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c) Die Unterscheidung von Delikten zum Schutz von Volks-, Betriebs- und Finanzwirtschaft bei Lampe

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Einen anderen Systematisierungsversuch unternimmt Lampe[35]: Er definiert das Wirtschaftsstrafrecht als die Summe jener Normen, die Strafen, Maßnahmen oder Geldbußen für wirtschaftlich schädliche Verhaltensweisen androhen[36]. Die Suche nach überindividuellen Rechtsgütern habe dazu geführt, dass einerseits wirtschaftliche Verstöße gegen einzelne Betriebe aus dem Wirtschaftsstrafrecht ausgeschlossen würden, und zum Ausgleich hinter fast jeder Verletzung individueller Wirtschaftsinteressen eine (notfalls abstrakte) Gefährdung gesamtwirtschaftlicher Interessen erblickt würde. Es sei daher notwendig, das Wirtschaftsstrafrecht sinnvoll einzugrenzen und schadens- bzw. opferorientiert auf vier Bereiche zu beschränken[37]: Zum Wirtschaftsstrafrecht zählen danach alle Delikte mit Bezug auf die Finanzwirtschaft, Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und ihre einzelnen Zweige sowie alle Delikte mit Bezug auf die Allgemeinheit und die Verbraucher.

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Diese Systematisierung scheint gegenüber der zuvor dargestellten Aufteilung zunächst in der Tat einige Vorteile aufzuweisen: Das weite Feld der Rechtsgüter wird auf einige zentrale Fixpunkte beschränkt. In der Folge gewinnt das Wirtschaftsstrafrecht als eigenständige Rechtsmaterie an Übersichtlichkeit und scheint als spezielles Phänomen greifbarer zu werden. Zuletzt erlaubt es der im Grunde umfassende Ansatz bei den „wirtschaftlich schädlichen Verhaltensweisen“, auch die zentralen Tatbestände des Betrugs und der Untreue mit ihrer individualschützenden Funktion problemlos in das System des Wirtschaftsstrafrechts zu integrieren.

Mit der Begriffstrias Volks-, Betriebs- und Finanzwirtschaft nimmt Lampe eine Unterscheidung auf, die außerdem eine gewisse Entsprechung in den Wirtschaftswissenschaften findet[38]: Ein Strafrecht der Betriebswirtschaft bezieht sich auf das einzelne Unternehmen, genau wie die neoklassische Betriebswirtschaftslehre Gutenbergs eine Theorie der Unternehmung war[39]. Ein Strafrecht der Volkswirtschaft könnte sich auf diejenigen Straftaten beziehen, die die Ebene des einzelnen Unternehmens übersteigen. Die Strafnormen zum Schutz der staatlichen Finanzwirtschaft sollen die Funktionsfähigkeit des Finanzverkehrs sichern und könnten die wichtigsten Steuervergehen – also insbesondere die §§ 370 ff. der Abgabenordnung – in das Strafgesetzbuch integrieren. Damit würde die unglückliche Folge der bisherigen Gesetzgebung beseitigt, dass wesentliche Tatbestände zum Schutz der staatlichen Finanzausgaben in den §§ 263, 331 ff. StGB im Strafgesetzbuch geregelt sind, während sich die Vorschriften zum Schutz der staatlichen Finanzeinnahmen (abgesehen vom praktisch sehr bedeutsamen § 266a StGB) im Nebenstrafrecht am Ende der Abgabenordnung finden und zum Teil weitaus schärferen Haftungsmaßstäben unterliegen[40].

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Die von Lampe vorgeschlagene Systematisierung hat indessen einige erhebliche Nachteile: So fasst Lampe unter die Strafnormen zum Schutz der Volkswirtschaft neben den Tatbeständen zum Schutz des freien Wettbewerbs solche zum Schutz des Bank-, Versicherungs- und Börsenwesens und den allgemeinen Betrug gem. § 263 StGB[41]. Ein ähnliches Nebeneinander von klassischen Straftatbeständen des Kernstrafrechts und wirtschaftsstrafrechtlichen Sondertatbeständen findet sich bei den Delikten zum Schutz der Betriebswirtschaft. Darunter fallen sowohl spezielle Normen zum Schutz der Kreditfähigkeit oder einzelner Immaterialgüterrechte als auch der allgemeine Sachbeschädigungstatbestand des § 303 StGB oder die §§ 263, 253 StGB in der Form des Arbeitsbetruges und der Arbeitserpressung[42]. Lampe hält sich mit seiner Einteilung noch zu sehr an faktischen Kategorien auf und riskiert, dass Delikte, die typischerweise individualschützenden Charakter haben, wie zum Beispiel § 263 StGB, zu Delikten zum Schutz nebulöser Kollektivrechtsgüter, wie etwa der Volkswirtschaft, umgemünzt werden und damit ihre prägenden Konturen verlieren.

d) Wirtschaftsstraftaten als Delikte zum Schutz der Wirtschaftsordnung bei Otto und Tiedemann

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Otto und Tiedemann fassen unter das Wirtschaftsstrafrecht diejenigen Delikte, die in erster Linie die Wirtschaftsordnung und ihr Funktionieren schützen sollen[43]. Inhaltlich konzentrieren sie sich auf die Normen staatlicher Wirtschaftslenkung und -ordnung. Freilich sehen diese Autoren selbst, dass auch bei Angriffen gegen (unstreitig) individuelle Rechtsgüter Teilbereiche der Wirtschaftsordnung betroffen werden können. So sollen bei quantitativ massierter Begehung oder bei schweren Vermögensschädigungen auch Betrugs- und Untreuedelikte unter den Begriff des Wirtschaftsstrafrechts fallen[44]. Damit stellt sich die Frage, ob diese Delikte situationsspezifisch je eigen ausgestaltet werden sollen. Das ist nicht völlig abwegig. Beim Betrug könnte man etwa auf die Sondertatbestände der §§ 264, 264a StGB verweisen oder bei der Untreue auf spezielle Formen der Gesellschaftsuntreue. Sollten solche Spezialkonstruktionen dagegen grundsätzlich abgelehnt werden, stellt sich die Frage, welchen Wert der Begriff des Wirtschaftsstrafrechts dann überhaupt hat.

2. Primär rechtspraktisch orientierte Systematisierungsversuche

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Verschiedene stärker an den Bedürfnissen der Rechtspraxis orientierte Versuche zur Systematisierung des Wirtschaftsstrafrechts erscheinen aus rechtsdogmatischer Sicht ebenfalls kaum weiterführend. Das Wirtschaftsstrafrecht wird dort nicht nach speziellen Wirtschaftsrechtsgütern aufgeteilt, sondern in einer Weise gegliedert, die sich an dem im Verlauf eines fiktiven Mandats wechselnden Beratungsbedarf orientiert. Da diese Gliederungen nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Systematisierung des Rechtsgebiets erheben, kann die Ausrichtung am Beratungsbedarf zunächst nicht kritisiert werden. Selbst aus praktischer Sicht wäre indessen ein stärker materiell dominiertes Gliederungsschema wünschenswert, da dieses auch die alltägliche (Vorfeld)Beratung insbesondere von Wirtschaftsunternehmen erleichtern könnte. Wenn es gelingen würde, die wesentlichen Risikotypen zu charakterisieren, wäre für die Praxis zugleich ein grober Leitfaden gewonnen, an dem sich die Rechtsberatung orientieren und an dem ein Laie einen möglichen künftigen Beratungsbedarf erkennen könnte.

a) Die betriebsbezogene Unterscheidung bei Müller-Gugenberger/Bieneck nach Pflichtverstößen bei der Gründung, beim Betrieb sowie bei der Beendigung eines Unternehmens

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Müller-Gugenberger/Bieneck teilen das Wirtschaftsstrafrecht nach Pflichtverstößen bei der Gründung, beim Betrieb sowie bei der Beendigung und bei der Sanierung des Unternehmens ein[45]. Bei Beginn des Unternehmens werden vor allem Verstöße gegen Anmelde- und Erlaubnispflichten, Straftaten im Zusammenhang mit der Kapitalbeschaffung und Steuerdelikte hervorgehoben[46]. Während des Betriebs des Unternehmens werden Vermögens- und Steuerstraftaten in den Vordergrund gerückt[47]. Daneben werden Untreuesachverhalte, Verstöße gegen Delikte zum Schutz von Arbeitnehmerinteressen, Verstöße im Rahmen des Finanz- und Rechnungswesens sowie Delikte im Zusammenhang mit der Erzeugung und dem Absatz der Produkte betont[48].

b) Die Einteilung des Wirtschaftsstrafrechts in vier Hauptrisikobereiche bei Eidam

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Eidam konzentriert seine Ausführungen auf Straftaten beim Betrieb des Unternehmens und arbeitet „vier strafrechtliche Hauptrisikobereiche“ heraus: Das Umweltrisiko, das Betriebsstättenrisiko, das Produktrisiko und das Verkehrs- und Verkehrswirtschaftsrisiko[49]. Das Umweltrisiko steht als Oberbegriff für das Umweltstrafrecht. Das Betriebsstättenrisiko erfasst mit den Korruptions- und Kartelldelikten, der Untreue oder Computerkriminalität höchst unterschiedliche Tatbestände. Das Produktrisiko dient als Kategorie zur Einordnung der Körperverletzungstatbestände sowie der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten des Lebensmittel-, Arzneimittel- und Gentechnikrechts. Unter der Überschrift des Verkehrs- und Verkehrswirtschaftsrisikos werden – unter anderem – die Sanktionsnormen des Straßen-, Schiffs-, Bahn- und Luftverkehrs sowie der Personen- und Güterbeförderung zusammengefasst. Damit nicht genug führt Eidam abschließend Beispiele für übergreifende Risikobereiche auf und entwickelt am Ende das Verkehrs-, Umwelt-, Betriebsstätten- und Produktrisiko für Fälle, deren strafrechtlich relevante Rechtsgutsverletzung sich als Realisierung verschiedenster Risiken darstellt[50].

c) Die topische, an einzelnen Kriminalitätsbereichen orientierte Einteilung bei Achenbach/Ransiek

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Achenbach/Ransiek gliedern das Wirtschaftsstrafrecht in ihrem an die Rechtspraxis gerichteten Handbuch zum Wirtschaftsstrafrecht topisch nach verschiedenen Kriminalitätsbereichen[51]: Nach einem ersten Kapitel über Sanktionen gegen Unternehmen und die Ahndung unternehmensbezogenen Handelns werden die strafrechtliche Produkthaftung, Delikte gegen den Wettbewerb und die staatliche Wirtschaftslenkung diskutiert. Daran schließen sich Kapitel über allgemeine Vermögensdelikte, über Daten- und Datennetzdelikte sowie Insolvenzdelikte an. Sodann werden gesellschaftsrechtliche Bilanz-, Prüfer- und Falschangabendelikte, der Kreditbetrug und Delikte gegen den unbaren Zahlungsverkehr, Kapitalmarktdelikte, Sanktionen gegen die Verletzung des Urheberrechts und gewerblicher Schutzrechte, Delikte auf dem Gebiet des Arbeitslebens sowie die Geldwäsche erörtert. Das Handbuch endet mit einem Kapitel über Vermögensabschöpfung und Zurückgewinnungshilfe. Theoretisch erklärt Achenbach dieses Vorgehen damit, dass sich für ihn der Begriff des Wirtschaftsstrafrechts als „Cluster“ aus einer Reihe von Einzelelementen zusammensetzt, die nicht scharf voneinander geschieden sind und durchaus gehäuft auftreten können, die in ihrem Gesamtbestand aber einen konkret-allgemeinen Begriff von Wirtschaftsstrafrecht konstituieren[52]. Diese Einzelelemente seien das Element der Wirtschaftslenkung und -ordnung, die überindividuelle Dimension, eine wirtschaftsbezogene Phänomenologie, der Umwelt- und Verbraucherschutz sowie das Arbeitsstrafrecht[53].

Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts › B › II. Folgen der vorgestellten Definitionsversuche und eine erste Kritik

II. Folgen der vorgestellten Definitionsversuche und eine erste Kritik

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Aus den gerade beschriebenen Versuchen, das Wirtschaftsstrafrecht zu systematisieren, wurde deutlich, dass nahezu jeder Tatbestand des klassischen Kernstrafrechts auch im Kontext wirtschaftlichen Handelns begangen werden kann. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn aus gesetzlichen oder wissenschaftlichen Definitionen des Wirtschaftsstrafrechts kein vom herkömmlichen Strafrecht klar abgrenzbarer Inhalt extrahiert werden kann[54]. Beschrieben wird stets nur ein Torso des Wirtschaftsstrafrechts oder ein Wirtschaftsstrafrecht im engeren Sinne, das gegen ein Wirtschaftsstrafrecht im weiteren Sinne abgegrenzt werden muss[55].

Dies zeigen die Ausführungen von Lindemann, der das Wirtschaftsstrafrecht auf Delikte beschränken will, die die Volkswirtschaft betreffen. Den Kern des Wirtschaftsstrafrechts würde nach dieser Vorstellung heute entsprechend der vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftstheorie das Wettbewerbsstrafrecht bilden[56]. Typischerweise mit dem Wirtschaftsstrafrecht in Verbindung gebrachte Delikte (z. B. die §§ 263, 266 StGB) würden dagegen begrifflich ausgeschlossen sein. Entsprechendes gilt für die Ansätze von Tiedemann und Otto, soweit sie das Wirtschaftsstrafrecht auf Tatbestände zum Schutz der Wirtschaftsordnung beschränken wollen. Ähnliche Einwände müssen sich auch die Verfasser des Alternativentwurfs zum Wirtschaftsstrafrecht gefallen lassen, wenn sie das Rechtsgebiet auf Delikte beschränken wollen, die sozial-überindividuelle Belange des Wirtschaftsgeschehens schützen. Wichtige Bereiche des Produktstrafrechts, das explizit an Individualrechtsgüter anknüpft, wären damit aus dem Blick verloren[57]. Das Arbeitsschutzstrafrecht, der strafrechtliche Vermögensschutz und der strafrechtliche Umweltschutz würden ebenfalls aus dem Wirtschaftsstrafrecht herausfallen[58].

Ein weiterer elementarer Kritikpunkt betrifft den im Umgang mit der Vielfalt ökonomischer Sachverhalte und ihrem Einwirken in weite Bereiche des täglichen Lebens grundsätzlich beschrittenen Weg. Theoretisch bestehen zwei Pole, innerhalb derer sich diese dogmatischen Ansätze bewegen können:

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Den einen Pol bildet ein Rechtsdenken, das die Wirtschaft holistisch als organisches und überindividuelles Gebilde begreift, bestimmte Zusammenhänge (etwa die Wirtschaftslenkung, die Volkswirtschaft, den Wirtschaftsbetrieb, die Darbietungsehrlichkeit oder den Zahlungsverkehr) schützen will und das wirtschaftliche Geschehen von kollektiven Akteuren dominiert sieht[59]. Ein solches Verständnis legen die meisten der bisher in der Rechtswissenschaft erarbeiteten Definitionsversuche des Wirtschaftsstrafrechts nahe[60]. Dieser Herangehensweise ist freilich nur eine Dogmatik angemessen, die organisch überindividuelle Strukturen sinnvoll verarbeiten und hinreichend präzise steuern kann. Im Strafrecht wurde eine solche Dogmatik bislang jedenfalls noch nicht konsequent ausgearbeitet. Da es aus volkswirtschaftlich-überindividueller Perspektive irrelevant ist, ob sich ein Vermögensobjekt in der Hand der einen oder der anderen Person befindet und ob es auf legale oder kriminelle Weise erlangt wurde[61], hätte ein echt überindividueller Ansatz etwa dort nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten, wo individuelle Wirtschaftsressourcen garantiert werden müssen. Wirtschaftsstrafrecht würde danach möglicherweise in erheblichem Umfang zu einem Institutionenschutzrecht mutieren; die Freiheit des Individuums würde hinter diesen Institutionenschutz zurücktreten. Exemplarisch kann diese Entwicklung an der Diskussion um die Möglichkeit einer Untreue des Geschäftsführers einer Einmann-GmbH gegenüber der GmbH aufgezeigt werden. Der Untreuetatbestand wird dort von überindividualistischen Auffassungen zu einer Garantie von Redlichkeit im Rechts- und Wirtschaftsverkehr umgestaltet[62]. Ob vor dem Hintergrund unserer individualistisch ausgerichteten verfassungsrechtlichen Ordnung ein überindividualistisches Wirtschaftsstrafrecht überhaupt konsequent entwickelt werden kann, erscheint freilich eher zweifelhaft.

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Den Gegenpol zu dieser Strömung bildet ein Verständnis von Wirtschaft, das seinen Ausgangspunkt bei den Handlungsbedingungen des wirtschaftenden Individuums nimmt. Eine strafrechtliche Steuerung konzentriert sich hier auf die Gewährleistung dieser individuellen Handlungsbedingungen. Für das Wirtschaftsstrafrecht wurde dieser Ansatz bisher freilich noch nicht in seinen grundlegenden Zusammenhängen entwickelt. Das kann erstaunen, denn rechtsdogmatisch hat solch ein Ansatz bei den individuellen Handlungsbedingungen einen gewichtigen und in der bisherigen Diskussion nicht hinreichend gewürdigten Vorteil: Indem das Wirtschaftsstrafrecht konsequent auf das Verhältnis miteinander agierender Personen zurückgeführt wird, wird eine Prämisse aufgenommen, die für die Entwicklung der allgemeinen Strafrechtsdogmatik bislang immer implizit mitgedacht wurde. Die klassischen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte sind als Reaktion auf Sachverhalte entwickelt worden, in denen ein Individuum ein anderes verletzt. Rechtsfiguren der Einwilligung stellen darauf ab, ob die objektiv verletzte Person auf den ihr grundsätzlich zustehenden Achtungsanspruch verzichtet hat. Im Strafprozess richtet sich die Beteiligung des Opfers – im deutschen Recht z. B. gemäß den §§ 406d ff. StGB[63] – danach, ob es durch die Tat unmittelbar in seinen Rechten verletzt ist[64]. Wenn die für die Güter einzelner Personen geschaffenen Risiken statt dessen durch die abstrakte Verletzung überindividueller Zusammenhänge ersetzt werden, besteht die Gefahr, dass wichtige individuelle Faktoren, die heute bereits für die Konstitution der Straftat relevant sind, verstärkt in den Bereich der nur eingeschränkt überprüfbaren richterlichen Strafzumessung abgedrängt werden[65]. Wenn dagegen methodisch konsequent an der Verletzung individueller Güter und Interessen festgehalten wird, verliert das beschriebene Problem der sachgerechten Eingrenzung des Wirtschaftsstrafrechts insgesamt an Bedeutung.

Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts › B › III. Eigener Ansatz: Entwicklung eines Wirtschaftsstrafrechts auf der Grundlage eines methodologischen Individualismus

III. Eigener Ansatz: Entwicklung eines Wirtschaftsstrafrechts auf der Grundlage eines methodologischen Individualismus

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Der eigene Ansatz gründet gerade in dem individualistischen Gegenpol zu dem bisher herrschenden Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts. Er setzt an am Verständnis von Wirtschaft als Komplex unzähliger Individualhandlungen. Der konsequente Ausgangspunkt beim Handeln von Individuen entspricht dem traditionellen Strafrechtsverständnis und sollte daher zu klaren und gut nachvollziehbaren Problemlösungen führen. Im Vorfeld dieser Lösungen liegt indessen eine ganz erhebliche Schwierigkeit: Wer die Wirtschaft konsequent als Komplex von Individualhandlungen verstehen will, muss die Wirtschaft auch vollständig aus solchen Individualhandlungen heraus erklären können. Dies erfordert zunächst einen hohen analytischen Aufwand, der überhaupt nur deshalb betrieben werden kann, weil ein Großteil dieser Analysen für andere Zwecke bereits vorgenommen wurde. Angesprochen sind damit alle wirtschaftstheoretischen Abhandlungen, die ihre wirtschaftswissenschaftlichen Analysen und Theorien auf einen individualistischen Ansatz bauen. Im wirtschaftstheoretischen Schrifttum ist diese Beschreibung so abstrakt, dass sie häufig in einer mathematisch-formelhaften Beschreibung der Sachzusammenhänge endet. Auch wenn eine derart schematisierte Betrachtungsweise für das Strafrecht abzulehnen ist und statt auf mathematische Formeln auf lebensnähere Beschreibungen der sozialen Zusammenhänge zurückgegriffen werden soll, verspricht dieser Ansatz doch eine solche Präzision in den Ergebnissen, dass die Mühe am Ende belohnt werden müsste.

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Die zweite grundlegende Schwierigkeit besteht in dem weiten Bogen, der geschlagen werden muss, um das Wirtschaftsstrafrecht konsequent individualistisch verstehen zu können. Wenn das Verständnis von Wirtschaft beim wirtschaftenden Individuum ansetzt, bedeutet dies nicht, dass es bei der Betrachtung des isoliert wirtschaftenden Einzelnen stehen bleiben könnte. Selbstverständlich muss auch ein individualistisches Grundverständnis von Wirtschaft das Phänomen Wirtschaft in seiner gesamtgesellschaftlichen und in diesem Sinne sozialen Dimension betrachten und Antworten darauf geben können, was aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive Gegenstand des Wirtschaftsstrafrechts sein soll.

1. Betrachtung des Wirtschaftsstrafrechts aus methodisch individualistischer Perspektive – Definition und Überlegungen zu Möglichkeiten einer strafrechtsimmanenten Konkretisierung des Ansatzes

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Von einem individualistischen Ausgangspunkt lässt sich das Wirtschaftsstrafrecht in einem ersten Zugriff wie folgt definieren: Wirtschaftsstrafrecht ist dasjenige Strafrecht, das die Handlungsbedingungen des Einzelnen zur Verfolgung seiner individuellen Erwerbsinteressen in der Gesellschaft vor Eingriffen Dritter durch Sanktionen sichern und dadurch individuelles Wirtschaften erleichtern soll.

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Der erste Schritt auf dem Weg zu einem solchen Wirtschaftsstrafrecht muss also damit beginnen, die „Handlungsbedingungen des Einzelnen zur Verfolgung seiner individuellen Erwerbsinteressen in der Gesellschaft“ näher zu konkretisieren. Allerdings verspricht es wenig Erfolg, diesen Konkretisierungsversuch rein „strafrechtsintern“ betreiben zu wollen:

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Das Wirtschaftsstrafrecht selbst wird in der bisherigen Spezialdiskussion als eigenständige Materie bislang eher holistisch diskutiert, sodass für die Konkretisierung der Gegenposition dort kaum Ansätze erwartet werden dürfen.

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Sucht man innerhalb der allgemeinen – nicht speziell auf das Wirtschaftsstrafrecht konzentrierten – strafrechtsdogmatischen Diskussion nach solchen oder so ähnlichen Ansätzen, stößt man etwa bei Hassemer/Neumann auf die Idee eines auf der Vorstellung von einem Gesellschaftsvertrag gründenden normativen Individualismus[66]. Getragen sind diese Ansätze freilich von dem kriminalpolitischen Programm eines restriktiv gefassten Kernstrafrechts. Diesem kriminalpolitischen Programm muss sich der Versuch, das Wirtschaftsstrafrecht vom analytischen Verständnis her individualistisch zu erfassen – also ein rein methodischer Individualismus –, nicht zwingend verpflichten. Im Gegenteil: Es wäre sogar theoretisch besonders begründungsbedürftig, weshalb sich der im Kern rein analytisch begründete methodische Individualismus auch kriminalpolitisch dem normativen Individualismus verpflichten sollte. Im Verlauf der Arbeit werden sich anhand der zu konkreten Einzelauffassungen vertretenen Meinungen daher auch durchaus erhebliche Unterschiede in den Ergebnissen zeigen. Umgekehrt legt es ein normativer Individualismus zwar nahe, sich methodisch auf eine individualistische Analyse der einschlägigen Sachverhalte zu verpflichten. Das Angebot entsprechender strafrechtlicher Analysen ist indessen bis dato äußerst begrenzt und beschränkt sich im Kern auf Verweise auf ein angebliches Kernstrafrecht, das in seinem Anwendungsbereich begrenzt bleiben soll[67].

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Übrig bliebe damit ein Befragen des traditionellen individualistischen Strafrechts auf seine Antworten auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte, aber damit lässt sich für ein theoretisches Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts wenig gewinnen. Es wäre zwar denkbar, Rechtsgüter, bei denen im Wesentlichen Einigkeit darüber besteht, dass sie individualistisch zu verstehen sind, auf ihre Funktion für die Verfolgung individueller Erwerbsinteressen zu untersuchen. Auch ein solcher Ansatz begegnet indessen kaum überwindbaren Unwägbarkeiten. Wie gering und unsicher der Ertrag sein würde, zeigt ein exemplarischer Blick auf (nur) zwei neuere Versuche, den Tatbestand des Betrugs in ein kohärentes System strafrechtlichen Vermögensschutzes einzufügen: die Kommentierung des Betrugs von Hoyer und die von Kindhäuser. Hoyer sieht den Betrug als einen im Besonderen Teil vertypten Spezialfall mittelbarer Täterschaft kraft überlegenen Wissens an, der allein das Vermögen des Geschädigten schützt[68]. Aus § 263 StGB wäre demnach für das Wirtschaftsstrafrecht vor allem das Gebot des Vermögensschutzes abzuleiten. Weitergehende Forderungen nach einem daneben stehenden Recht auf Wahrheit oder (für § 253 StGB) auf eine Willensbildung frei von nötigendem Zwang lehnt Hoyer ausdrücklich ab[69]. § 263 StGB wird von Hoyer weiter konsequent in eine Reihe mit den seiner Auffassung nach ebenfalls vorrangig bzw. ausschließlich dem Vermögens- bzw. Eigentumsschutz verpflichteten §§ 242, 253 StGB gestellt[70]. So zieht er etwa aus dem Schutz objektiv wertloser Gegenstände durch §§ 242, 249 StGB den Schluss, das Vermögen im Sinne von § 263 StGB müsse auch solche Positionen erfassen, die keinen objektiven wirtschaftlichen Wert haben, solange neben dem Opfer nur eine weitere Person diesen Positionen einen Geldwert zumisst[71]. § 263 StGB schützt danach also statisch einen Bestand an Vermögen, zu dem auch Gegenstände mit reinem Affektionswert zählen. Bei Kindhäuser wird der Betrugstatbestand bereits im Grundverständnis anders konzipiert. Kindhäuser sieht im Betrug einen dynamischeren Tatbestand zum Schutz des Vermögens und zur Dispositionsfreiheit des Opfers[72]. Die Dispositionsfreiheit versteht er als Freiheit, selbstverantwortlich über die eigenen Vermögensgegenstände verfügen zu können[73], wobei der Topos der Selbstverantwortlichkeit seinerseits konkretisierungsbedürftig ist. Die Dispositionsfreiheit selbst soll aber „zu den definierenden Merkmalen des von der Norm garantierten Vermögens“ gehören[74]. Den Vermögensbegriff versteht Kindhäuser funktional als Verfügungsmacht einer Person über die ihr rechtlich zugeordneten Güter im Sinne von Positionen, denen ein abstrakter Geldwert zugemessen werden kann[75]. Schon wenn man nur diese beiden Positionen einander gegenüberstellt, wird deutlich, wie groß die Unsicherheiten selbst bei Kernfragen elementarer Tatbestände des Besonderen Teils sind. Soll zur Bestimmung des Vermögens nun ein abstrakter, ein objektiv-wirtschaftlicher oder ein konkreter Maßstab dienen? Soll eine Position nach Ansicht des Rechtsverkehrs einen Geldwert haben oder nur aus der Sicht einer einzelnen Person einen Tauschwert? Sollen reine Affektionsinteressen geschützt werden oder nicht? Soll der Tatbestand neben dem Vermögen weitere Rechtsgüter schützen, oder sind etwa dem Begriff des Vermögens bestimmte Verfügungsvoraussetzungen implizit? Alle diese Fragen dürfen noch heute in weiten Bereichen als ungeklärt oder zumindest stark umstritten gelten. Der Versuch, ein Wirtschaftsstrafrecht auf einem solchen Fundament zu errichten, wäre der Versuch, auf Sand zu bauen. Und: Selbst wenn man alle Tatbestände des geltenden Strafrechts – oder zumindest des Kernstrafrechts des StGB – auf ihre Anwendung auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte untersuchen würde, würde sich aus dieser Vorgehensweise nicht zwingend ein in sich geschlossenes System ergeben. Gewonnen wäre nur eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts, die gegenüber diesem Recht nur wenig kritisches Potential aufdecken könnte. Zwar könnte die Leistungsfähigkeit des status quo dargelegt werden; unangemessene Sanktionsdifferenzen könnten aufgedeckt werden; die Fragmentarität des Strafrechts in einem Bereich könnte einer besonders umfassenden Pönalisierung in einem anderen Bereich gegenüber gestellt werden. All dies ist aber auch möglich, wenn es gelingt, den vorgeschlagenen individualistischen Ansatz auf andere Weise näher zu konkretisieren.

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9783811457072
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