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3.1.3 Bedeutsame Weiterentwicklungen

Seit den 1990er-Jahren haben sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die Kognitionsforschung dazu beigetragen, das frühpädagogische Wissen weiter zu differenzieren. Nachfolgend werden einige Bereiche diskutiert, welche für die frühpädagogische Bildungsförderung besonders relevant sind. Es sind dies Diskurse zum kompetenten Säugling, die Unterscheidung privilegierter und nicht privilegierter Wissensdomänen sowie die Theory of Mind.

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Der kompetente Säugling

Im vorhergehenden Kapitel wurde erläutert, dass Piaget die ersten beiden Lebensjahre des Kindes als «sensumotorisch», als nicht symbolisch, sondern vollkommen handlungsgebunden und als lediglich mit Reflexen und sensorischen Fähigkeiten ausgestattet, bezeichnet hat. Diese grundlegende Annahme ist heute überholt. Die Entwicklungspsychologie und die Säuglingsforschung gehen davon aus, dass wesentliche Grundelemente numerischen und psychologischen Wissens bereits in den ersten Lebensmonaten nachweisbar oder vielleicht gar angeboren sind (Pauen, 2006). Wenn dem so ist, dann bestehen die Grundlagen für lebenslanges Lernen schon sehr früh. Demzufolge müsste die Stufentheorie Piagets, nach der sich das logische Denken in Stufen und bereichsübergreifend vollzieht, relativiert werden.

Die moderne Forschung enthüllt damit Erstaunliches und Verblüffendes: Das Bild des unbedarften, teilnahmslosen, vor sich hin dämmernden, gefühlslosen und undifferenzierten Säuglings scheint nicht der Realität zu entsprechen. Auf der Basis von Direkt- und Videobeobachtungen und von faszinierenden Experimenten in der natürlichen Umgebung des Neugeborenen entstand die neue Vorstellung des «kompetenten Säuglings» (Dornes, 2001a; b). Mit kompetent ist gemeint, dass wir uns von Anfang an einem beziehungsfähigen, initiativen, differenzierten jungen Wesen gegenübersehen, das bereits mit verschiedensten Gefühlen ausgestattet ist und seine Entwicklung aktiv wählend mitgestaltet. Kompetent heißt natürlich nicht, dass dieses kleine Wesen nun alles selbst gestaltet und ein gleichberechtigter Partner ist, den man mehr oder weniger sich selbst überlassen kann.

Den Mittelpunkt dieser neuen Erkenntnisse bilden drei Paradigmen: das Präferenzparadigma, das Habituierungsparadigma und das Überraschungsparadigma. Sie stehen stellvertretend für Experimente, mit deren Hilfe man Fragen an die Säuglinge stellen und das beobachtete Verhalten als Antwort auf die gestellte Frage verstehen kann (Stern, E. 2002).

• Das «Präferenzparadigma» stellt die Frage, ob ein Säugling zwei Dinge unterscheiden kann und eines davon vorzieht. Im Experiment zeigt man ihm zwei verschiedene Gesichter nebeneinander und misst die Zeitdauer, während deren er sie fixiert. Blickt er eines länger an als das andere, signalisiert er, dass er unterscheidet und eines bevorzugt. Wenn ihm hintereinander, mit einer Pause dazwischen, zwei Reize gezeigt werden, kann festgestellt werden, dass er auch diese unterschiedlich lange fixiert, d. h. einen vorzieht.

• Das «Habituierungsparadigma» stellt die Frage, ob die Aufmerksamkeit auf einen Reiz nach einer gewissen Zeit erlahmt, respektive ob sich der Säugling

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daran gewöhnt. Im Experiment werden u. a. dazu die Schnuller der Säuglinge mit dem Abspielen eines Films gekoppelt. Dabei zeigt sich, dass nach einer bestimmten Zeit die Saugaktivität abnimmt. Wird hingegen ein neuer Film gezeigt, nimmt die Saugaktivität wieder zu. Wenn also ein neuer Reiz auftaucht, kehrt die Aufmerksamkeit wieder zurück.

• Das «Überraschungsparadigma» stellt die Frage, ob der Säugling Erwartungen hat und Abweichungen bemerkt. Im Experiment wird den Säuglingen hinter einer schalldichten Glasscheibe das Gesicht einer Frau gezeigt, die spricht. Der Ton der Stimme wird so eingespielt, dass er nicht aus dem Mund, sondern von der Seite kommt. Bereits im ersten Monat reagieren die Säuglinge erstaunt, was bedeutet, dass sie eine Erwartung hatten. Das Erstaunen wird am veränderten Gesichtsausdruck, an Unruhe und einer Pulsfrequenzänderung abgelesen. Dies bedeutet außerdem, dass die Wahrnehmung eines Unterschieds psychische Bedeutung haben kann. Sie drückt sich durch erhöhte Erregung aus. Wenn Mütter angewiesen werden, ihr natürliches Interaktionsverhalten zu ändern und ohne Veränderung ihrer Gesichtsmimik auf die Annäherungsgesten ihres Kindes zu reagieren, so stellt man schon bei drei Monate alten Säuglingen darüber Erstaunen fest. Sie bemerken also, dass sich die Mutter nicht benimmt wie gewohnt, und sie unternehmen nachdrückliche, von starken motorischen Äußerungen begleitete Versuche, die Mutter umzustimmen.

Diese Forschungsresultate machen deutlich, wie sehr die neue Säuglingsforschung die alten Vorstellungen über die Neugeborenen- und Säuglingszeit revolutioniert hat. Sie bestätigen aber auch wissenschaftlich, was viele Mütter und andere Betreuungspersonen von Neugeborenen und Kleinstkindern schon immer wussten: Durch die Geburt kommt ein Menschenwesen auf die Erde, das von Beginn an in sehr differenzierter Weise am Leben teilhat. Als beziehungsfähiges und aktives Individuum steht es von Anfang an mit seinen Eltern und seiner Umgebung in Beziehung. Der Austausch und die Beeinflussung erfolgen gegenseitig.

Privilegierte und nicht privilegierte Wissensdomänen

Mit der Beschreibung des «kompetenten Säuglings» hat die Säuglingsforschung dazu beigetragen, das Bild der hilflosen Frühgeburt zu revidieren. Mit diesem Sichtwechsel wurde die erneute intensive Erforschung des Lernens von jungen Kindern möglich. Eine bedeutende Relevanz hat dabei die Unterscheidung privilegierter von nicht privilegierten Wissensdomänen (Stern, 2004). |46◄ ►47|

• Der Erwerb von privilegiertem Wissen geschieht intuitiv, «aus sich heraus», ohne besondere Anstrengung oder Unterweisung. Die Tatsache, dass Menschen – ähnlich wie Tiere – mit Instinkten ausgestattet sind, die ihnen das Lernen erleichtern, ist jedoch lange Zeit vernachlässigt worden. Erst in jüngerer Zeit stellte man fest, dass Kinder von Geburt an eine Lernbereitschaft mitbringen und sie somit in sehr vielen Bereichen gut vorbereitet sind. So braucht das Neugeborene für die komplizierte Motorik des Saugens kein Lernprogramm, sondern nur bestimmte «start up»-Mechanismen. Den aufrechten Gang erwerben junge Kinder ohne Anleitung oder bewusste Strategie. Solche Lernvorgänge sind biologisch programmiert und stehen allen Menschen aller Kulturen von Anfang an zur Verfügung.

• Nicht privilegiertes Wissen ist uns nicht in die Wiege gelegt. Dessen Erwerb erfordert den Einsatz von Lernstrategien, von bewusster Zielsetzung und Anstrengung. Nicht privilegiertes Lernen wird intentional, motiviert und systematisch erworben. Weil es stark von der Qualität der jeweiligen familiären, sozialen, pädagogischen und kulturellen Umgebung und der dort handelnden Personen beeinflusst wird, ist es störanfällig. Der Kontext, in dem wir aufwachsen, kann uns den Zugang zu diesen Wissensdomänen öffnen, aber auch erschweren oder gar blockieren.

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Wissensdomänen ist von großer Tragweite. Weil sich herausgestellt hat, dass nicht privilegiertes Lernen zeitaufwendig ist und weil solche Wissensdomänen Kompetenzen umfassen, die in unserer Wissensgesellschaft bedeutsam sind – viele Kinder mit Minoritätshintergrund jedoch gerade nicht in genügendem Ausmaß über sie verfügen –, ist frühkindliche Bildungsförderung für sie besonders relevant. Zu den nicht privilegierten Wissensdomänen gehören die Schrift, das Zahlensystem und naturwissenschaftliche Phänomene, aber auch frühe Formen der Metakognition und Selbstregulation. Metakognition meint das eigene Wissen einer Person über die kognitiven Vorgänge und über lernrelevante Eigenschaften. Die Förderung der Entwicklung metakognitiver und affektiver Lerndimensionen kann die Kinder befähigen, schulbereite, lernwillige und fähige Lerner zu werden. Als frühe Form der Selbstregulation gilt die private Sprache (private speech). Beobachtet man junge Kinder bei alltäglichen Verrichtungen, dann entdeckt man, dass sie oft laut mit sich selbst sprechen. Piaget nannte dieses Phänomen egozentrische Sprache. Er begründete sie damit, dass ein junges Kind Schwierigkeiten hat, die Perspektive anderer einzunehmen und die egozentrische Sprache deshalb den Sinn eines Selbstgesprächs bekommt. Die kognitive Reifung und bestimmte Sozialerfahrungen mit Gleichaltrigen – so seine Annahme – würden diese egozentrische Sprache beenden.

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In seiner Publikation «Denken und Sprechen» entwarf Wygotski (1971) eine andere Sichtweise. Er ging davon aus, dass Kinder selbstangeleitet mit sich selbst sprechen und dass die private Sprache die kognitiven Aktivitäten lenkt und aufrechterhält. Deshalb erachtete er sie als Grundlage für alle höheren kognitiven Prozesse und nicht wie Piaget als Mangel an Reife und an Perspektivenübernahme. Fast alle Untersuchungen der letzten Jahre haben Wygotskis Sicht bestätigt. Sie verweisen darauf, dass Kinder diese private Sprache mit zunehmendem Alter dann benutzen, wenn sie schwierige Aufgaben zu lösen haben und nicht genau wissen, wie sie vorgehen sollen.

Theory of Mind

Die sogenannte Theory of Mind meint die Fähigkeit, sich Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzustellen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten. Dieses Konzept der Überzeugung ist ein Grundelement unserer naiven Alltagspsychologie. Kinder entwickeln es relativ spät, erst im Alter von drei bis vier Jahren, dann nämlich, wenn sich das Gedächtnis und Problemlösefähigkeiten weiter entfalten und sie beginnen, über ihr eigenes Denken nachzudenken. Konkret lernt das etwa drei- bis vierjährige Kind, sich zu überlegen, was andere Personen denken. Im Alter von fünf Jahren können Kinder Perspektivenübernahmen durchführen und auf den Wissensstand eines Zuhörers Rücksicht nehmen. Sie können zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden. Zwar sind Dreijährige schon dazu in der Lage. So verstehen sie zum Beispiel, dass man einen realen Hund, nicht aber einen imaginären Hund, streicheln kann. Sie lernen nun, dass man etwas denken kann, ohne dies zu sehen oder zu berühren. Sie denken aber noch, dass sich Menschen immer so verhalten, dass dies mit ihren Wünschen übereinstimmt. Sie sehen noch nicht, dass auch Annahmen ihre Handlungen beeinflussen können. Mit etwa vier Jahren merken sie, dass das Verhalten sowohl von Wünschen als auch von Annahmen bestimmt wird. Die Maxi-Geschichte von Wimmer und Perner (1983) belegt diesen markanten Entwicklungsfortschritt. Sie bildet das Instrument zur Erfassung des Verständnisses eines falschen Glaubens.

«Maxi und seine Mutter kommen vom Einkaufen nach Hause. Maxi hilft seiner Mutter, die Einkäufe auszupacken. Er legt die Schokolade in den grünen Schrank. Maxi merkt sich genau, wo er die Schokolade hingetan hat, damit er sich später welche holen kann. Dann geht er auf den Spielplatz. Während er weg ist, braucht seine Mutter etwas Schokolade zum Kuchenbacken. Sie nimmt die Schokolade aus dem grünen Schrank und tut ein wenig davon in den Kuchen. Dann legt sie sie zurück, aber nicht in den grünen, sondern in den blauen Schrank. Sie geht aus der Küche, um Eier zu holen. Dann kommt Maxi hungrig vom Spielplatz zurück.

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Testfrage: Wo wird Maxi die Schokolade suchen? (Die Geschichte wird mit Puppen und einer Puppenhausküche ausagiert. In der Küche gibt es nur zwei Schränke, einen grünen und einen blauen.)

Ergebnisse: Nahezu alle dreijährigen Kinder antworten auf die Testfrage: ‹Im blauen Schrank› (wo die Schokolade tatsächlich ist), während 40 bis 80% (je nach experimenteller Bedingung) der Vier- bis Fünfjährigen korrekt ‹im grünen Schrank› antworten.»

Kinder lernen somit zwischen drei und fünf Jahren, die Überzeugungen einer Person mit einzubeziehen. Davor verstehen sie nicht, dass subjektive Überzeugungen von der Realität abweichen können. Deshalb berücksichtigen sie diese nicht bei ihrer Handlungsvorhersage.

3.1.4 Hirnforschung und FBBE

Eine Maxime der Hirnforschung lautet: Die intensive Förderung und Anregung bereits ab der frühesten Kindheit schafft ein differenzierteres neuronales Netzwerk. Ein solches Netzwerk ist grundlegend für das soziale, emotionale und kognitive Lernen. Im Mittelpunkt stehen mittlerweile vor allem die Befunde, wonach nicht nur Lernprozesse, sondern auch das Entstehen emotionaler Bindungen mit Hirnfunktionen erklärt und analysiert werden können. Postuliert wird dabei, dass Prägungen der frühen Kindheit – erworben in schmalen Zeitfenstern – später kaum revidierbar seien und so Kompetenzen bereits früh festgelegt würden. Gerade im Zuge der Diskussion um frühkindliche Bildung drängen solche Erkenntnisse in die bildungspolitische Debatte, die noch vor 20 Jahren kaum jemand mit Bildung in den ersten Lebensjahren in Zusammenhang gebracht hätte.

Wie glaubwürdig sind solche Erkenntnisse? Welche konkreten Konsequenzen haben sie für den bisher klassisch pädagogisch geprägten Bildungsbegriff? Muss die Idee der (humanistischen) Erziehung zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden? Oder lassen sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemloser integrieren, als vorschnell angenommen wurde? Nachfolgend werden solche Fragen angeschnitten, indem zur Entwicklung des Gehirns, zu seiner Plastizität grundlegende Informationen zusammengestellt werden und dabei auch die aktuell besonders brisanten Fragen nach den frühen Bindungserfahrungen, der angemessenen Stimulierung und den Zeitfenstern angeschnitten werden.

Gehirnentwicklung: Heute wissen wir, dass das Gehirn enormen Veränderungen ausgesetzt ist und sich dieses im Säuglings- und Kleinkindalter in ganz erstaunlicher Geschwindigkeit, schneller als alle anderen Körperorgane, entwickelt. Haben Nervenzellen|49◄ ►50| erst einmal den für sie vorgesehenen Platz eingenommen, dann bilden sie eine hohe Anzahl an Synapsen oder Verbindungen. Während der Hauptwachstumsperiode in den Hirnregionen sterben viele Nervenzellen ab, um Raum für neue synaptische Verbindungen zu schaffen. Die Stimulierung legt dabei fest, welche Nervenzellen überleben werden und fortfahren, neue Synapsen zu bilden. Mit zwei Jahren hat ein Kleinkind etwa so viele Synapsen wie Erwachsene und mit drei Jahren doppelt so viele. Bis zum Alter von zehn Jahren bleiben sie konstant, dann wird bis zirka 15 Jahre die Hälfte abgebaut. Von da an bleiben sie bei einer Anzahl von etwa 100 Billionen stabil. Die doppelt so hohe Zahl von Synapsen mit drei Jahren erklärt, wieso das Gehirn eines Dreijährigen mehr als doppelt so aktiv ist wie das eines Erwachsenen.

Plastizität: Hinlänglich bekannt ist, dass der zerebrale Kortex (Großhirnrinde) in zwei mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattete Hemisphären unterteilt ist («Lateralisierung»). Jede empfängt sensorische Informationen nur von einer bestimmten Seite des Körpers und steuert auch nur diese. Es ist dies die Seite der gegenüberliegenden Hemisphäre. Überwiegend ist die linke Hemisphäre der Sitz verbaler Aktivitäten und positiver Emotionen, während dies für die räumliche Fähigkeiten und negative Emotionen die rechte ist. Die linke Hemisphäre verarbeitet Informationen besser auf eine analytische und sequenzielle Art, während die rechte Hemisphäre Informationen ganzheitlich verarbeitet. Junge Kinder haben eine sehr große Hirnplastizität. Neville und Bruer (2001) haben herausgefunden, dass frühe Kindheitserfahrungen die Struktur des Gehirns beeinflussen und eine Spezialisierung bestimmter Areale bewirken können. In ihrer Entwicklung weit fortgeschrittene Kinder im Krabbelalter weisen eine stärker spezialisierte linke Hemisphäre auf als gleichaltrige nicht akzelerierte Kinder. Die Autoren schließen daraus, dass Spracherwerb die Lateralisierung fördert. Zur Organisation des Gehirns tragen sowohl Vererbung wie auch frühe Erfahrungen bei.

Frühe Bindungserfahrungen und angemessene Stimulierung: Frühe Bindungserfahrungen wirken sich auf die kindliche Gehirnentwicklung aus. Damit sich neuronale Netzwerke verdichten und daraus bleibende Strukturveränderungen entstehen, ist eine gleichzeitige Stimulation bestimmter Gehirnareale wichtig. Becker-Stoll (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung feinfühliger Interaktion der Bezugsperson mit dem Kleinkind. Sie beeinflusst die frühkindlichen emotionalen Erfahrungen und diese die funktionelle Gehirnentwicklung, welche zur Entstehung neuer Schaltkreise – wie der sensorischen, motorischen und limbischen (der Verarbeitung von Emotionen dienend) – im Gehirn führen. Unzulängliche Stimulierung von Säuglingen und Kleinkindern – gemeint sind damit die fehlenden und vielfältigen Erfahrungen eines liebevollen Umfelds – führen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen. Daraus lässt sich schließen, dass die Qualität des emotionalen Umfelds und |50◄ ►51| der Grad der frühkindlichen Förderung die späteren sozioemotionalen und intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes beeinflussen. Es sind aber nicht nur Verarmung oder Deprivation, welche sich negativ auf seinen Entwicklungsgang auswirken. Es sind auch die vielen frühen Lernangebote, welche jungen Kindern und ihren Eltern, häufig in fraglicher, d.h. nicht entwicklungsangemessener Art, angeboten werden. Obwohl die meisten dieser Angebote auf eine «optimale frühe Förderung» zielen, damit die «Zeitfenster der Entwicklung» ausgenutzt werden sollten, wirkt sich eine Stimulation, für die das Kind noch nicht bereit ist, eher so aus, dass es sich zurückzieht und auf diese Weise sein Interesse am Lernen verliert.

Zeitfenster der Entwicklung: In Phasen enormer Entwicklung ist die Stimulierung des Gehirns entscheidend. Ein Argument, das vor allem von bildungs- und gesellschaftspolitischer Seite her immer wieder verwendet wird, um für die frühkindliche Bildung zu plädieren, fokussiert auf die kritischen Zeitfenster, in denen das junge Kind maximal beeinflussbar sei. Bleibe zu dieser Zeit die Stimulation aus, so komme es zu nicht optimalen und kaum mehr kompensierbaren Entwicklungsverzögerungen. Zwar gilt es heute als unumstritten, dass bestimmte sensorische Erfahrungen früh in der Entwicklung gemacht werden müssen, damit sich das Gehirn optimal ausbilden kann. Solche Aussagen basieren jedoch nur auf normaler Stimulation. Deshalb lässt sich daraus nicht schließen, es seien besondere Anstrengungen oder Stimulationsprogramme nötig, damit die Gehirnentwicklung unterstützt werden könnte. Verschiedene Studien kommen vielmehr zum Schluss, dass Überstimulation durch besondere Trainingsprogramme beim Kleinkind negative Auswirkungen haben kann und dass die Befunde der Hirnforschung nicht die spezifische Fokussierung der frühkindlichen Bildung im Sinne expliziter Stimulierung legitimieren (Stern, 2008). Als gesichert gilt jedoch die Bedeutung sensibler Perioden für den Spracherwerb.

Fazit

Die Entwicklungspsychologie und die Hirnforschung haben nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als man früher annahm, und dass die Lernfähigkeiten von Säuglingen beeindruckend sind. Daraus folgt, dass die Annahme, Wissen könne erst auf genug weit entwickelten Strukturen aufgebaut werden, relativiert werden muss. Die Befunde liefern darüber hinaus auch Hinweise auf Altersbereiche, in denen Kinder besonders von Lernangeboten profitieren können. Die Bedeutung der Zeitfenster ist jedoch eher auf den Erwerb sensorischer Fähigkeiten und den Spracherwerb eingeschränkt und gilt kaum für kulturell vermittelte Wissensbestände.

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Im Hinblick auf die aufgeworfene Frage, ob der traditionelle Bildungsbegriff zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden müsse oder ob sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemlos integrieren lassen, lässt sich folgende Bilanz ziehen (vgl. dazu auch Viehhauser, 2010): Die Neurowissenschaften zeigen die biologischen Aspekte von Lernprozessen, Gedächtnisfunktionen und dem Verhalten und auch die Verluste und Gewinne auf, wenn Nervenzellen verkümmern und wenn sich Hirnstrukturen durch qualitativ gehaltvolle Anregungen festigen. Was jedoch wünschenswerte Lernprozesse oder die Qualität von Anregungen auszeichnet und wie hochwertige Anregungen zu vermitteln sind, bleibt allein der Pädagogik der frühen Kindheit reserviert. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse können dazu nur sehr wenig direkte Aussagen machen. Ziel von frühpädagogischen Bestrebungen muss die Heranbildung des jungen Kindes zur Person im gesellschaftlichen Kontext bleiben. Es geht demnach weder darum, dass sich die Frühpädagogik zu einer «Pädagogik des Gehirns» entwickelt, noch um eine bloße Zurückweisung biologischer Erkenntnisse. Ziel ist die kritische Übersetzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Pädagogik der frühen Kindheit. Basis bilden die folgenden neurowissenschaftlich fundierten Thesen:

• Das Lernen der Kinder wird unterstützt durch die Förderung von Bewegung, Wahrnehmen, Kommunikation sowie durch Interesse und Rückmeldung anderer.

• Lernen ist für Kinder dann nachhaltig, wenn es für sie bedeutungsvoll und lebensnah, d. h. auf ihre Erfahrungen, Wünsche oder Alltagsprobleme bezogen, ist.

• Kinder lernen unterschiedlich, in unterschiedlichem Tempo, in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (z.B. allein oder in der Gruppe). Sie brauchen die Rücksichtnahme auf ihre Lernstile und Lerntypen.

3.2 Soziale und emotionale Entwicklung

Die frühe Kindheit ist nicht nur eine Zeit unerhörten kognitiven, sondern auch sozialen und emotionalen Wachstums. Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (1973) hat die bedeutsamsten Erkenntnisse für die Thematik frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsprozesse geliefert. Dabei hat er wesentliche Teile der psychoanalytischen Theorie Freuds verfeinert, spätere Lebensabschnitte einbezogen und sein Konzept der Entwicklungsaufgaben ausdifferenziert. Eriksons Theorie zufolge findet |52◄ ►53| Entwicklung ein Leben lang statt, von der Geburt bis ins hohe Alter. Den Lebenslauf untergliedert Erikson in acht Stufen. Auf jeder dieser Stufen hat der Mensch spezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Gelingt dies nicht, resultieren daraus möglicherweise bleibende Entwicklungsstörungen. Die für die frühe Kindheit relevanten Stufen sind:

• Vertrauen versus Misstrauen (erstes Lebensjahr),

• Autonomie versus Scham/Zweifel (zweites bis drittes Lebensjahr),

• Initiative versus Schuldgefühl (viertes bis sechstes Lebensjahr).

Im ersten Lebensjahr geht es um den Aufbau des Urvertrauens. Damit der zentrale psychische Konflikt des Urvertrauens versus Urmisstrauens positiv aufgelöst werden kann, ist eine warmherzige und einfühlsame Fürsorge zentral. Im zweiten und dritten Lebensjahr geht es um das Erlernen von Selbstkontrolle. Hier gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem eigenen Willen, der sich als Trotz und Protest manifestieren kann, und der Befolgung der elterlichen Gebote. In der dritten Phase, zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr, steht der Aufbau des Vertrauens in die eigene Initiative und Kreativität im Mittelpunkt. Das Vorschulkind lernt, sich an Vorbildern zu orientieren (Eltern, Erziehenden, Geschwistern, Peers) und sich mit ihnen zu vergleichen. Eine Aufgabe dieser Phase ist es auch, mit Schuldgefühlen und Angst vor Strafe umgehen zu lernen. Eine gesunde Eigeninitiative kann das Kind dann entwickeln, wenn es die Welt durch Spielen explorieren kann und in allgemein gute Beziehungen eingebettet ist.

Zahlreiche neuere und neue Studien bestätigen Eriksons Theorie insofern, als sie empirische Belege dafür liefern, dass mit unzureichendem Vertrauen und mangelnder Autonomie ausgestattete Kinder später erhöhte Anpassungsprobleme haben. Die drei zentralen Größen Freude, Wut und Furcht gehören heute zu den am häufigsten untersuchten Themenbereichen der frühkindlichen Forschung (Berk, 2005). So wissen wir, dass sich im Verlauf des ersten Lebensjahres diese Grundemotionen zu klaren, gut organisierten Signalen entwickeln. Das soziale Lächeln erscheint zwischen der sechsten und zehnten Lebenswoche, das Lachen zwischen dem dritten und vierten Lebensmonat. Die Freude unterstützt nicht nur die Bindungsstrukturen zwischen Eltern und Kind, sondern auch die kognitiven und physischen Lernprozesse. Ärger und Furcht – als «Fremden» oder «Fremdenangst» gekennzeichnet – nehmen in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zu. Diese Fremdenangst gilt als Schutz des Kindes vor fremden Personen, welchen es aufgrund der enorm gewachsenen motorischen Fähigkeiten ausgeliefert sein kann.

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Nachfolgend werden die wichtigsten Bausteine der sozial-emotionalen Entwicklung dargestellt. Es sind dies die Temperamentsentwicklung des jungen Kindes, die Bindungsentwicklung, das Selbstkonzept und die Aggressionsentwicklung.

3.2.1 Temperamentsstrukturen und emotionale Entwicklung

Ist von Persönlichkeitsunterschieden zwischen Kindern die Rede, dann sind häufig Merkmale gemeint, die sich mit dem Begriff «Temperament» in Verbindung bringen lassen. Angeborene Temperamentsfaktoren bestimmen in einem gewissen Umfang mit, in welche Richtung sich Kinder in ihren ersten Lebensjahren entwickeln und welche Persönlichkeitseigenschaften sie dabei ausbilden. Heute unterscheidet man vier Dimensionen von Temperament:

• Bereitschaft zur positiven Annäherung: reflexartige Hinwendung zu neuen, nicht vertrauten Reizkonstellationen.

• Bereitschaft, auf negative Affekte und Irritationen zu reagieren: Man unterscheidet Kleinkinder mit langen und solche mit kurzen Habituationszeiten (Gewöhnungszeiten).

• Kontrollbereitschaft: Gemeint ist damit, Erregungsniveaus so zu regulieren, dass sie eine mittlere Bandbreite weder über- noch unterschreiten. Solche Fähigkeiten werden dann allmählich zur Selbstkontrolle ausgebaut.

• Soziale Orientierung: Bereitschaft und spätere Fähigkeit, auf Menschen freundlich und gegebenenfalls mit Hilfe zu reagieren.

Säuglinge unterscheiden sich in ihren Temperamentsstrukturen, insbesondere in der Qualität und Intensität ihrer Emotionen, ihrem Aktivitätsniveau, ihrer Aufmerksamkeit und ihrer emotionalen Selbstregulation. Thomas und Chess (1977) teilten aufgrund ihrer Beobachtungsstudien Kinder im ersten Lebensjahr drei unterschiedlichen Temperamentskategorien zu: das einfache Kind, das schwierige Kind und das gehemmte Kind. 35% der Kinder ließen sich jedoch nicht eindeutig zuordnen. Das einfache, «pflegeleichte» Kind (40%) entwickelt rasch regelmäßige Routinen und ist zumeist fröhlich. Die Anpassung an neue Situationen fällt ihm leicht. Das «schwierige» Kind (10%) lässt Unregelmäßigkeiten in seiner täglichen Routine erkennen, akzeptiert neue Erfahrungen nur langsam und neigt dazu, negativ mit übermäßiger Intensität zu reagieren. Das «gehemmte» Kind, das nur langsam aktiv wird (15%), zeigt wenig Aktivität, lässt undeutliche, wenig intensive Reaktionen auf Umweltstimuli erkennen, seine emotionale Disposition ist eher negativ und die Anpassung an neue Situationen langsam.

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Was jedoch beeinflusst Temperament? Zum einen sind es genetische Einflüsse inklusive ethnischer und geschlechtsbedingter Unterschiede, zum anderen umweltbedingte (Familie, Erziehungsstil, familienexterne Betreuung) sowie kulturbedingte Unterschiede. Temperament und Umweltbedingungen sind immer verschränkt in ihrem Einfluss auf die zukünftige kindliche Entwicklung. Da sich jedoch das Temperament mit zunehmendem Alter verändert, muss angenommen werden, dass Umweltbedingungen nicht per se das schon vorhandene Temperament erhalten oder sogar intensivieren. Das Modell der guten Passung (goodness-of-fit-model) von Thomas und Chess (ebd.) verdeutlicht, wie Temperament und Umwelt in ihrer Interaktion zu günstigen Ergebnissen führen können. Eine gute Passung umfasst eine adäquate sozial-emotionale Umgebung, die sowohl auf das Temperament des Kindes ausgerichtet ist als auch die adaptiven Funktionen betont. Damit ist gemeint, dass ein gutes Passungsmodell sanft und nachdrücklich auf fehlangepasstes Verhalten einwirkt. Schwierige oder schüchterne Kinder, welche zunehmend ein adaptives Funktionsniveau erreichen, haben häufig Eltern, die eine Erziehung praktizieren, welche die optimale Passung in den Mittelpunkt stellt.

Temperament und elterliches Rollenmodell respektive der Erziehungsstil wirken sich auch auf die Fähigkeit des Vorschulkindes aus, mit negativen Emotionen umzugehen. Parallel mit der Entwicklung des Selbstkonzepts beginnt das Kind auch häufiger, selbstbezogene Emotionen wahrzunehmen. Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle, denn die von ihnen ausgehenden Botschaften beeinflussen sowohl die Situationen, in denen Emotionalitäten auftauchen, als auch deren Intensität. Auch Empathie tritt nun vermehrt auf. Das kindliche Temperament und der elterliche Erziehungsstil beeinflussen das Ausmaß, in welchem prosoziales oder altruistisches (selbstloses, aufopferndes) Verhalten gezeigt wird.

3.2.2 Bindungsentwicklung

Um das erste Lebensjahr herum gewinnen Reaktionen auf Trennungen von der Hauptbezugsperson und deren Verarbeitung besondere Bedeutung. Initiiert durch die Arbeiten von John Bowlby (1909 – 1990) und Mary Ainsworth (1913 – 1999), hat dieses Bindungsverhalten in der Forschung große Beachtung gefunden. Es erlaubt die Einteilung in Bindungsklassen und die Beurteilung von Bindungsqualität. Das kindliche Bindungsverhalten ist auch für die außerfamiliäre Betreuung zentral.

Die am meisten akzeptierte Sichtweise der Bindungsentwicklung ist die ethologische Theorie (Bowlby, 1969). Sie basiert auf dem Verständnis, dass Säuglinge biologisch darauf vorbereitet sind, sich aktiv an eine Person zu binden, und dass die kindliche Reaktion bei der Bindungsperson ein Fürsorgeverhalten auslöst. Eine ganze |55◄ ►56| Reihe angeborener Verhaltensweisen macht die Anwesenheit der Bezugsperson in den ersten Monaten nötig. Ein Kind kann, jedoch erst wenn sich eine Personpermanenz entwickelt hat (was nach dem sechsten Lebensmonat der Fall ist), emotional ausdrücken, dass es seine Bezugsperson vermisst. Diese Art und Weise der emotionalen Reaktion liefert zugleich die Grundlagen für späteres Bindungsverhalten.

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