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Sie stellte den Keramikbehälter mit den Schwarzbrotscheiben in die Mitte des kleinen Tisches. Dann hob sie den Deckel von der Suppenschüssel, griff zur Schöpfkelle und füllte ihm den Teller.

»Danke, Oma.« Er wartete, bis sie sich selbst eingeschenkt hatte, dann begann er zu essen. Köstlich. Zugleich mit dem hervorragenden Geschmack breitete sich eine wohltuende Wärme in ihm aus. Das vertraute Gefühl seiner Kindheit stieg in ihm hoch. Erneut tauchte er den Löffel in die Suppe.

Offenbar hatte die Großmutter dieses Mal Süßkartoffeln zu den üblichen Erdäpfeln hinzugefügt. Neben Karotten, Sellerie, Lauch und Brokkoli. Und dieses Gewürz, dessen Geschmack ein wenig hervorstach? Er blickte sie an.

»Thymian?«

Sie lächelte. »Ausgezeichnet, Herr Kommissar. Aus den vielen Fährten hast du sofort die richtige Spur herausgefiltert. Ein wenig Petersilie und Majoran, und eine gute Prise Thymian. Auch wenn der Winter heuer streng war, habe ich meinen Thymian bestens über die kalte Jahreszeit gebracht. Du weißt, Martin, ein wenig Fichtenreisig und das passende Stroh, und schon kann der Frost wenig ausrichten.«

Er wusste genau, wovon sie sprach. Er hatte schon als Kind von ihr die richtigen Handgriffe und passenden Tricks gelernt. Der Garten mit den Blumen, den Sträuchern und dem Zauberreich der Gewürze war immer schon eine ihrer großen Leidenschaften gewesen. Seine eher nicht. Er hatte sich zwar unter Großmutters Anleitung redlich bemüht, aber die große Begeisterung war nie in ihm aufgekommen. Aber immerhin. Den Thymian hatte er herausgeschmeckt. Sie lächelte ihn erneut an. Und wieder einmal wurde ihm bis tief in sein Innerstes bewusst, wie sehr er diese kleine weißhaarige Frau liebte. Sie war und blieb der wichtigste Mensch in seinem Leben.

Martin Merana war bei seiner Großmutter aufgewachsen. Er war neun Jahre alt, als seine Mutter unter tragischen Umständen starb. Hier im Haus der Großmutter war er herangereift, groß geworden. Erst nach der Matura war er ausgezogen, um in der Stadt Salzburg zu studieren. Das Studium hatte er nicht beendet. Die Gelegenheit, in den Exekutivdienst zu treten und Kriminalpolizist in Salzburg zu werden, war ihm dazwischengekommen. Seine Arbeit war inzwischen sehr aufwendig. Als Kripochef war er mit den vielfältigsten Aufgaben eingedeckt. Freie Zeit blieb ihm wenig. Aber wann immer er es sich irgendwie einrichten konnte, hielt er Kontakt zu seiner Großmutter. Gelegentlich besuchte er sie sogar in seiner ehemaligen Heimatgemeinde im Oberpinzgau. So auch dieses Mal. Er war gestern, am Gründonnerstag, angekommen. Er hatte Urlaub bis Dienstag nach Ostern. Bis zum frühen Ostermontag wollte er die Zeit zusammen mit der Großmutter verbringen. Ursprünglich hatte er geplant, zusammen mit Jennifer ein paar Tage ins Friaul zu reisen. Doch der unvorhergesehene, aber wichtige Besuch eines Geschäftspartners aus Asien brachte Jennifers Pläne durcheinander. Und so musste sie die Ostertage für eine Reihe von Meetings zu Hause in Hamburg verbringen.

»Und wie deiner feinen Zunge sicherlich aufgefallen ist, Martin, habe ich dieses Mal Knollenwinden dazugegeben. Die habe ich zwar nicht im Garten. Aber der Haspinger hat sie mir empfohlen.« Der Haspinger war der Leiter des kleinen Gemischtwarenladens, der sich im Dorf gehalten hatte, trotz der Konkurrenz durch zahlreiche Großmärkte in der näheren Umgebung. Knollenwinde war ein anderer Name für Süßkartoffel. Da hatte Merana also richtig getippt.

»Und wie du weißt, Martin, gebe ich manchmal Speck in die Gemüsesuppe. Aber natürlich nicht heute.«

Natürlich nicht. Heute war Karfreitag. Da aß man kein Fleisch. Die Großmutter konnte mit vielen Vorschriften der katholischen Kirche eher wenig anfangen. Das wusste er. Von der Ehelosigkeit der Priester und der amtskirchlichen immer noch kuriosen Haltung zur Stellung der Frau hielt sie so gut wie gar nichts. Aber manches aus der christlichen Lehre passte gut zu ihrem Verständnis von Gemeinschaft. Und es harmonierte mit ihrer eigenen Sicht auf die lebensbestärkenden Seiten des Daseins. Deshalb fand sie die Empfehlungen für die Fastenzeit sinnvoll. »Das kannst du in allen Kulturen finden, Martin, nicht nur in der christlich-abendländischen«, hatte sie ihm schon als Kind beigebracht. »Dadurch nehmen wir uns besser aus der Hektik des Alltags zurück. Unerwartete Freiräume tun sich auf, in denen wir uns selbst näherkommen können. Wir reduzieren dabei vieles, nicht nur das Essen.«

Aber das auch. Und so hielt sie sich eben auch an die traditionelle Praxis während der Karwoche. Noch ein wenig mehr fasten. Und kein Fleisch am Karfreitag. Wenig essen am Karfreitag und am Karsamstag, das hatte ihm schon als Kind nie etwas ausgemacht, ihm sogar gutgetan. Er hatte sich dadurch sogar noch mehr auf die Osternacht gefreut. Die kirchliche Osternachtsfeier hatte oft stundenlang gedauert, wie er sich heute noch erinnern konnte. Ihm hatte sie dennoch gefallen.

Anfangs war das Gotteshaus verdunkelt. Es kam zum Einzug.

Lumen Christi! Wie eine helle, nahezu antike Säule hatte der Pfarrer die große Osterkerze vorangetragen. Er selbst hatte immer kräftig mitgesungen. Deo gratias!

Und wie viele andere hatte auch er einen Korb getragen. In dem befanden sich die Speisen. Ostereier, Schinken, Butter, ein von der Großmutter gebackenes Brot in Form eines Osterlamms. Dazu Butter, Salz und frische Kräuter. Und diese Köstlichkeiten wurden noch in der Osternacht feierlich geweiht und am Ostersonntag zum Frühstück verspeist.

»Darf ich dir noch ein wenig Suppe geben, Martin? Es bleibt genug Zeit, bis Salzburg heute beginnt.« Er nahm dankend an. Salzburg heute war die regionale TV-Nachrichtensendung. Er war am frühen Nachmittag mit der Großmutter auf dem Platz zwischen Kirche und Pfarrhof gewesen. Die Ministranten hatten dort ihre selbst produzierten Karfreitagsratschen präsentiert. Auch er hatte sich in seiner Kindheit an diesem weit verbreiteten Brauch beteiligt. Und das mit Begeisterung. Ab dem Abendgottesdienst des Gründonnerstags bis zum Gloria der Osternacht schwiegen die Glocken. Also brauchte es für diesen Zeitraum entsprechenden Ersatz. Und das waren eben die Ratschen, mancherorts auch Kleppern genannt. Meist funktionierte dieser Lärmbrauch so, dass in den speziellen Geräten kleine Hämmer auf Holzbretter schlugen und dadurch ein klapperndes Geräusch erzeugten. Die Ratschen, die er aus seiner Kindheit kannte, waren seiner Meinung nach sogar um eine Spur raffinierter. Da wurde der Lärm mithilfe einer Kurbel ausgelöst. Diese Drehvorrichtung hob die Holzleisten an und ließ sie augenblicklich zurückschnellen. Das verursachte genügend Wirbel. Auch die heute im Pfarrgelände präsentierten Ratschen funktionierten nach der Kurbelmethode. Ein TV-Team war anwesend und hielt die lärmende Präsentation der stolzen Ministrantentruppe mit der Kamera fest. Und davon würde in der gleich folgenden Nachrichtensendung ein Beitrag zu sehen sein. Er blickte kurz zur Uhr an der Wand, deren altertümliches Ziffernblatt von einem Bogen aus dunklem Holz umschlossen war. Ja, es blieben noch gut 20 Minuten, ehe die Sendung anfing. Sie hatten genug Zeit. Also gestattete er sich ein weiteres Stück Bauernbrot und widmete sich wieder der Suppe.

Dann war es so weit. Sie verließen den Essbereich der Küche und wechselten hinüber in die kleine Stube. Die Großmutter reichte Martin die Fernbedienung, er schaltete ein. Das TV-Gerät stand auf einer kleinen Kommode. Ein moderner Flatscreen. Der Bildschirm war zwar nicht sehr groß, aber von bester Ausführung. LED, Dolby, hervorragende Farbqualität und manches mehr.

»Warum soll ich weiter in das alte Röhrenkastl schauen, wenn ich hier so wunderbare Bilder bekomme?«, hatte die Großmutter schon vor vielen Jahren argumentiert, als sie sich den ersten Flachbildschirm anschaffte.

Der Beitrag über die Ratschenbuben war gleich der erste in der Sendung, gestaltet als Aufmacher. Merana schaute aufmerksam zu. Ihn interessierte immer, welches Ergebnis schlussendlich aus den zahlreichen Bild- und Worteinstellungen bei den doch sehr langen Aufnahmen hervorkam. Die Kamera schwenkte vom Kirchturm herunter zum Platz. So begann der Beitrag. Der Lärm der Ratschen war dabei von Beginn an zu hören. Allmählich kamen die Ministranten ins Bild. In der nächsten Einstellung auch ein Teil der Zuschauer. Die Großmutter stieß ein glucksendes Lachen aus, als sie sich selbst entdeckte, an der Seite ihres Enkelsohnes. Man zeigte das Gesicht der alten Frau sogar in Großaufnahme. Zwei der Ministranten erklärten das Innenleben ihrer Lärmwerkzeuge, schwärmten davon, wie sie die Ratschen gebaut hatten. Es kam auch ein Experte ins Bild. Er erklärte die besondere Stellung der Ratschen im Umfeld des Brauchtums. Mit einem letzten Schwenk von der Ratschengruppe zurück zur immer noch schweigenden Glockenstube am Kirchturm war der Beitrag zu Ende.

»Lass uns auch noch die anderen Beiträge anschauen, Martin.« Er hatte nichts dagegen. Es folgte ein Kulturbericht, ein Porträt der Mezzosopranistin Mati Tamm. Sie sang bei den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen die Kundry. Merana würde sie bald live erleben. Denn er hatte eine Karte für den Ostermontag ergattert. Er freute sich schon lange auf diese Aufführung. Er kannte zwar Richard Wagners Parsifal von einer CD-Gesamtaufnahme, aber er hatte die Oper noch nie live auf der Bühne gesehen. Nach dem Porträt folgte ein längeres Interview mit dem Landeshauptmann-Stellvertreter. Es ging um mögliche Unterstützungen des Landes für bestimmte Wirtschaftsprojekte. Dann wurde ein Bericht vom Salzburger Kapuzinerberg präsentiert. Es ging dabei um ein verendetes Stück Gamswild. Dabei kam mehrmals der Salzburger Stadtförster ins Bild. Es sei noch zu früh, erklärte der Förster, die näheren Umstände zu kennen, die zum Ableben der Gämse geführt hätten. Dazu brauche es weitere Untersuchungen. Aber man werde die Öffentlichkeit selbstverständlich auf dem Laufenden halten. »Und natürlich auch die Zuseherinnen und Zuseher von Salzburg heute«, wie die Moderatorin kurz vor ihrer Verabschiedung anmerkte. Der Meteorologe versprach, dass das heute schon deutlich spürbare Hoch, das sich vom Atlantik in Richtung Mitteleuropa schob, auch in den kommenden Tagen die Wetterlage bestimmen würde. Das freute Merana. Dann konnte er mit der Großmutter einiges unternehmen. Und das bei angenehmen Temperaturen, wie es aussah.

»Ach, Jacky, das tut mir aber sehr leid! Da sind wir wohl zu früh aufgebrochen!«

Der Terrier hob kurz den Kopf. Er lag auf dem rosafarbenen Teppich neben der Standuhr und widmete sich genüsslich seinem Bio-Geflügelchip. Normalerweise ließ er sich beim Verzehr seines Lieblingsleckerlis nicht so leicht stören, aber die Stimme seines Frauchens klang bedauernswert kläglich. »Und kein Wort haben die darüber gesagt, dass du die tote Gämse gefunden hast. Weil du so ein aufmerksamer Hund bist.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete missmutig den Fernseher aus. Der Hund äugte nochmals kurz in ihre Richtung. Er hatte jetzt keine Zeit für ihr Gejammere. Schließlich musste das Leckerli verspeist werden. Und gleich darauf das nächste.

»Wenn wir länger geblieben wären, wärst du sicher ins Fernsehen gekommen, mein Liebling. Und ich auch.« Davon hatte sie schon öfter geträumt. Immer wurden alle möglichen Leute auf der Straße angehalten, um ihre Meinung direkt in die Kamera zu sagen. Aber niemals sie. So gern hätte sie einmal ihr Gesicht im Fernsehen gesehen. Einmal wäre es fast dazu gekommen. Da drehte man tatsächlich eine Reportage. Bei einem Kegelabend. Das war fast 15 Jahre her.

Damals hatte Olaf noch gelebt, ihr Ehemann. Er hatte sie jede Woche zum Kegeln geschleppt. Sie hatte ihn dafür gehasst. Es hatte sie nie interessiert. Sie hatte nie verstanden, wie man Spaß daran finden konnte, eine dämliche Kugel über eine Bahn kullern zu lassen, nur damit am Ende der Strecke ein paar Holzfiguren polternd umfielen. Aber die anderen aus dem Bekanntenkreis ihres Mannes hatten das sehr genossen. Es wurde gejubelt und gekreischt. Und viel Alkohol gesoffen. Und dann, eines Abends, tauchte tatsächlich ein Kamerateam auf. Die wollten eine Reportage über die neu eröffneten Bahnen in diesem Kegellokal drehen. Sie machten Interviews. Auch mit ihr. Sie wusste heute nicht mehr, was sie gesagt hatte. Aber an ihre Freude damals konnte sie sich noch gut erinnern. Und was war dann? Am Abend? Keine Spur von ihr. Als sei sie gar nicht da gewesen! Jedes läppische Detail aus dem Lokal wurde gezeigt. Und viele der Gäste. Wie sie Kugeln schoben, Kegel trafen und jubelten. Aber sie nicht! Sie war kein einziges Mal im Bild.

Aber heute hätte sie wieder die Chance bekommen, vor die Kamera zu treten. Immerhin war es ihr Hund, der die tote Gämse gefunden hatte. Sie hatte ja nicht wissen können, dass tatsächlich ein Fernsehteam auf dem Kapuzinerberg auftauchen würde. Sie war natürlich früher abgehauen, weil sie dem Stadtförster nicht begegnen wollte. Schließlich hatte sie ihren Jacky ja ohne Leine herumlaufen lassen. Das war im gesamten Stadtgebiet verboten. Und auch auf dem Kapuzinerberg war es nicht erlaubt. Vom Besudeln des Mozartmonuments durch den Urin ihres Hundes einmal ganz abgesehen.

»Aber wenn ich gewusst hätte, dass wir ins Fernsehen kommen, Jacky, dann hätte ich gerne eine Strafe in Kauf genommen. Die paar Euro hätte ich locker hingestreckt. Alle hätten uns zugeschaut.«

Sicher auch die Kroninger Lore. Mit der pensionierten Lehrerin traf sie sich manchmal im Café. Beim nächsten Treffen wäre sie garantiert wohl vor Neid geplatzt, die Lore. Sie vernahm ein Winseln. Jacky hockte auf dem Boden neben ihr und blickte sie treuherzig an. Sie wusste genau, was er jetzt dachte. Bring mir bitte noch einen Bio-Chip. Sie erhob sich, machte sich auf den Weg in die Küche, um das Leckerli zu holen. Das Leben war manchmal schon verdammt hart. Besonders zu ihr.

Er spürte etwas Feuchtes. Direkt auf seinem Knie. Verdammt. Er hielt immer noch die geöffnete Dose in der Hand. Schnell riss er den Arm herum. Was dazu führte, dass die Dose erneut überschäumte und weitere Flüssigkeit ihn befleckte.

»Idiot!«, schalt er sich selbst und schaffte es schließlich, die Dose auf dem Tisch zu platzieren. Er musste den Energydrink wohl eine Weile geöffnet in der Hand gehalten haben. Seine Gedanken waren abgeschweift. Sie hingen bei dem, was er eben im Salzburg heute-Bericht gesehen hatte. Sie hatten vieles gezeigt. Die tote Gämse, den Stadtförster. Sogar Archivaufnahmen über die Fütterung der Population war eingebaut worden. Alles kam im Beitrag vor. Nur eines nicht. Kein Wort über den seltsamen Fund, den er und der Stadtförster unter dem Gamskörper gemacht hatten.

Warum sagen die darüber nichts?, fragte er sich.

Kein Bild vom Totenschädel. Keine einzige Andeutung. Warum?

Was ist mit diesem Totenkopf?

3

Der Klang kam gleich von mehreren Seiten. Aus unterschiedlichen Richtungen drangen die hallenden Schläge an sein Ohr. Die Glocken riefen die Gläubigen zum Gottesdienst. Otmar Braunberger war kein Kirchgeher, noch nie gewesen. Außer gelegentlich in seiner Kindheit. Aber er mochte den Klang. In der Stadt Salzburg gab es an die 50 Kirchen. Und das auf einer Fläche von gerade einmal 65 Quadratkilometern. Da stieß man nahezu an jeder Ecke auf ein Gotteshaus.

Natürlich wurde man vor allem an Sonntagen der Glockenklänge gewahr.

Und am Ostersonntag ganz besonders. Jetzt mischte sich der Klang weiterer Glocken dazu.

»Das werden wohl die Glocken der Franziskanerkirche sein«, murmelte der Abteilungsinspektor und griff nach der Kaffeetasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. Normalerweise bevorzugte er ja Tee oder teeähnliche Getränke. Besonders hatte es ihm der Geschmack von Rooibos-Tee angetan. Doch ab und zu genehmigte er sich auch einen Kaffee, besonders zu den Feiertagen. Da trank er am liebsten Espresso mit viel Milchschaum. Aber da das Café Tomaselli bewusst auf klassische österreichische Kaffeekultur setzte, bot man hier keinen italienischen Cappuccino an, sondern reichte allenfalls einen Mokka mit Milch und Schlagobers. Einen solchen hatte er sich bestellt, eine »Tomaselli Melange«. Er beugte sich kurz vor, blickte über die Brüstung nach unten. Eine Familie mit zwei Kindern im Trachtengewand eilte über den Platz. Es war 10 Uhr. Die Glocken riefen zum österlichen Hochamt. Im Dom zelebrierte das niemand Geringerer als der Salzburger Erzbischof selbst. Da schien es Braunberger mehr als angebracht, dass alle Glocken des Doms in den Ruf einstimmten, von der kleinsten, der Barbara-Glocke, bis zur wuchtigsten. Die trug den Namen Salvator und wog mehr als 14 Tonnen. Das immerhin war dem Abteilungsinspektor Otmar Braunberger bekannt. Heute war der erste Tag in diesem Frühjahr, wo man getrost im Freien sitzen und sich einen Kaffee servieren lassen konnte. Herrlich. Er hatte noch genug Zeit. Sein Dienst würde erst um 13 Uhr beginnen. An Feiertagen Dienst zu schieben, machte ihm nichts aus. So konnte seine Kollegin Carola Salman sich bequem zusammen mit ihrer Tochter Hedwig ein paar schöne Tage in Wien machen. Und für seinen Freund Martin war es gewiss auch erfreulich, für ein paar Tage in seiner Pinzgauer Heimat zu verweilen, zusammen mit der Großmutter. Helles Geschnatter drang an Braunbergers Ohr. Er blickte wieder nach unten. Eine Gruppe junger Leute flanierte über den Alten Markt, dem Platz zwischen dem Café Tomaselli und dem gegenüberliegenden Café Fürst. Dort würde er hernach auch noch kurz einkehren und sich mit einigen Packungen Mozartkugeln versorgen. Den Original Salzburger Mozartkugeln, die dort handgeschöpft wurden. Getreu nach dem Rezept von Paul Fürst. Der hatte 1805 für seine Spezialität sogar eine Pariser Goldmedaille erhalten. Auch das wusste der Abteilungsinspektor. Immerhin hatte er vor einiger Zeit mitgeholfen, zusammen mit Merana einen ganz speziellen Fall aufzuklären, bei dem diese Mozartkugel eine wichtige Rolle gespielt hatte.1

Er hob die Hand, gab dem Kellner ein Zeichen. »Bringen Sie mir bitte noch eine Melange und dazu ein stilles Mineralwasser.« Später würde er sich noch eine Zeitung holen. Aber vor allem würde er die Aussicht genießen und sich an diesem sonnigen Ostersonntagvormittag mitten im Herzen der Salzburger Altstadt erfreuen.

Kurz vor 13 Uhr kam er in der Polizeidirektion in der Salzburger Alpenstraße an. Die Kollegen, die ebenso wie er Feiertagsdienst zu versehen hatten, freuten sich, als er sie mit einigen Mozartkugeln versorgte.

»Sind das die vom Fürst?«, fragte die Beamtin am Eingang.

»Selbstverständlich. Für die Kollegenschaft nur das Allerbeste.«

»Wow. Danke, Otmar.« Er hielt ihr das Säckchen hin.

»Nimm dir welche, Marina.« Sie zögerte. »Das sind ja richtige Kalorienbomben.«

»Es ist Ostern, Frau Kollegin!«

Sie grinste. »Du hast recht. Wenn man da nicht sündigen darf, wann dann!« Sie griff nach drei der in Silberpapier gehüllten Süßigkeiten.

Er erwiderte ihr dankbares Lächeln und stapfte auf die Treppe zu, die ins Obergeschoss führte. In seinem Büro öffnete er die unterste Schreitischschublade und verstaute den Rest der Kugeln. Dann schaltete er den PC ein. Die eingegangenen Mailnachrichten zu überfliegen, zu ordnen und in einigen Fällen auch zu beantworten, dauerte mehr als eine halbe Stunde. Eine der längeren Nachrichten stammte von ihrem Chef, dem Polizeipräsidenten höchstpersönlich. Der Abteilungsinspektor hatte noch nicht die Hälfte der Einleitung gelesen, als sein Diensttelefon läutete. Die Nummer erkannte er sofort, er hätte gar nicht den Schriftzug am Display benötigt: »Plankowitz, Gerichtsmedizin«

Er griff nach dem Hörer. »Hallo, Eleonore. Schon alle Ostereier gefunden?«

»Ich hasse Eier. Vor allem solche, die irgendwelche Hasen bringen.«

»Also, Frau Doktor, was kann ich für dich tun?«

»Hast du schon von der toten Gämse auf dem Kapuzinerberg gehört, Otmar?«

Tote Gämse? Kapuzinerberg? Wollte sie ihn aufziehen?

»Nein, habe ich nicht. Ich arbeite zwar für die Mordkommission, und unsere bedauernswerten Klienten sind leider auch meistens tot. Aber sie gehören allesamt zur Spezies homo sapiens. Für ermordetes Gamswild wende dich bitte an Basil, den Mäusedetektiv, oder an einen der anderen seiner tierischen Kollegen.«

Er hörte sie am anderen Ende der Leitung pfeifen.

»Respekt, Herr Kollege, das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Basil. Mäusedetektiv …«

Das hatte er Hedwig zu verdanken. Carolas Tochter liebte die Geschichten von Basil. Und er las ihr immer wieder gerne einige davon vor.

»Die tote Gams spielt auch nicht die wesentliche Rolle. Viel bedeutender ist, was man unter dem Tierkadaver fand.«

Jetzt wurde er neugierig. »Und was?«

»Ich schicke dir dazu gleich ein paar Bilder. Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich bin heute sicher bis zum späten Abend im Institut.«

Er beendete das Gespräch. Er wartete. Was würde da auf ihn zukommen? Keine drei Minuten später hörte er das Signal einer eingehenden Nachricht. Eine Mail mit zwei Textfiles und einem Ordner mit Bildern. Er klickte zuerst auf den Ordner. Er spürte, wie sich ganz plötzlich seine Stirnhaut runzelte. Was war das denn? Das hatte man unter dem Kadaver der toten Gämse gefunden? Er studierte die Aufnahmen, Bild für Bild. Dann öffnete er die beiden anderen Dateien, las aufmerksam die Texte. Als er fertig war, griff er zum Telefon.

»Hallo, Eleonore, wie es scheint, haben wir hier doch keinen Fall für die Mäusepolizei. Ich habe mir alles angeschaut, aber ich hätte gerne nochmals eine detaillierte Zusammenfassung von dir.« Er hörte sie tief Luft holen. »Also gut. Dann von Anfang an. Der gefundene Schädel und die Knochen stammen mit ziemlicher Sicherheit von ein und derselben Person. Eine Bestätigung dafür haben wir erst, wenn ich mit den Untersuchungen fertig bin. Aber alles deutet darauf hin. Es handelt sich um die Überreste einer Frau. Das ist mal klar.«

»Weißt du mehr über die Umstände des Fundes?«

»So viel ich mitbekam, entdeckte ein Jogger die Gämse und verständigte daraufhin den Stadtförster. Benedikt Keutschach, so heißt der Mann, fand nicht nur das tote Tier vor. Im Boden unter dem Tierleichnam entdeckte er Reste eines menschlichen Skeletts. Keutschach informierte die Pressestelle des Magistrats. Das hatte zur Folge, dass zweierlei nahezu gleichzeitig passierte. Einerseits rückte ein Fernsehteam an und zugleich die ebenfalls alarmierten Beamten der Polizeiinspektion Rathaus. Die Polizeikollegen verständigten sich mit den Journalisten darauf, dass man zwar über die tote Gämse berichten dürfe, aber keineswegs über die entdeckten Teile des menschlichen Skeletts. Sie verpflichteten die Medienleute zu absoluter Verschwiegenheit. Erst wenn man mehr über die näheren Umstände zu diesem Vorfall wisse, werde man die Öffentlichkeit informieren.«

»Sehr gut.« Der Abteilungsinspektor nickte. Das hatten die Kollegen bestens hingekriegt.

»Wie ich den Bildern entnehme, scheint das Skelett nicht komplett zu sein, Eleonore.«

»Richtig, es fehlen ein paar Knochen. Eine genaue Aufstellung dazu kommt noch.«

»Kannst du etwas zum Alter dieser Person sagen?«

»Ich kann es versuchen. Sie dürfte zum Zeitpunkt des Todes vermutlich Mitte 20 bis Ende 30 gewesen sein. Aber das ist nur eine sehr grobe Schätzung. Eindeutiger sind die deutlich sichtbaren Spuren von Gewalteinwirkung an ihrem Kopf.«

Das hatte er schon ihren Aufzeichnungen entnommen.

»Könnte die Frau deiner Meinung nach auch gestürzt sein und sich dadurch die Verletzungen zugezogen haben?«

Sie wartete ein paar Sekunden.

»Davon gehe ich eher nicht aus. Ich bin mir einigermaßen sicher, der Frau wurde ein harter Gegenstand gegen den Kopf gedroschen. Die Art der Bruchstellen lassen kaum Spielraum für eine andere Deutung.«

Er schwieg, dachte nach. Das würde bedeuten, die gefundenen Knochenteile verwiesen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Opfer eines Gewaltverbrechens. Wann könnte die Tat geschehen sein? Dazu hatte er keinerlei Angaben in ihrem Bericht gefunden.

»Ich weiß, dass deine Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, Eleonore. Aber kannst du aufgrund deiner Erfahrung ungefähr einschätzen, wann die Tat begangen wurde? Wann könnte der Frau das zugestoßen sein?«

Er hörte sie schnauben.

»Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nur grob möglich. Da gebe ich lieber eine Vermutung über ihr Alter ab. Sagen wir es so. Würde die Gute heute noch leben, dann wäre sie wohl mindestens 90 Jahre alt, wahrscheinlich älter. Vielleicht sogar 100 oder gar 120.«

»Danke, Eleonore. Dann werde ich wohl einmal unseren hohen Chef anrufen.«

»Musst du nicht mehr, Otmar. Ich habe den Herrn Polizeidirektor schon heute Früh informiert.«

Schon heute früh? Vielleicht hatte sich die Mailnachricht des Chefs auch darauf bezogen. Er war ja noch nicht dazu gekommen, sie wenigstens zu überfliegen.

»Danke, Eleonore, dass du Günther schon gewarnt hast. Damit er Bescheid weiß, falls durch die Presse etwas früher durchsickert als geplant.«

»Gerne. Und jetzt liegt der Fall bei euch. Ich nehme an, du hast auch das Bild mit dem Ring und der Kette gesehen?«

Ja, hatte er. Die Aufnahme hatte allerdings nicht dieselbe Qualität wie jene der Knochen.

»Ob die Frau die Kette mit dem Ring tatsächlich am Körper trug oder nur irgendwo eingesteckt hatte, lässt sich aufgrund des Zustandes des Skeletts wohl nicht mehr feststellen?«

»Nein, das lässt sich nicht. Die Kette lag in der Mulde bei den Knochen. Sie könnte zufällig dort gelandet oder von einem Tier dorthin transportiert worden sein. Doch das nehme ich eher nicht an. Ich lasse dir die Kette und den Ring ins Präsidium schicken. Wenn mich nicht alles täuscht, ist am Ring etwas eingraviert. Aber das werden eure Techniker herausfinden. Hast du noch Fragen, Herr Abteilungsinspektor?«

»Danke, Eleonore. Noch einen schönen Ostersonntag.« Er legte auf. Dann fuhr er sich mit der Hand über das schlecht rasierte Kinn. Was war auf dem Kapuzinerberg geschehen? Er rechnete kurz nach. 90 bis 120 Jahre, sagte die Gerichtsmedizinerin. Dann war die Frau ungefähr zwischen 1900 und 1930 geboren.

Sie war zu Tode gekommen, noch als junge Frau. Vielleicht 25 Jahre alt. Vielleicht auch schon Ende 30. Wo? Das ließ sich derzeit nicht sagen. Ihre Skelettteile waren jetzt gefunden worden. Vor wenigen Tagen. Nicht auf einem Friedhof, sondern auf dem Kapuzinerberg. Eines war gewiss. Irgendjemand musste sie dort verscharrt haben. Warum begrub man jemanden in abgelegenem Gelände? Um die Spuren eines Gewaltverbrechens zu vertuschen? Warum waren die spärlichen Skelettteile erst jetzt ans Tageslicht gekommen? Fragen über Fragen. Und derzeit nicht der Funken einer Antwort.

Er lehnte sich zurück, griff in die unterste Schublade, genehmigte sich noch eine Schokoladenkugel. Sollten sie in diesem Fall überhaupt ermitteln? Für Mord gab es keine Verjährung. Das war ihm klar. Aber war hier tatsächlich ein Mord passiert? Und selbst wenn, was brachte es, jetzt, nach Jahrzehnten, darin herumzustochern? Lebten überhaupt noch Personen aus dieser Zeit? Das konnte man wohl erst halbwegs seriös beantworten, wenn man einzuschätzen vermochte, was »diese Zeit« bedeutet. In jedem Fall etwas weit Vergangenes. Er blickte auf den Bildschirm. Sie hatten reichlich ungeklärte Fälle aus der Gegenwart. Da gab es genügend Arbeit. Er angelte sich eine zweite Mozartkugel. Dann tastete er nach der Maus. Er schloss die Datei mit der Mailnachricht. Zumindest würde er einen eigenen Ordner anlegen. Bezeichnung: »Kapuzinerberg-Leiche«. Das konnte nicht schaden. Dann hatte er immerhin eine ordnungsgemäße Ablage dafür.

1 s. Mozartkugelkomplott

1 244,25 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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253 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839269824
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