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Resümee

Alsberg gelingt es, den Menschen als primus inter pares unter den Lebewesen zu bestimmen, ohne dabei die gemeinsame Substanz der Lebewesen aufzuheben. Der Mensch ist und bleibt ein Lebewesen unter Lebewesen, doch der Werkzeuggedanke und das Prinzip der Körperausschaltung überformen diese gemeinsame Substanz derart, dass der Mensch in ein Gegenüber zur Natur gerät. Unter den Lebewesen findet sich allein der Mensch in einer Position Welt und Natur gegenüber. Das Schöne gehört dabei wesentlich zu seinem Reich der Freiheit. Wie das Wahre und Gute ist – nach Alsberg – auch das Reich des Schönen Ausdruck jener einsamen Stellung des Menschen in der Welt, und es obliegt ihm, selbst das Rätsel dieser Sonderstellung mit der Entwicklung seiner Fähigkeiten einer Lösung zuzuführen. Das Telos dieser Entwicklung ist die Selbstwerdung des Menschen. Es ist der dynamische Substanzbegriff Alsbergs, welcher die Entwicklung des Dramas dieser Menschheitsaufgabe wie auch das daraus erwachsende geschichtliche Sein des Menschen ermöglicht.

Blicken wir von hier aus auf das eingangs zitierte Gedicht Es un hombre zurück, so können wir eine kurze Geschichte des Menschheitsrätsels erzählen: Ein Mann auf dem Weg durch seine Welt: Va solo por el campo. Im Oye su corazón, como golpea, erlebt er einen Akt der Selbstvergegenwärtigung. Sie überwältigt ihn und schlägt ihn nieder: el hombre se detiene/ y se pone a llorar sobre la tierra. In der Gegenwärtigkeit der Erinnerung an seine Jugend erwacht der Schmerz, Umwelt verwandelt sich in Umfeld und Umgebung: Crece la savia/ verde y armaga de la primavera. Der Mensch wird seiner Vergänglichkeit gewahr, doch er richtet sich wieder auf, frei dem Sonnenuntergang zu folgen: Hacia el ocaso va, und er zieht weiter seines Weges, einsam unter den Lebewesen: un pajaro triste/ canta entre las ramas negras. Er nimmt sein Sein an: Ya el hombre apenas llora, und er versetzt sich so in den Stand, danach fragen zu können: Se pregunta por el sabor a muerto de su lengua, und er beginnt auf diese Weise sich selbst zu ergreifen, getreu des schon erwähnten Pindarschen Mottos: Werde, der du bist!

Vorwärts im aufrechten Gang, seinen Schwerpunkt in sich selbst tragend wie seiner Geschichte innewerdend, ist der Alsbergische Mensch in Es un hombre allein unter den Lebewesen frei, nach seinen Grenzen zu streben.

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos
Die Biologie, eine neue philosophische Modellwissenschaft

Das Novum des Denkens, welches Max Scheler seit der Zeit seiner Köllner Vorlesungen von 1922 in der philosophischen Skizze Die Stellung des Menschen im Kosmos kundtun konnte und was ihn zu der Behauptung berechtigte, dass die „Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland“ 1 getreten seien, lag in der Heranziehung einer neuen Modellwissenschaft zum philosophischen Denken: der Biologie. In der Zeit einer Krisis des traditionellen Menschenbildes, innerhalb dessen er entweder als Abbild Gottes oder als selbstverständlicher Träger eines Logos bestimmt worden war, war es ob der neuzeitlichen Wissenschaften (wie der Evolutionstheorie, welche den Menschen als ein wohl komplexeres, gar als den Höhepunkt einer Entwicklung jedoch rein natürlicher Lebensformen auffasste) notwendig geworden, Traditionsstränge neu zu überprüfen. Hinzu kam die Tatsache, dass die verschiedenen Wissenschaften „gewaltige Schätze des Einzelwissens“2 vom Menschen erarbeitet hatten, so dass die Zeit reif schien, für den Menschen „eine neue Form seines Selbstbewusstseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln.“3

Demnach musste sich der Horizont der zentralen philosophischen Fragestellung verschieben – nach der ersten anthropologischen Wende durch Sokrates, jetzt eine zweite – und das Lebendige den paradigmatischen Rahmen dafür darstellen. Der Mensch musste nun als Forschungsgegenstand notwendig in den Fokus der philosophischen Untersuchungen einrücken, war er doch das einzige lebendige Wesen, dessen Innenleben, dessen „Fürsich- und Innesein“4, welches Scheler als „das psychische Urphänomen des Lebens“5 bestimmte, ihm selber einsichtig werden konnte. Konsequenterweise musste sich der Blick auf den Menschen grundsätzlich neu einstellen. Mit theologischen oder metaphysischen Kriterien allein konnte er nicht mehr zureichend beschrieben werden. Es bedurfte zusätzlicher, neuer Konzepte, die den im Aufschwung befindlichen Lebenswissenschaften wie der Biologie Jakob von Uexkülls entnommen werden konnten – wie z.B. der zentrale Begriff der Umwelt6. Damit rückte der Mensch in den Zusammenhang von Tier und Pflanze – seinen Mit-Lebewesen – ein, und es ergab sich zwingend die Frage der modernen Anthropologie nach der Sonderstellung des Menschen in dieser Welt: das Wort „Mensch in der Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern […] soll auch einen Inbegriff von Dingen bezeichnen, den man dem Begriffe des ‚Tieres überhaupt‘ aufs Schärfste entgegensetzt […]“.7

Scheler kontrastiert diesen emphatischen Menschenbegriff, den er den „Wesensbegriff“8 des Menschen nennt, mit einem „natursystematischen Begriff“9 und fragt:

Ob dieser zweite Begriff, der dem Menschen als solchem eine Sonderstellung gibt, die mit jeder anderen Sonderstellung einer lebendigen Spezies unvergleichbar ist, überhaupt zu Recht bestehe – das ist unser Thema.10

Das Verdienst Schelers war es also, als erster grundlegend neue Konzepte für diese neue Situation in das philosophische Denken eingeführt und die Fundamente dieses modernen Zweiges der Philosophie gelegt zu haben.

Die Fragen, welche Konsequenzen sich aus dieser anthropologischen Wende des Denkens für Ästhetik und Poetik ergeben, sollen hier behandelt werden.

Der Gefühlsdrang und die Leiter des Lebendigen

Schnell beginnt Scheler in der Kosmosschrift mit der Rekonstruktion der lebendigen Welt, auf deren Stufenleiter er den Menschen an oberster Stelle einordnen wird. Die Grenze des Psychischen fällt für ihn mit der Grenze des Lebendigen zusammen1, und er bestimmt für diese neben anderen als dessen wesentliches Merkmal ein „Fürsich- und Innensein“2.

Es ist die psychische Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt – das psychische Urphänomen des Lebens.3

Dessen unterste Stufe bilde der „bewusstlose, empfindungs- und vorstellungslose ‚Gefühlsdrang‘.“4

Mit dem Kompositum Gefühlsdrang kennzeichnet Scheler im „Gefühl“5 das oben genannte Urphänomen des Lebens, jenes Fürsich- und Innensein, und begründet damit ein erstes Sich-gegeben-Sein des Lebendigen. Zugleich verweist jenes Fürsich- und Innensein auf ein Außen und stiftet im selben Atemzug das Gegenüber des Lebewesens seine Welt oder besser seine ihm zughörige Umwelt. Mit dem Rückgriff auf das Wort „Drang“ – in seiner Bestimmung aus dem 18. Jahrhundert als „innerer Trieb, geistiges Streben, Impuls“6 – verweist er auf einen makrokosmischen Vorgang, welcher sich als solcher eben auch im Lebendigen abbildet und abbilden müsse. Denn die Wesensstufen des Lebendigen befinden sich für den Metaphysiker Scheler eingebettet in ein Weltgeschehen, innerhalb dessen er dem Menschen als Summe des Lebendigen und des Geistes seine ihm spezifische Rolle zuweist. So fragt Scheler, nachdem er die Leiter des Lebendigen bis zum Menschen erklommen hat:

Ist das nicht, als gäbe es eine Stufenleiter, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner inne zu werden – um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen?7

Damit reserviert Scheler dem Menschen ein „ausgezeichnetes Verhältnis, das der Mensch als solcher zum Weltgrund besäße.“8 Dies ist durchaus als eine kritische Replik auf das Menschbild des homo faber aufzufassen. Er distanziert sich damit auch von einem Menschenbild, welches sich in mechanistischen Metaphern von Stoß und Zug erklärt, und zu deren Urvätern auch Descartes oder Kant gehören. Zugleich jedoch verschließt er sich einem Panpsychismus, da er die unbelebte Materie aus dieser Konzeption des Lebendigen verdammt.

Schelers metaphysische Weltkonzeption weist dem Menschen eine tragende Rolle zu. Denn dieser ist als Leben und Geist vereinendes Wesen mit seinem Zentrum der Person aktiver Träger der makrokosmischen Entwicklung, welche sich weder pantheistisch noch panentheistisch als creatio continua9 der Ens a se geschichtlich realisiert. Es ist der allseits bekannte Gedanke eines teleoklinen Weltgeschehens mit dem Menschen als Erfüllungsfigur. Die spezifische Konstruktion dieses Bildes verdankt sich dem metaphysischen Hintergrund, denn das „Sein der Substanz ist ewig; aber das Dasein Gottes als der Identität des Geistes und der Idee ist nur ein Werden“10. Ein Werden, welches durch den Menschen in der Rolle des Ausführenden eines göttlichen Willens – der sich im Geiste manifestiert – ausdrückt:

Der Substanzielle Weltgrund hat zwei Attribute: den Geist und das Leben. (Der Geist realisiert sich in forma von Person; das Leben in Form von Organismen). Sein «Werden» besteht in Vergeistigung des Lebens (Bewegung von oben nach unten) und Verlebendigung (Realisierung) des Geistes (Bewegung von unten nach oben). Der Wille Gottes ist nur das «non non fiat» – nicht das fiat. Darum ist 1. die geistige Gottheit nicht verantwortlich für die Welt. Denn ihre «Macht» war nur negativ; 2. ist das «aus Nichts» vermieden; denn der schöpferische Drang schafft das, was er schafft, aus sich selbst. Der Drang als das realisierende Prinzip ist an sich jenseits von Gut und Böse; gut-schlecht.11

Die Mechanik des „non fiat“ (hemmen) und des „non non fiat“ (enthemmen) findet sich in der Kosmosschrift als „Lenkung“ des metaphysischen Geschehens mittels des Geistes beschrieben12 und besteht in dem vom Geist und dessen Ideen geleiteten Willen, welcher sich den unerwünschten Triebregungen und Vorstellungen versagt und ideen- und wertangemessene Vorstellungen dem Trieb zur Realisierung vorsetzt. Der Geist realisiere sich in der vom Drang geschaffenen Welt und verlebendige sich, während auf der anderen Seite der an sich machtlose Geist die Energien aus dem Drang erhielte. Scheler schließt sich mit dieser metaphysischen Mechanik den Ideen Nicolai Hartmanns an, der „die höheren Seins- und Wertkategorien“ von Hause aus für die schwächeren erkläre13, und kehrt die traditionelle philosophische Anschauung zur Macht und Ohnmacht des Geistes um. Denn die aristotelische Tradition meinte im nous poietikos14 ein machtvolles metaphysisches Agens ausmachen zu können.

Die Verwirklichung des göttlichen Wesens selbst ist ohne das Mitwerden der Welt nicht möglich. Indem der [209] Drang – drängte, seinen unendlichen Reichtum an Richtungen in Phantasiebildern zu entladen, wäre doch ohne den Geist nur ein bestandloses Chaos entstanden. Er musste sich Ideen des Geistes und seinen Werten unterwerfen, die der Geist aus seinen unendlichen Möglichkeiten also auswählte, das ein bestandfähiges, ja ein sich Vervollkommnendes zustande kam. Auch die anorganische Welt enthält weder quantitative noch qualitative absolute Konstanten. Sie gleichen dem Chaos umso mehr, je älter die Stufe ist, auf der wir sie betrachten. Die Natur ist an zufälligem Sosein nur das Phantasiespiel der Gottheit als Drang – geleitet durch den Eros, der zu Gestalt und zu Schönheit richtet.15

Das göttliche Wesen realisiere sich in der Welt mittels des Geistes, dessen Träger, der Mensch, an den Ausführungen jenes Prozesses selbst direkt beteiligt sei. Dies sichere ihm eine Sonderstellung im geschichtlichen Werden der Welt zu, und diese Sonderstellung sei das Resultat der direkten Rückbindung des Menschen an einen „Weltgrund“16, – womit sich seine privilegierte Stellung unter den Lebewesen bestätigte. Es handelt sich bei der Schelerschen Konzeption um eine ausgearbeitete „Metaphysik des Menschen“17.

Ausdruck, Empfindung, Wirklichkeit und Wahrnehmung

Ausdruck besteht bei Scheler in einer Regung, in einer allgemeinen Veränderung und letztlich in einer Bewegung, durch die sich etwas ausdrücklich zu werden anschickt und bemerkbar macht. Aus dem Gesamt der Eindrücke beginnen einzelne sich herauszulösen. Dabei muss deren Ausdrücklichkeit sich noch nicht wirklich im einzelnen kundtun, sondern kann von der Empfindung vorher schon angemahnt worden sein. Der Ausdruck gehe jedoch der Empfindung voraus, denn der Ausdruck sei ein „Urphänomen des Lebens“1 und aufs engste mit dem empfindungs- und vorstellungslosen Gefühlsdrang verbunden – der untersten Stufe des Lebens –, welcher alle seine Formen durchzieht. Schon im pflanzlichen Dasein gebe es ihn, und er drücke „eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm“2, aus.

Der Ausdruck scheint derart grundlegend für das gesamte Leben zu sein, dass es dem Menschen noch heute außerordentlich schwer fällt, die Ausdrucksqualitäten dessen, was er betrachtet, bewusst außen vorzulassen. Der nüchterne wissenschaftliche Blick auf die Naturphänomene ist eine Errungenschaft der Neuzeit, und das Erwachen des menschlichen Bewusstseins kennt in allen Kulturen die Projektion der Innenzustände des Lebewesens Mensch in seine Außenwelt, welche sich durch ihn begeistert und sich mit mythischen Wesen erfüllt zeigt.

Auch die Empfindung wächst bei Scheler aus der Bewegung. Sie ist erlittene Bewegung, und er definiert ihre allgemeinste Idee als „Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegung kraft dieser Rückmeldung.“3

Der Reflexbogen, den Scheler hier beschreibt, äußert sich in der auf die Empfindung folgende Bewegung, wobei in diesem höchst innigen Zusammenhang noch nicht entschieden ist, in wieweit die Bewegung eine geführte oder irgendeine allgemeine, unbestimmte Bewegung ist. Sicher bleibt jedoch, dass sie eine Folge der erlittenen Bewegung, also Empfindung, ist und sich als ein Tun des Lebewesens äußert. Dieses Tun wird alsdann wiederum empfunden. So schließt und öffnet sich zugleich ein Kreis der anlandenden Empfindung; einerlei, ob durch das Tun des Lebewesens selbst provoziert oder willkürlich erlitten. In seiner Konsequenz jedoch eröffnet sich dem Lebewesen ein Raum, ein Dazwischen, ein freier Raum, zwischen sich und Welt, eine kleinste Fraktur, welche es von der Welt scheidet und dieser gegenüberstellt. Empfindung ist in diesem Sinne eine Zustandsempfindung der Selbstbewegung. So verschieden Empfindung und Bewegung scheinen, erwachsen sie gleichursprünglich mit dem Leben.

Alle Kunst jedoch entsteht aus geführter Bewegung, aus tätigem Empfinden, einer sozusagen zweiten oder dritten Potenz der Empfindungsmöglichkeiten. Die Voraussetzung dafür finden wir mit Scheler bereits auf der untersten Stufe des Lebens, dem Gefühlsdrang. Selbst die einfachsten Empfindungen, seien nämlich „nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit.“4

Sie seien Ausdruck des Gefühlsdrangs, welcher über die Vermittlung seines Drängens auf Widerstand treffe. Dieses Widerstandserlebnis bestimmt Scheler als den Ursprung der Erfahrung von Wirklichkeit:

Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles Habens von «Realität», von «Wirklichkeit» ist, insbesondere auch der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorangängigen Eindrucks der Wirklichkeit.5

Produktiver Antrieb für die Möglichkeit von Vorstellungen im Innenleben des Lebewesens sei die „triebhafte Aufmerksamkeit“6. Sie sei gleichsam verantwortlich für die Schaffung der Anlage der vorstellenden Funktionen aus dem auf diese Weise aus der Widerständigkeit der Welt geschöpften Eindruck.

Die Realität ist in ihrer subjektiven Gegebenheit eine Erfahrung des ungeistigen, triebhaften Prinzips in uns: eine Erfahrung des einheitlichen, wie immer sich spezialisierenden Lebensdranges in uns. Und Realität ist als etwas Objektives und unserem Erfahren Transzendentes notwendig Gesetzheit durch das ursprünglich geistblinde dynamische Prinzip des Dranges – des anderen uns noch erkennbaren Prinzips des Urgrundes selbst.7

Was sich im Mikrokosmos Mensch abspielt, findet seine Parallele im Makrokosmos und vervollständigt so die metaphysische Konzeption des Schelerschen Welt- und Menschenbildes. Der schöpferische Drang als metaphysisches Prinzip und als Prinzip des Lebendigen erschaffe Realität. Dem Geist, dem zweiten Attribut des Urgrundes, fällt dann die Rolle zu, dem darunter sich befindenden Chaos seine ordnenden und zur Vergöttlichung der Welt führenden Werte anzubieten. Für die Erkenntnis bedeutet dies, dass Realsein kein Gegenstandssein ist, in welchem sich gleich ein wie auch immer geartetes Sosein der Dinge ausdrückt, sondern zuerst ein „vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dasselbe ist.“8

Desgleichen heißt dies, dass dieses Widerstandserlebnis eine Erfahrung des aktiven Selbst ist und mit den peripheren Sinneserlebnissen nicht verwechselt werden darf, denn „nicht Empfindungen widerstehen, sondern die Dinge selbst.“9 Die Betonung der Aktivität eines Selbst bei der Erfahrung der Realität überhaupt, lässt es als plausibel erscheinen, dass das Lebewesen Mensch, die Realität zuerst als Leibsein begreift, da für es gilt:

Das Realsein in der Sphäre «Leibsein» und in der Struktur des Urphänomens «Lebendigsein» ist dem Realsein in der Sphäre «Totsein» (= Mangel an Lebendigsein) so vorgegeben, dass primär und ceteris paribus alles in der Sphäre «Außenwelt» überhaupt Gegebene als leibhaft und lebendig gegeben ist – und dies solange als nicht spezifische ent-täuschende positive Erfahrungsinhalte einiges außenweltliche Sosein als nicht-leibhaft und -lebendig, sondern als körperhaft und tot (= ohne ein Für-sich-Sein und Innensein Seiendes) zu besonderem Aufweis bringen.10

Wenn dem Lebewesen Mensch die Welt zuerst all das ist, was es als lebendiges Wesen selbst ist, so entziffert sich ihm die Welt über das Rissig-Werden dieser vorerst natürlichen Haltung. Eine wesentliche Unterscheidung dabei ist die Erkenntnis eines Anderen des Lebens, des Unbelebten, des Toten oder nur Gegenständlichen. Dieser Vorgang illustriert, was man die Tendenz des Wahrnehmens nennen könnte:

Wahrnehmung – das ist ursprünglich nur der Begriff einer Richtung: der Richtung einer mehr negativ-kritischen als einer positiven Tätigkeit; nämlich Kritik und der Negation der ‚Tradition‘ kraft vergegenständlichender Erinnerung, der Kritik und Negation ferner der Fikta der Trieb- und Wunschphantasie auf Grund von Erfolg und Misserfolg des praktischen Verhaltens gegenüber den ‚zunächst‘ mit Wahrnehmungscharakter und Ding- und Bildcharakter gegebenen «fiktiven» Gegenständen. Ein Ende und ein Ziel also ist die Wahrnehmung – wahrlich nirgends der Anfang seelisch-geistiger Entwicklung.11

Instinkt und Rhythmus, die schöpferische Dissoziation, Intelligenz und Wahl

Der dissoziierende Vorgang bei der Entfaltung des Geschehens Wahrnehmung findet sich analog in der Abfolge der seelischen Wesensformen des Lebendigen wieder. War der „Gefühlsdrang“ noch weitgehend einheitlich und undifferenziert – das pflanzliche Leben ist fest mit dem Boden verwurzelt, ernährt sich aus dessen chemischer Analyse und differenziert grob wie zum Beispiel zwischen Licht und Dunkel –, so kennzeichnet Scheler die nächste Stufe des Lebendigen durch den Instinkt und bestimmt ihn als eine art-dienliche Zeitfigur1. Eine Erweiterung der Fähigkeiten des Lebendigen, derer die Pflanze in ihrer Verwurzeltheit nicht bedarf, da die Seinsveränderung des lebendigen Wesens im Hinblick auf den Ort durch Selbstbewegung ein Privileg der tierischen Lebensform ist.

In diesem Sinne nennen wir „instinktiv“ ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muss erstens sinnmäßig sein, d.h. so sein, dass es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger […] teleoklin ist. Und es muss zweitens nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen.2

Das Wort „sinngemäß“ im Zusammenhang mit dem Instinktiven verwundert, ist aber der Idee eines teleoklinen Ablaufs geschuldet, dem Zweck der Überlebenssicherung des Individuums durch von der Spezies aufgebaute und bereit gestellte komplexe Verhaltensweisen. An dieser Stelle erscheint zum ersten Mal die Bewegung als Ortsveränderung in den Formen von einem Zu-hin und Von-weg, von Angriff und Flucht, Attraktion und Repulsion. Der gewachsene Aktionskreis des tierischen Lebewesens spiegele sich in seiner Struktur als komplexerer Aufbau wider. Er bedinge ebensolche komplexere Abläufe im Lebewesen selbst. Zum ersten Mal in der Stufenabfolge des Lebendigen erscheint eine Gesamtheit von Tätigkeiten, welche Scheler in die Formulierung eines „festen, unveränderlichen Rhythmus“3 packt. Da es sich um eine mehrgliedrige Tätigkeit handelt, fügt er hinzu:

Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung – nach dem Prinzip, das Jennings das von „Versuch und Irrtum“ genannt hat – erworbenen, gleichfalls sinnvollen Bewegungen nicht.4

Scheler unterscheidet sie als angeborene und erbliche von den erworbenen Bewegungen. Der Instinkt sei in die Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert5 und im engsten Zusammenhang mit ihrer physiologischen Struktur tätig. Als ererbt bedinge er das, was ein Tier vorstellen, erinnern und empfinden könne. Der Instinkt umschließe alle diese Tätigkeiten des Tieres. Er sei in seiner arttypischen Anordnung wie eine Melodie6, welche wohl geübt und präzisiert werden könne, aber keine strukturelle Abwandlung erlaubte, ohne dass diese zu ihrer Desintegration führe. Zudem sei er zum einen unabhängig vom Individuum der Art und somit Allgemeingut, zum anderen unabhängig von der Anzahl der Versuche. Der Instinkt sei als Vermögen der Art eine von Beginn an vollständige, teleokline Figur, welche in ihrer Struktur immer gleich abläuft. Insofern gehört seine besondere Ausprägung zur Kennzeichnung der Art, welche in ihrer Umwelt mittels seiner agieren kann.

Der Instinkt ist die spezifische Figur eines Tuns und in seiner Mehrgliedrigkeit eine Rhythmusgestalt, welche als ein Urphänomen der Zeitgestaltung begriffen werden kann. Damit wäre der Instinkt ein erstes innerlich gegliedertes und gestaltetes Zeitfragment eines Lebewesens, ein festgelegter Rhythmus, ein erstes inneres Zeitmaß, eine erste innerliche Uhr des handelnden Lebens selbst. Als solcher zeugt er aber auch von der innigen Verbindung eines Lebewesens mit seiner Umwelt, und im Weiteren mit den makrokosmischen Vorgängen, welche die Wechsel in der Umwelt eines Lebewesens mitbedingen. Tatsächlich jedoch ist er Teil eines Gesamtvorgangs in der Natur und somit ein Bruchstück, welches als solches nicht selbst abstrahiert und als Zeitmesser verwendet werden könnte, aber als in einem Lebewesen angelegter Vorgang bestätigt er dessen Vermögen zu gegliederter und gestalteter Zeit.

So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sog. «Trieb»handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, dass sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z.B. die Sucht nach Rauschgift).7

Treten wir aus der Instinktschicht heraus und erklimmen die nächsthöhere Stufe des Lebendigen, so stoßen wir auf „jene Fähigkeit […] die wir als ‚assoziatives Gedächtnisʻ (Mneme) bezeichnen.“8 Doch bevor Teile assoziativ neu angeordnet werden können, bedürfe es eines aus dem „biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen“9 austreibenden Mechanismus der Dissoziation, welchen Scheler in der Großhirnrinde lokalisiert. Relative Einzelempfindungen und Einzelvorstellungen sowie einzelne Triebe treten aus dem im Instinkt noch gebundenen komplexen Verband der Regungen heraus. Es handelt sich um den Vorgang der „schöpferischen Dissoziation“10. Der Instinkt trete zurück, die Spuren, welche die Umwelt im Lebewesen hinterlässt, vertieften sich, würden plastischer und könnten, ja müssten neu geordnet werden. Dies geschehe durch das „gewohnheitsmäßige“11, Grundlage des assoziativen Gedächtnisses, welches sich über Probierbewegungen lebensdienliche Strategien aufbaue. Die Probierbewegungen führt Scheler auf einen „Wiederholungstrieb“12 zurück, so wie er die Gesetze der Assoziation auf die des Pawlowschen „«bedingten Reflexes»“13 zurückführt, deren psychische Seite sie darstellten. Die Assoziationsgesetze von „«Berührung und Ähnlichkeit»“14 konfigurieren oder rekonfigurieren die aus einem zerfallenen Gesamtkomplex von Vorstellungen einzelnen Teile. Wie schon vorher bei den Empfindungen gibt es auch hier für Scheler keine reinen Assoziationen, sondern die diese determinierenden Kräfte von Trieben, Bedürfnissen oder auch der Dressur15. Und wiederum bemüht er eine historische Parallele, indem er das assoziative Gedächtnis der Mythenkritik als ein Spätphänomen der Menschheitsentwicklung hinzufügt.

Die Prinzipien von Berührung und Ähnlichkeit können also neben innerseelischen Vorgängen auch soziale Beziehungen regulieren. Dann nämlich, wenn aufgrund des Ausdrucksvermögens des Lebendigen, der Artgenossen, sowie der damit verbunden Signale, „«Nachahmung» und «Kopieren»“16 stattfinden kann. Es handelt sich hier erneut um den Wiederholungstrieb der Lebewesen, diesmal jedoch angewandt auf Fremdverhalten und -erleben, auf dem der Vorgang beruht. An dieser Stelle erscheint nun erstmalig die Tradition.

Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der «Tradition», die zu der biologischen «Vererbung» eine ganz neue Dimension der, Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt […].17

Diese müsse jedoch aufs Schärfste von der willkürlichen Erinnerung (Anamnesis) aufgrund von Überlieferung getrennt werden. Außerdem bleibt Scheler dabei, dass die Entwicklung des Menschen grundsätzlich auf „einem zunehmenden Abbau der Tradition“18 beruht.

In den Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit erkennt man unschwer die Figuren der Metonymie und der Metapher, sei es als rhetorische, stilistische oder strukturalistische oder als philosophisch-erkenntnistheoretische Figur wie bei Aristoteles19 bis hin zu Karl Eibl20 und Blumenberg21. In Kopie und Nachahmung als Mimesis erkennt man weitere für die Ästhetik grundlegende Prinzipien des Intrapsychischen wie Interpsychischen.

Durch die zunehmenden dissoziativen Vorgänge bei der Entwicklung und dem Erklimmen der Stufenleiter des Lebendigen lösen sich die assoziativen Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit kompensatorisch heraus. Sie bilden auch unter äußeren Zwängen und innerem Drängen die Bedingung der Möglichkeit für Re- und Neukonfigurationen von Empfindungen, Vorstellungen, Trieben und Bedürfnissen. Berührung und Ähnlichkeit rühren aus dem Gesamtkomplex der instinktiven Verhaltensweisen und sind als das Angrenzend-Dazugehörige: Berührung und das Sich-überschneidend-Dazugehörige: Ähnlichkeit, bestimmbar. Ihre propädeutische erkenntnistheoretische Natur lässt sich vor allem in ihrer das Sein zwar gliedernde, nicht jedoch durch eine ausschließende Funktionen ordnende erkennen. Berührung und Ähnlichkeit kennen kein tertium non datur. Mit dem Dazugehörigen-im-Angrenzenden und dem Dazugehörigen-im-sich-Überschneidenden (in z.B. Gestalt, Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, Fühlen oder Größe, Aufenthaltsort, Menge etc.) ist zwar eine Gliederung als innere Grenze, jedoch kein kategorisch ausgrenzendes Kriterium gegeben. Es gibt noch keinen Horos, kein Definiens, das hier Platz greifen könnte. Es ist die Phylé des Lebendigen selbst, welche in dialektischer Bewegung auf jeder neuen Stufe immer komplexere Differenzierungen und somit immer weitere physische wie psychische Verhaltens- und Repräsentationsweisen der Lebewesen hervortreibt.

Mit dem Erstarken des assoziativen Prinzips geht der Zerfall des Instinktes einher. Ist der Instinkt ein Charakteristikum der Art, so beginne mit den assoziativen Vorgängen die relative „Herauslösung“22 des Individuums aus der Erstarrung des Instinktes. Gleiches gelte für „Triebe, Gefühle, Affekte“23. Löst sich z.B. der Sexualtrieb aus seiner natürlichen Umklammerung und folgt nicht mehr dem Rhythmus des Lebens, kann er sich zu einer selbstständigen „Quelle der Lust“24 und zu einem Zweck wandeln. Konterkariert wird die Befreiung des Seelischen mit dem, was Scheler, „organisch gebundene praktische Intelligenz“25 nennt, die „vierte Wesensform des psychischen Lebens.“26 Mit ihr erscheint die „organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung“27. Organisch, da alle diese inneren und äußeren Verhaltensweisen im Dienste der Trieberfüllung oder der „Bedürfnisstillung“28 stehen. Intelligentes Verhalten definiert Scheler zunächst „ohne Hinblick auf psychische Vorgänge“ wie folgt:

Ein Lebewesen verhält sich «intelligent», wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes – sei es «kluges», sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, d.h. «törichtes» («töricht» kann nur sein, wer intelligent ist) – Verhalten neuen weder art- noch indivdualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhafte Aufgabe zu lösen.29

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9783823302018
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