Читать книгу: «Ich bin dein Hirte», страница 2

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3.

Wenn die Post kommt, muss ich das Haus verlassen. Ich gehe nicht gern aus dem Haus. Nur, wenn es absolut notwendig ist. Wenn die Post kommt, ist es notwendig, absolut. Und für das Experiment natürlich. Ich bekomme häufig Post. Gegen zehn schaue ich aus dem Fenster, dann kann ich ihn meistens kommen sehen. Der gelbe Wagen fährt auf das Haus zu. Das Haus steht günstig, als wäre ich beim Einteilen der Grundstücke, bei der Ausrichtung des Hauses und bei der Erstellung der Routen der Postler dabei gewesen. Wenn ich aus dem Küchenfenster schaue, habe ich kompletten Einblick in die Querstraße. Ich muss nicht einmal aufstehen, ich sitze so, dass ich aus dem Fenster schauen kann, wenn ich frühstücke oder zu Mittag esse. So habe ich auch die Nachbarn im Auge, wenn sie die Straße überqueren und sich über den neuesten Tratsch austauschen. Es ist grauenhaft zu sehen, wer wen besucht und vor allem wann, also wer wen, wann besucht, wenn der eine oder andere nicht da ist. Kaum dass ich ihnen den Rücken zukehre, weiß ich, dass sie über mich reden. Sollen sie doch reden. Sie können mich alle am Arsch lecken. Seit Mutter weg ist, haben sie noch mehr zu reden. Ich gebe ihnen, was sie brauchen. Jeder bekommt das, was er verdient.

Sie sind ja nur Marionetten in meinen Händen, sie tun, was ich will, laufen durch meine Inszenierung. Willenlos und mitunter kopflos. Ha.

Ich sehe das Postauto, wenn es in die Straße biegt, sofort. Dann stehe ich auf. Ich gehe in den Flur, schiebe den schweren, dunklen Vorhang etwas beiseite und gehe weiter zur Haustür. Ich schließe sie auf, öffne die Tür und gehe hinaus. Hinter mir ziehe ich die Tür wieder zu. Ich überlege kurz, ob ich abschließen soll. Gehe dann aber los. Bis ich am Gartentor bin, hat der Wagen gehalten und der Mann in gelb und blau ist ausgestiegen. Es ist ein Paket. Für mich. Er kommt zielstrebig auf mich zu. Ich fange die Post und deren Überbringer immer vor dem Grundstück ab. Normalerweise kommt niemand auf das Grundstück. Es ist abgeschlossen. Meine Welt. Mein Reich.

„Hier kommst du nicht rein“, flüstere ich und kichere, „nicht hier rein zu mir. Ich bin Nichts. Hier bekommst du mich nicht. Hier findest du mich nicht. Hier in meinem Kopf. Kommst du nicht rein. Du nicht. Der gehört mir. Das ist meine Welt. In der findest du nur da, was ich zulasse, was ich erlaube, was ich will, dass passiert ist und wie es passiert ist Ich kann es mir so vorstellen, wie ich es will. In der Dunkelheit.“

Denn ich liebe die Dunkelheit. Ich liebe das Dunkle. Dort lauere ich und warte. Dort warte ich in der Dunkelheit. Warte bis es vorbei ist. Höre nur die Geräusche um mich herum, und wenn da keine sind, höre ich die Geräusche in mir drin. Lausche auf das, was sie mir sagen.

Er lässt mich wieder allein. Aber das kann er gar nicht, mich allein lassen. Ich bin bei mir. Ich hüte mich, ich weide mich, ich führe mich. Ins Nichts. Dort, wo er mich nicht hinführen kann.

„Guten Morgen!“, ruft er mir entgegen.

„Woher wissen Sie, dass es ein guter Morgen ist?“, frage ich, ohne dass er es hören kann.

Er sieht, dass ich etwas sage, und schaut skeptisch, aber er lächelt. Er lächelt, weil er glaubt zu wissen, wen er vor sich hat. Als Zusteller begegnet man sicher einer Menge merkwürdiger Menschen. Zu allen muss er freundlich sein.

Seine offen zur Schau gestellte gute Laune kotzt mich sofort an. Ich mag freundliche Leute nicht, weder bekannte noch unbekannte freundliche Leute. Wenn Leute freundlich sind, dann wollen sie, dass man zu ihnen auch freundlich ist, oder sie führen etwas im Schilde, man soll ihnen einen Gefallen tun, oder irgendetwas hintertrieben Hintergründiges für sie machen. Eigennutz. Ohne eigenen Nutzen läuft da gar nichts. Kindergartengerechtigkeit. Und dann sind sie überrascht, wenn man ganz anderes reagiert, wie sie es erwarten. Überhaupt, Erwartungshaltungen kotzen mich besonders an. Gibt es eigentlich dafür schon einen Verein? „Verein für die Förderung und Pflege von Erwartungen“. Und dann diese Nachbarn. Seit Tagen geht das schon so. Unangenehme Fragen, merkwürdige und neugierige Blicke. Schrecklich. So kann ich nicht arbeiten. Ich brauche meine Ruhe, viel Ruhe. Aber irgendwie habe ich das ja auch provoziert. Ich muss kichern. Der Postbote schaut mich komisch an. Hat er was gemerkt? Muss ich ihn herein bitten? Ich schaue ihn an. Nein. Ich lass ihn gehen. Aber nicht, weil er vermutlich ein führsorglicher Vater und Ernährer ist. Von wegen, du verficktes Schwein. Eine der vielen Hausfrauen, die ihm auf seiner Route die Tür öffnen, um Post entgegen zu nehmen, wird es ihm schon außerehelich besorgen. Oder er es ihr. Dreckschweine, verfickte. Ficken ist Macht. Ist das schön. Ich lächle.

Und er fühlt sich aufgefordert, ebenfalls zu lächeln. Ob er doch mit rein muss?

Seit Mutter weg ist, habe ich wenigstens im Haus meine Ruhe. Aber die Leute sind neugierig, oder doch schon misstrauisch? Was bilden die sich eigentlich ein? Haben die kein eigenes Leben?

„Ein Paket für Herrn Larsen“, fügt der Mann von der Post überflüssigerweise auch noch hinzu.

„Tatsächlich?!“ Als wüsste ich nicht, wer ich bin, und dass das Paket für mich ist. Ich bekomme viele Pakete.

Er schaut irritiert auf das Paket. „Ja“, sagt er sehr freundlich und lächelt mich schon wieder an. „Langstraße 3.“ Er schaut an mir vorbei und findet seine Annahme, dass es sich bei der genannten Adresse um das Haus handelt, vor dem er sich befindet, bestätigt. Er nickt zufrieden und geht davon aus, dass er Herrn Larsen vor sich hat. Das bin ich.

„Ich kenne Sie nicht“, sage ich. Er kotzt mich nicht nur an, ich hasse ihn jetzt schon und vermerke ihn auf meiner internen Liste all derer, die mich richtig am Arsch lecken können. Sie wird Tag für Tag länger. Ich bin schon nicht mehr entsetzt darüber, wie leicht es den Menschen fällt, hassenswert zu sein und auf meine Liste zu kommen. Das ist keine Ehre. Früher einmal hat es mich noch entsetzt, heute nicht mehr. Da bin ich tolerant. Wir alle müssen uns verändert können. Flexibel sein.

„Mein Kollege ist krank“, antwortet er und reicht mir das Paket. „Sie sind Herr Larsen?!“

„Ihr Kollege wusste das.“

„Nächste Woche wieder.“

„Wenigstens sind Sie pünktlich.“

Er schaut mich an, als wollte er sagen, was er denkt, überlegt es sich dann aber anders. Ich habe damit keine Probleme. Zu sagen, was ich denke, meine ich. Er aber meint noch immer freundlich bleiben zu müssen. Ich habe nur noch Mitleid für ihn übrig. Ich wünsche ihm nicht einmal, dass ihm seine Frau am Abend schön einen bläst, nicht einmal das.

„Auf Wiedersehen“, sagt er und wünscht mir sogar noch einen „schönen Tag“, dann dreht er sich um und geht.

„Wichser“, zische ich hinter ihm her. Und ich sehe, dass er mich gehört hat, aber wahrscheinlich meint er, nicht richtig verstanden zu haben. Oder er meint, dass er nicht richtig verstanden haben kann, weil es eigentlich absolut keinen Grund dafür gibt, dass ich ihn beleidige. Seinen Körper durchzuckt ein kurzes Zögern, dann geht er weiter. Ich meine, dass er den Kopf schüttelt, ja ich sehe es, ich sehe, wie er mit dem Kopf schüttelt. Das kommt nicht vom Gehen. Er schüttelt den Kopf über mich, auch wenn er mir eigentlich Sachen sagen will, die er mir nicht sagen darf, solange er seine Uniform an hat. Er könnte mir aber abends mal irgendwo auflauern. Ja, das ist alles möglich.

„Ignorant.“

Ich drehe mich um und will schon zurück zum Haus gehen, da sehe ich eine der Nachbarinnen. Sie winkt, als sie sieht, dass ich sie gesehen habe. Ich hebe den Arm und winke mit gestrecktem Mittelfinger zurück.

„Miststück!“

Sie lächelt. Sie meint mich zu kennen. Schön. Schönen Tag, wünsche ich. Hoffentlich nerven die heute nicht wieder. Seit Mutter weg ist, klingeln die ständig und fragen nach ihr. Lästig. Erst wenn man weg ist, wird man interessant, oder was? Oder denken die doch schon, dass ich ein Hinterbliebener bin? Vielleicht muss ich später mal wieder Kasperletheater spielen. Wird vielleicht doch mal wieder Zeit. Damit sie was zu sehen und zu reden haben. Und die Fresse halten. Das müssen sie noch lernen: die Fresse halten.

„Alte, kleine Hexen, alle zusammen.“

Kaum bin ich wieder im Haus und habe hinter mir abgeschlossen und den Vorhang zurechtgezogen, und gehe mit dem Paket ins Arbeitszimmer, klingelt es an der Tür. An der Haustür. Die Klingel am Gartentür klingt anders. Das ging aber schnell, denke ich noch, doch ein anderer Gedanke verdrängt den Ärger über das unvermeidbar folgende Gespräch. Normalerweise klingelt niemand an der Tür. Es kann niemand an der Tür klingeln. Deswegen ist sofort klar: Ich habe vergessen, das Gartentor abzuschließen. So was passiert mir normalerweise nicht. Eben stand ich noch davor und habe es nicht gemerkt. Ich muss gestern vergessen haben, das Gartentor abzuschließen. Was war gestern? Warum habe ..., wie konnte ich das vergessen? Ich war unterwegs, ja, aber das ist kein Grund, nicht abzuschließen. Auch wenn es schon spät war, später als sonst. Ich musste mit dem Taxi vom Bahnhof nach Hause fahren. Aber es hat sich gelohnt. Es war gut. Habe mich ja auch lange gedulden müssen. Aber jetzt ist es vorbei. Hab noch gar nicht nachgesehen, ob sie schon was in den Nachrichten gebracht haben. Michaela. Sie kannte Miller und Nin. Und „Geschichte der O“. Dann braucht man nicht mehr um den heißen Brei herum zu reden. Wer darauf reagiert, muss damit rechnen. Muss mit allem rechnen. Vor allem mit mir. Denn ich bin der Herr. Ich bin der Hirte.

Ich warte, Mama. Ich warte, bis es soweit ist. Eines Tages.“

Ich höre ihre Stimmen. Sie reden miteinander. Worüber sie wohl reden? Holen sie mich jetzt? Worüber reden sie? Ich kann es hören, aber nicht richtig verstehen. Es ist so still

Es klingelt noch einmal, länger. Sie wird nicht gehen. Gott, wie die mich nerven. Als ob sie tatsächlich kein eigenes Leben haben.

„Jetzt fängt das wieder an.“ Ich muss mich zwingen, aber es gehört wohl dazu.

Ich gehe zur Tür und schließe auf. Ich öffne die Tür nur einen Spalt. Der Vorhang verhindert den Blick in den Flur. Ich lasse die Kette eingerastet.

„Was?“, frage ich.

„Hallo Klaus-Peter. Ist deine Mutter da?“

Das dürfen sie eigentlich nicht, mich so nennen, so nennt mich nur Mutter. Mutter darf das, die nicht, dies alten vertrockneten Schachtel, verblödeten. Sie stehen heute zu zweit vor der Tür. Sie kann es nicht lassen, mich so zu nennen. Sogenannte Freundinnen meiner Mutter. Die sind auch immer so freundlich. Immer wollen sie hilfreich und nett sein. Zum Kotzen.

„Sie schläft. Sie will ihre Ruhe haben“, sage ich und denke: Und ich auch.

Leckt mich. Ihr werdet hoffentlich auch bald eure Ruhe haben. Ihr Habt nichts gemerkt. Auch ihr habt nichts gemerkt. Sie wollten nichts merken.

Ich will die Tür schon wieder schließen, doch da muss ich tatsächlich zur Kenntnis nehmen, dass beide eine Hand heben und die Tür wohl offen halten wollen. Das ist neu, das haben sie noch nie gewagt, sich Gehör zu erzwingen. Sie werden sich heute nicht mehr einfach so abspeisen lassen. Das heißt Kasperletheater. Später. Ich brauche noch Zeit. Sonst geht es schneller als ich dachte.

„Ist sie krank?“

„Geht’s ihr net gut?“

Wenn ich diese Sprache schon höre. Warum wollen die das wissen, das geht sie doch gar nichts an. Lebt euer eigenes Leben, wenn ihr eines habt, möchte ich ihnen am liebsten sagen.

„Nein“, sage ich und seufze laut. „Sie ist nicht krank.“ Meine Freundlichkeit und Höflichkeit kotzt mich an. Das gibt später Ärger. Mutter wird mich aufziehen damit. Oder schimpfen.

Ja, sicher wird sie schimpfen. Mit mir. Sie wird mich schimpfen und wieder einsperren.“

Nein, bitte, nicht.“

Das will sie doch hören. Ich werde wieder allein sein. Allein mit mir in der Finsternis.

„Schachteln“, füge ich noch hinzu. „Alte.“

„Bitte?“

„Nichts.“ Ich lächle. Das hat nichts mit Freundlichkeit zu tun.

Die beiden schauen sich an, lassen aber ihre Hände an der Tür. Ich weiß, dass ich stärker bin, aber ich warte, obwohl meine Geduld am Ende ist. Es ist eine schwere Prüfung für mich, ihnen die Tür nicht einfach vor den Nase zuzuschlagen. Das dauert hier schon viel zu lange. Kostbare Zeit. Ich habe Besseres und Wichtigeres zu tun.

„Können wir kurz rein und sie sehen?“

„Nein.“

Sie sehen, dass es keinen Sinn hat. Ich werde nicht weichen.

„Bestell ihr bitte einen schönen Gruß.“

„Sie soll sich mal melden bei uns.“

„Ja, neugierige alte Gattschen“, flüstere ich. Ich weiß, dass sie nicht mehr gut hören, aber ich sehe, wie sie auf meine Lippen starren.

„Sie soll sich melden, auch wenn es ihr nit gut geht.“

„Wenn wir was für dich tun könne, dann sach uns Bescheid.“

Ich frage mich, ob die das geübt haben, wer was sagt. Und was sie für mich tun können, sage ich ihnen lieber nicht. Ich könnte etwas für sie tun. Letztendlich und final. Aber sie sind schon alt, so alt. Es lohnt sich nicht wirklich.

„Ja“, sage ich und in Gedanken lege ich meine Hände um ihren Hals. Nehmt doch einfach Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Menschen, wenn ihr schon selber keine mehr habt oder nie welche hattet.

Sie nehmen endlich ihre Hände von meiner Tür und drehen sich um. Ihre Blicke treffen sich. Auch sie schütteln die Köpfe. Ich höre jetzt schon ihr Geschnatter und ihr Gezische, und ihre sich überschlagenen Stimmen, wenn sie sicher sind, dass ich sie nicht mehr hören kann, oder wenn sie sich sicher fühlen. Aber eines kann ich euch versichern, niemand ist sicher, besonders ihr nicht, meine lieben alten Nachbarn. Ihr werdet auch noch verarbeitet.

„Macht das Tor hinter euch zu!“, rufe ich hinterher. Ich werde später abschließen. Ich will erst einmal das Paket öffnen. Ich schließe die Tür, ziehe den Vorhang zu und gehe über den Flur.

Ich gehe mit dem Paket in mein Arbeitszimmer. Und schließe hinter mir ab, ich will ungestört sein, wenn ich meine Sachen auspacke. Dabei fällt mir jedoch noch einmal das Gartentor ein, das ich noch abschließen muss. Drei abgeschlossene Türen sind besser als zwei. Ich lasse das Rollo noch ein Stück weiter herunter. Immer noch hell genug, ohne Licht machen zu müssen. Dunkelheit bedeutet immer auch Stille. Man muss nicht immer sehen, was lauert. Ich brauche es nicht sehen, ich weiß es. Ich kenne es.

Außerdem, was wollen die ständig von Mutter. Mutter geht es doch gut. Sie konnte die doch eh nicht wirklich leiden. Immer dieses Gequatsche und Getratsche. Sie war eine Zugezogene.

„Woher die wohl das Geld hat, so ein großes Haus zu bauen auf einem so großen Grundstück?!“

Ich höre wieder, wie sie sich das Maul zerreißen. Neid, Missgunst. Na ja, jetzt hat sie ihre Ruhe. Vielleicht werde ich nachher noch einmal nach ihr sehen. Gut, das Haus ist wirklich groß und das Grundstück auch. Aber was geht die das an?! Ich habe den Platz, den ich brauche.

Sie hat mir diesen Raum überlassen, weil sie selbst nicht mehr viel Platz brauchte. Oben. Es ist der größte Raum in diesem Haus. Er war aber schnell mit Sachen voll. Obwohl ich ja eigentlich nicht viel brauche. Schlafen kann ich im alten Schlafzimmer nebenan. Ansonsten brauche ich hier nur einen großen Schreibtisch, einen sehr bequemen Bürostuhl und Regale. Viele Regale. Und einen Sessel um zu lesen. Neben dem Sessel steht noch eine Lampe und ein niedriger Tisch. Die Wände haben irgendwann für die Regale nicht mehr gereicht. Der Raum wurde langsam zu einer Bibliothek, zu einer Bücherei mit vielen schmalen Gängen. Aber so gefällt es mir. Wenn jemand das Zimmer betreten würde, würde er mich nicht gleich sehen. Ich aber ihn. Mein Schreibtisch steht so, dass ich in den Raum schauen kann. Zwei Spiegel sind so angebracht, dass ich die Tür sehen kann. Aber wer soll hier schon hereinkommen. Mutter ist nicht mehr da und auch sie kam sehr selten hier herein. Außerdem klopfte sie immer an, bevor sie den Raum betrat. Sie klopft an, seit sie mich erwischt hat.

„Ich arbeite“, sagte ich nur und Mutter wusste, dass ich in den nächsten Stunden nicht gestört werden wollte.

Bevor ich das Paket öffne, mache ich die Musikanlage an. Das gehört zusammen: Musik hören und Bücher auspacken.

Auch, wenn es diesmal gar keine Bücher sind. Es sind Teile einer Geschichte.

Ich habe mir das Paket selber geschickt. Um mir eine Freude zu machen. Um zu testen, ob es verschickt wird. Ob es ankommt. Der Inhalt. Ob es jemand merkt, was denn da drinnen verschickt wird. Ein Geschenk von Michaela. Etwas unfreiwillig, aber notwendig. Sie konnte ja nicht mehr widersprechen, sich auflehnen. Aber kalt war sie noch nicht. Sie roch noch nach sich, nach Liebe, oder Sex? Nach Angst? Nach Gier vielleicht, nach Lust und Schmerzen, ja. Das riecht intensiv, das schmeckt intensiv, erregend und betörend. Unvergleichlich. Der Blick in ihren Augen, bevor es vorbei war. Die Augen. Kurz bevor es vorbei ist. Die Augen sind das Faszinierende, wenn das Ende kommt, als würde sie es sehen. Das Ende, wie es naht. Ob schleichend oder plötzlich angesprungen.

Und es wird verschickt. Ich freue mich. Eine nette kleine Erinnerung. Obwohl ich keine Erinnerung brauche, keine Gedächtnisstützen. Ich kann es mir merken. Das schon, was wir erlebt haben. Michaela und ich, obwohl sie es ja nicht wirklich überlebt hat, nur in meiner Erinnerung, in meinem Kopf. Ich aber werde dafür sorgen, dass sie unvergessen bleibt. Es wird nicht vergebens gewesen sein, Michaela. Für manche Dinge im Leben reicht Fantasie eben nicht aus. Es gibt Geschichten, die schreibt das Leben besser als jede Fantasie. Ja. Und ich schreibe sie auf. Die Geschichten. Für euch. Die ihr diese Geschichten lesen wollt. Das erfordert Opfer. Bereitwillig, wie ich versichern kann. Bis zu einem bestimmten Punkt zumindest. Aber Ekstase und Obsession sind wie ein Schmerzmittel. Nur besser.

Ich bekomme eine Erektion. Vom Gedanken an Michaela. Vegetarierin. Sie war Vegetarierin. Auch das noch. Und ich sah schon eine Freude, ein Vergnügen schwinden. Direkt vor meinen Augen.

„Nehmen Vegetarierinnen eigentlich einen Schwanz in den Mund?“, fragte ich. Ich hatte es gerade erst erfahren, aber ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf, wie immer. Es gab nur zu gewinnen. Verlieren konnte ich nicht. Nicht mehr. Im Dunklen gibt es nichts, was ich verlieren kann.

Sie schaute mich an. Ich sah, dass sie noch nicht wusste, ob sie loslachen oder wütend sein sollte. Sie schwankte. War verlegen. Und ich hatte gewonnen. Ich lächelte.

„Ich meine, das ist doch Fleisch.“

„Ja, schon, aber es ist ja noch lebendig.“

„Gutes Argument“, meinte ich und fügte hinzu, „lebendig ist gut. Es gibt wohl doch Dinge, die auch in den Händen und im Mund einer Vegetarierin wieder lebendig werden.“

„Bisher hat sich noch niemand beklagt.“

„Das freut mich zu hören.“

„Außerdem ist der Schwanz eines Mannes ja nicht tierisch.“

Ich horchte auf.

„Nicht tierisch?“

„Ja. Vegetarier essen keine toten Tiere. Der Schwanz eines Mannes, eines männlichen Menschen ist kein tierisches Fleisch. Also im strengen Sinne.“

„Im strengen Sinne?“

„Na, ja. Wie soll ich sagen?“, sie senkte den Blick.

Und wusste nicht, dass ich bereits wusste, worauf sie hinaus wollte. Aber ich sah es gern, wie sie sich unter meinen Blicken, meinem Zögern, meinem Schweigen und meinem Erwarten wandte. Ich nahm ihr nichts ab, noch nicht.

Es erregte mich.

„Manchmal wünscht sich eine Frau ein Tier, also, dass der Träger eines Schwanzes zum Tier wird. Auf ihr, hinter ihr, in ihr. Mit den Kopf zwischen ihren Schenkeln. Ihren Saft trinkend.“

„Ach, tatsächlich?“

„Ja“, seufzte sie.

Ich wusste, sie war bereits bereit, feucht, willig. Sie erwartete mich. Erregt. Sie würde die Schmerzen mit Lust und Freude empfangen, sich dem Verlangen nach mehr hingeben und sich unter ihnen winden, während ich sie dem finalen Höhepunkt entgegen treiben würde. Final. Und einmalig. Ja. Der letzte Orgasmus.

Es war natürlich kein Zufall, dass wir zusammen in diesem Restaurant saßen. Das Internet hat mir meine Arbeit, meine Recherchen wesentlich erleichtert. Fast schon zu einfach. Chatrooms. Man wird zu jemandem, der ich nicht bin oder der ich gerade eben doch bin und den ich dann so echt spiele, dass kein Zweifel aufkommt. Lebensecht. Wer auf „Geschichte der O“ reagiert, muss damit rechnen, dass es weh tut, dass es Schmerzen geben wird. Aber Schmerzen kennen Grenzen, Michaela lernte sie kennen. Mit mir. Und einen Teil davon habe ich mir selbst geschickt. Ich übertreffe mich selber. Das bewundere ich so an mir.

Es hat funktioniert.

Und ich muss kichern. Wie eine alte Frau.

Mutter, denke ich, ja, es wird Zeit.

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