses gut aussehenden morgenländischen Prinzen gefielen ihr. Also versuchte Walli Winzer bei der Sache zu bleiben.

»Und jetzt zeigen wir Ihnen noch unseren größten und kostbarsten Teppich aus Ostanatolien. Jahrelang arbeiteten viele Menschen an ihm. Er war für einen mächtigen Sultan bestimmt, der sein Reich einen wollte, und überlebte viele Jahrhunderte. Weshalb und wie er nahezu unbeschädigt so lange Zeit überstehen konnte, ist eines der Geheimnisse, die ihn bis zum heutigen Tag umgeben. Auch die Symbolik der Muster gibt Experten seit jeher Rätsel auf. Sein Mythos ist noch nicht erforscht.«

Walli Winzer war bewegt, als sie das hörte. Ein Mythos barg Faszinierendes. Etwas, das man Presse und dem Publikum gut weitervermitteln konnte. Das für Aufsehen sorgen würde – neben der Künstlerin natürlich.

Diesmal stellte sich eine ganze Riege von Männern in Position, um den Teppich in die richtige Position zu bringen. Dann reihten sie sich im Abstand von einem Meter nebeneinander auf. Der mittlere machte ein Zeichen, worauf alle den Teppich mit einem kräftigen Ruck nach vorne schüttelten. Schwungvoll rollte er auf der weiten Fläche des Schaubodens aus, aber das tat er anders als seine Artverwandten zuvor. Als er sich bis kurz vor Walli komplett entrollt hatte, war da noch etwas anderes, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich lenkte.

Das Teppichmuster anzusehen, interessierte augenblicklich niemanden mehr. Der Schrei einer jungen Frau durchfuhr den Raum. Es war Adile Gül. Schockstarre erfasste sie.

Vor ihr lag ein Mann. Nicht nur Walli Winzer erkannte ihn. Alle hier taten das.

Es war Manfred Tuchner.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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273 стр. 6 иллюстраций
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9783839268100
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