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Optimierungsfalle Gesundheit

Gegen eine gesunde Familie ist nichts zu sagen. Keiner ist gerne krank und ein von Schmerzen geplagtes Kind zerreißt einem das Herz. Eltern stehen auch gesetzlich in der Pflicht, für das körperliche, geistige und seelische Kindeswohl zu sorgen (§§ 1626 ff. BGB).

Aber welchen Gewinn für die Gesundheit der Lieben bringt es, wenn die Furcht vor Erkrankungen überhandnimmt? Bedenklicher noch: Die unrealistische Hoffnung, die Familie zum Schutz in Drachenblut tauchen zu können, führt zu ständigen Selbstvorwürfen: Bin ich schuld am Schnupfen meines Sohnes? Koche ich falsch? Brauchen die Kids ab sofort den rettenden Vitamin-Booster aus der Werbung?

Die Tipps und Versprechen aus Werbespots, Social Media und Ratgebern suggerieren, dass es noch nie so leicht war wie heute, die Familie gesund zu erhalten. So erklärt eine Mutter stolz auf YouTube, dass sich ihre Kleinen auf Kindergeburtstagen vor Kuchen ekeln, weil sie von ihr ausschließlich Leckereien ohne Industriezucker bekommen würden. Eine Dattel ersetze jede Milchschnitte. In einem Ratgeber gießt Frau Dr. Rubin (2019) die Naturapotheke in den Suppenteller: „Heilen mit Lebensmitteln: Meine Top 10 gegen 100 Krankheiten: Hafer, Kartoffeln, Kohl & Co“. Mit Jamie Oliver (2015) bleiben wir „genial gesund“ durch „Superfood for Family & Friends“.

Wer es sich leisten kann, gibt ein Vermögen für Bio-Nahrung für die Familie aus. Wer es sich nicht leisten kann, auch. Und was der Dinkelbratling an Aufbaustoffen nicht rausrücken will, erhalten die Kids in Tablettenform. Das Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln boomt.

Allein in Apotheken wurden dafür im Jahr 2019 in Deutschland 2,2 Milliarden Euro ausgegeben. Die Nachfrage nach Kinderprodukten stieg rasant. Die Pillen sollen vor allem das Immunsystem, die Konzentration und das Wachstum stärken (Ernährungsumschau 2020). Sofern ein Arzt keinen Mangel an Vitaminen und Mineralien feststellt, sind die zugefütterten Präparate überflüssig bis riskant. Bereits eine ausgewogene Ernährung deckt die benötigte Tagesdosis aller benötigten Nährstoffe ab. Über die Hälfte der Nahrungsergänzungen überschreitet die vom Bundesinstitut für Risikobewertung empfohlenen Höchstwerte um bis zu 700 Prozent (Ärzteblatt 2020). Leider stößt der Körper die überschüssigen Mengen nicht einfach ab. Zum Beispiel konnte der Nutzen von Zink bei Erkältungen nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden. Im Gegenteil: Der Schnupfen dauert mitunter zwei Tage länger und es treten zusätzliche Symptome auf (Meyer 2020).

Und wie sieht es bei den Vitaminen aus? Bei Öko-Test (2019) fielen alle Kombi-Präparate mit dem „Vitamin-Alphabet“ ausnahmslos durch. Gerügt wurde unter anderem der zu hohe Anteil an Vitamin A. Nebenwirkungen: Juckreiz, Kopfschmerzen und Gefahren in der Schwangerschaft. Medizinische Fachverbände kommen zu dem Fazit: Es ist nicht möglich, mit Nahrungsergänzungsmitteln Krankheiten vorzubeugen (Ärzteblatt 2019).

Wir stehen zwischen den Werbeversprechen der Gesundheitsindustrie, die uns das Wohlergehen der Familie in den Einkaufskorb legen möchte, und dem unberechenbaren Restrisiko für unsere Lieben, krank zu werden. Der Anspruch, vor allem die Kinder vor Krankheiten zu schützen, nagt am Gewissen. Treten meine Kleinen in selbst atmenden Schuhen ins Leben? Schlummert mein Krümel auf einer Matratze, die mitschläft? Hat mein Kinderwagen die TÜV-geprüfte Wegfahrsperre vor Wasserfällen?

Der Optimierungsdruck kennt keine Grenzen. So locken Mitmach-Angebote überall. Auf die bilinguale Krabbelgruppe folgt das achtsame Babyschwimmen ohne Chlor. Wenn der Termin nicht mit der PEKiP-Gruppe1 kollidiert: „Mit Spiel- und Bewegungsanregungen durch das erste Lebensjahr.“

Die sportlichen Aktivitäten der Kinder werden der Gesundheit zuliebe mit den Jahren immer kostspieliger. Erst bleiben die teuren Fußballschuhe bereits nach drei Wochen im Schrank. Der Judo-Anzug wird danach besser gebraucht gekauft, damit man sich für die Tochter die Reitstunden leisten kann. Aber was sind schon Reitstunden, wenn angeblich fast alle Freundinnen in der Klasse ein Pferd haben? Und Ronja hat sogar zwei!

Der Arzt und Familientherapeut Arnold Retzer (2012) entzaubert das Hoffen auf verlässliche Gesundheit als organisiertes Unglück:

„Eine geradezu epidemisch verbreitete Hoffnung, die letztlich zu schlechter Stimmung führt, ist die Hoffnung, gesund zu sein und zu bleiben. Diese Hoffnung zielt darauf ab, sich immer wieder Gewissheit verschaffen zu können, ob man noch gesund ist. Ein Ziel, das umfangreiche und komplizierte Prozeduren auslöst. Die Folge: Miese Stimmung!“

Schließlich hofft man auf etwas, das nur durch die Abwesenheit von Krankheit existiert: Gesundheit merkt man erst, wenn man nichts merkt (keine Schmerzen). Erst, wenn etwas fehlt (zum Beispiel Appetit) oder etwas hinzukommt (zum Beispiel Fieber), hat sich das unsichtbare Phantom „Gesundheit“ aus dem Staub gemacht.

Und wie lautet nun das Rezept gegen die unheilbare Hoffnung auf eine stets gesunde Familie? Es bleibt Ihnen nur, sich mit den realistischen Vorsichtsmaßnahmen abzufinden. Nehmen Sie Abschied von der Illusion, jedes Krankheitsrisiko kontrollieren zu können. Für das naturgemäße Restrisiko ist Gelassenheit die beste Medizin.

Optimierungsfalle Harmonie

Konflikte sind anstrengend und passen nicht zu der idyllischen Vorstellung, dass die Familie stets vom Band der Liebe zusammengehalten wird. Reibungen sind unvermeidbar. Wenn der Haussegen schief hängt, ereilen uns typische Gedanken wie: Warum können sich nicht alle ein bisschen zusammenreißen? Schließlich schlucke ich auch alles herunter. Ist es zu viel verlangt, das Gleiche von den anderen zu erwarten? Ja, anscheinend ist es zu viel.

Unser Harmoniebedürfnis basiert auf den Erfahrungen mit Konflikten in unserer Herkunftsfamilie. Wer in seiner Kindheit oft Streit ertragen musste, verbindet damit Ängste wie: Ich werde an meinem wundesten Punkt verletzt. Ich werde mit Liebesentzug bestraft. Ich werde vielleicht für immer verlassen. Hoffentlich droht keine Gewalt.

Andere sind von Kindesbeinen an sturmerprobt und empfinden Auseinandersetzungen als weniger bedrohlich. Sei es, weil sie im Elternhaus einen lösungsorientierten Umgang mit Problemen kennengelernt haben, sei es, weil nach dem reinigenden Gewitter am nächsten Tag alles wieder gut war. So bringen Paare unterschiedlich geprägte Erwartungen an das Harmonie-Level in die neu gegründete Familie mit ein. Was für den einen als harmlose Meinungsverschiedenheit gilt, kann für den anderen schon einen erbitterten Streit darstellen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht sollte dem Wunsch nach nahtloser Harmonie ebenfalls nicht entsprochen werden. Der Weg zur Individualität der Kinder ist mit Reibungen gepflastert, sonst ist die Ablösung von Eltern und Geschwistern nicht möglich.

Ein weiterer Grund, aus dem die Optimierungsfalle hier zuschnappt: In der harmoniegesteuerten Familie darf es keine Unterschiede geben. Das führt unweigerlich zu Konflikten, weil die verschiedenen Bedürfnisse nicht gewürdigt werden. Wer das Aufblitzen von Unterschieden konsequent unter dem Deckel halten will, versucht, Feuer mit Stroh zu löschen. Denn: Streit entsteht, wenn sich die unterschiedlichen Bedürfnisse, Werte und Ziele der Familienmitglieder überkreuzen. Dann rasseln völlig unterschiedliche Vorstellungen von Richtig und Falsch aneinander. Eltern berufen sich auf ihr Bestimmungsrecht. Kinder pochen auf ihr Selbstbestimmungsrecht. Und Geschwister fordern Gerechtigkeit.

Die Kunst ist es nun, eine Kommunikation zu entwickeln, welche die individuellen Unterschiede in der Familie wertschätzend zur Sprache bringt, ohne sie aus Sorge vor Disharmonie beseitigen zu wollen.

Aus Sicht der systemischen Familientherapie ist das Würdigen und Akzeptieren von Unterschieden ein zentraler Schlüssel zur Konfliktlösung (Bateson 1984). Dazu sollte man wertschätzend miteinander reden.

Ich werde in diesem Buch Möglichkeiten aufzeigen, wie in den verschiedenen Familienphasen die Kommunikation gestaltet werden kann, damit sich destruktive Muster nicht verfestigen.

Konflikte entzünden sich an Problemen. Ich weihe Sie in das Geheimnis ein, wie Sie in der Familie mit der Magie der Bewertung Probleme beliebig herstellen und wieder in Luft auflösen können. Ein Problem entsteht nämlich nur, wenn Sie den Unterschied zwischen einem IST-Zustand und einem SOLL-Zustand negativ bewerten. Zwei Beispiele: Sie betrachten einen IST-Zustand bei einem Familienmitglied (vollschlank) und vergleichen ihn mit dem von Ihnen willkürlich definierten SOLL-Zustand (schlank). Bisher gibt es kein Problem. Das stellen Sie erst wie folgt her: Sie bewerten den Unterschied zwischen IST und SOLL als schlecht. Simsalabim! Und schon erscheint aus dem Nichts ein echtes Problem: „Es ist problematisch, dass du vollschlank bist, weil du nach meiner Bewertung schlank sein solltest!“

Und wie lassen Sie das Problem wieder verschwinden? Sie verabschieden sich von der bisherigen Bewertung. Sobald Sie es nicht mehr negativ beurteilen, dass eine Tatsache (IST) nicht Ihren Wunschvorstellungen (SOLL) entspricht, gibt es auch kein Problem mehr.

Das zweite Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter ist mit ihren Nerven am Ende, weil ihr der pubertierende Sohn alle Kraft raubt. Erst geißelt sie sich mit Selbstvorwürfen, weil sie in ihrem erschöpften Zustand die Erziehungsaufgaben nicht mehr nach ihren eigenen Ansprüchen erfüllen kann. Dann bewertet sie den Unterschied zwischen dem IST (Erschöpfung) und dem SOLL (anspruchsvoll erziehen) nicht mehr als negativ. Sie sagt sich, ich steige für eine Weile aus der Erziehung aus, weil ich einfach nicht mehr kann. Natürlich stellt sie weiter die Versorgung und den Schutz des Jugendlichen sicher. Aber durch die Entscheidung, dem „Terror des Solls“ eine Absage zu erteilen, wird großer Druck von ihr genommen und eine spätere Lösung wahrscheinlicher.

Mutproben, um aus der Optimierungsfalle herauszukommen

•Ich verabschiede mich von der Hoffnung, in der Familie einen idealen Soll-Zustand erreichen zu können.

•Ich gönne mir öfter den Luxus, den Unterschied zwischen der Realität und meinem Wunsch-Zustand nicht negativ zu bewerten. So zaubere ich ein Problem weg und mache der Familie und mir das Leben leichter.

•Ich freunde mich mit der Tatsache an, dass ich es in der Familie nicht allen recht machen kann.

•Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf das Erreichte, anstatt auf das noch nicht Erreichte.

•Ich bin gnädig mit mir selbst und verurteile mich nicht mehr, wenn ich meinen (unrealistischen) Ansprüchen nicht genügen kann.

1PEKiP: Prager Eltern-Kind-Programm für Babys, die sich in einer Gruppe mit Gleichaltrigen treffen.

Kapitel 2
Die Geschichte der romantischen Liebe als Folie der eigenen Liebesgeschichte
Wer hat die romantische Liebe erfunden?

„Die Liebe ist eine Erfindung der Schlagerindustrie.“ Diesen pointierten Spruch habe ich irgendwo gelesen. Aber wer hat die romantische Liebe wirklich erfunden? Sie ist kein Gegenstand, den man bei Ausgrabungen ausbuddeln und unters Mikroskop legen kann. Die romantische Liebe manifestiert sich nur in Erzählungen. Das Patent auf die Liebe teilen sich demnach die ersten Geschichtenerzähler, welche die Lawine der Lovestorys ins Rollen brachten. Seit der Antike sind uns Mythen überliefert, in denen Paare vom Zauber der Liebe zusammengeschweißt werden. Auch die Bibel beginnt mit der paradiesischen Zweisamkeit von Adam und Eva. Adam fragt Eva, „Liebst du mich?“ und sie sagt, „Wen sonst?“.

Bis dass der Tod uns scheidet

Der römische Dichter Ovid (2015) erzählt vor rund 2000 Jahren die anrührende Liebesgeschichte von Philemon und Baucis. Die beiden waren zusammen nicht nur sehr glücklich, sondern auch ohne Paartherapie sehr alt geworden. Sie hatten bei den Göttern noch was gut und wünschten sich von ihnen einen gemeinsamen Rentner-Job (Homeoffice im Tempel) und vor allem, gleichzeitig sterben zu dürfen. Keiner wollte in das Grab des anderen sehen müssen. Als ihre Zeit gekommen war, verwandelten sie sich mitten in einem Paargespräch in eine Linde und eine Eiche. Die Idee der lebenslangen Liebe wird mit dieser Erzählung in die Welt getragen.

Verbotene Liebe auf den ersten Blick

1597 betritt das wahrscheinlich berühmteste Liebespaar der Welt zum ersten Mal die Bühne. „Romeo und Julia“ von Shakespeare liefert bis heute das Musterstück, wenn es in Literatur und Film um die Fallhöhe der verbotenen Liebe geht. Das Drama würde heute heißen „Hätte er die WhatsApp bekommen, würden wir heute noch leben“ oder „In fünf Tagen vom Bachelor zum Doppelgrab“. Romeo M. (19) aus V. glaubt, nie wieder lieben zu können, weil er bei Rosi abgeblitzt ist. Da sieht er auf einer Party mit Masken-Empfehlung Julia C. (13), die von ihrem Vater einem reichen Grafen versprochen wurde, von dem sie sich jedoch nichts verspricht. Romeo und Julia verlieben sich unsterblich auf den ersten Blick. Die Sache hat nur einen Haken: Romeos Familie ist mit Julias Clan zutiefst verfeindet. Selbst das Service-Personal prügelt sich regelmäßig mit den Angestellten der Gegenseite.

Was bleibt den beiden anderes übrig, als im Liebeswahn heimlich zu heiraten. Immerhin sind sie schon seit zwei Tagen zusammen. Bei der nächsten Schlägerei mit Julias Community wird Romeo in einen Mord an Julias Cousin verwickelt und muss die Stadt verlassen. Schon drei Tage später soll Julia den Grafen heiraten, den ihr Vater für sie gecastet hat. In ihrer Not schluckt sie ein Medikament, mit dem sie für 42 Stunden ihren Tod vortäuschen kann. Romeo soll mit einer Textnachricht über den Scheintod von Julia informiert werden. Die Botschaft kommt nie an, weil gerade eine Pandemie (Pest) das Zepter übernommen hat. Romeo erfährt lediglich von Julias vermeintlichem Tod. Aus Liebeskummer bringt er sich an der Seite seiner scheintoten Julia um. Just nach seinem Ableben wacht Julia wieder auf. Sie sieht den toten Romeo und tötet sich jetzt richtig.

Was lernen wir daraus? Die große Liebe trifft uns aus heiterem Himmel wie ein Komet. Sie ist stärker als alle Bedenken der buckligen Verwandtschaft. Sogar stärker als der Tod.

Seit dem 18. Jahrhundert wärmen Romane mit diesen Motiven die Herzen der breiten Masse. Heute transportieren vor allem Kinofilme, Serien auf Netflix & Co und Songtexte die Verheißungen des ewigen Liebesglücks.

Dich kennen heißt dich lieben

Die singende Trau-Meisterin Anja Hackl empfiehlt als Nummer 1 der „10 allerbesten und garantiert nicht abgegriffenen deutschen Liebeslieder für deine Traum-Trauung“: „Dich kennen heißt dich lieben“ aus dem Musical „Mozart“ (Hackl 2021). Wolferl besingt mit seiner Conny die romantische Idee, dass man sich bedingungslos liebt, weil man den anderen auf Anhieb kennt – als wäre er aus Glas: „Dich kennen heißt dich lieben!“ Weiter jubilieren sie sinngemäß: Wir sind eine unzertrennliche Einheit, keiner kennt mich wie du und unsere Liebe wird nie vergehen …

Ich habe nichts gegen „gesungene Schmalzbrote“. Als Paartherapeut sage ich dazu, mitunter hält die Liebe nur, bis man sich kennt und nicht, weil man sich kennt.

Am Grundrezept unserer Vorstellung von der romantischen Liebe hat sich seit den alten Griechen nichts geändert: Man nehme zwei Menschen, die von der Liebesmacht wie vom Blitz getroffen werden. Dann würze man es mit heißer Begierde, damit die beiden sich vor Verlangen verzehren. Jede Minute der Trennung empfinden sie als unerträgliche Qual. Am liebsten würden sie wie zwei passgenaue Kugelhälften zu einer runden Sache verschmelzen (Platon 2002). Nichts kann, soll und darf zwischen ihnen stehen. Das himmelhochjauchzende Gefühl: Wir sind füreinander geschaffen und ich verstehe dich in jedem Winkel deiner Seele. Warum haben wir uns nicht früher getroffen? Unsere Liebe wird ewig gehen. Und was nicht passt, wird passend gemacht. Bitte keine Unterschiede. Wir sind der Unterschied.

Mit diesem Briefing aus Film, Fake News und Fernsehen machen wir uns auf die Suche nach Mr. oder Ms. Right. Es ist verdächtig, dass Liebesfilme in dem Moment aufhören, wenn die beiden Turteltauben sich gekriegt haben. Der graue Alltag des Hollywood-Paars mit herumliegenden Socken und falsch eingeräumten Spülmaschinen passt nicht mehr ins Bild.

Auch hier rufen die Unken der Selbstoptimierung: Du musst das perfekte Gegenstück finden. Gutaussehend, reich, intelligent, erfolgreich, einfühlsam, treu, gut zu Tieren und Kindern – und sogar gut zu dir!

Wir wollen doch nur endlich die Nadel im Heuhaufen finden und nicht gleich heiraten. Obwohl … Wenn’s gut läuft, warum nicht? Es ist doch wohl erlaubt, seine große Liebe zu heiraten? In Deutschland scheint es üblich, sich die Gattin oder den Gatten nach Sympathiepunkten selbst auszusuchen. Das ist noch nicht lange so.

Geld oder Liebe? – Seit wann darf man aus Liebe heiraten?

Landwirt sucht Frau mit Mähdrescher ab 250 cm Schnittbreite, zwecks späterer Heirat. Bitte Bild von Mähdrescher beilegen.

Bayrische Kontaktanzeige aus den 1980er-Jahren (Lohmann 2017)

Die Hochzeit aus Liebe etablierte sich erst vor rund 250 Jahren. Bis es dazu kam, musste die Idee von der Neigungsehe seit dem 18. Jahrhundert immer wieder neu erzählt werden. Jean-Jacques Rousseau (2003) forderte 1761 in seinem Roman „Julie oder die neue Heloise“, dass endlich „Zuneigung“ die Basis des Zusammenlebens bilden soll und nicht mehr die „Pflicht“ zur standesgemäßen Zweckehe.

Der Appell wurde von weiteren Autoren aufgenommen und beflügelte im 19. Jahrhundert die Literatur der Romantik. Zu der Zeit entschieden noch die angeborene Herkunft und das Geld darüber, wer mit wem verheiratet wurde. Die Tochter eines reichen Bauern musste den begüterten Bauernsohn aus dem Nachbardorf ehelichen. In den Städten wurde die Braut aus gutem Hause dem Bräutigam aus einer gleichfalls betuchten Bürgerfamilie zugeführt. In den adeligen Kreisen musste der soziale Rang ohnehin gewahrt bleiben. Liebesromane, in denen zwei brennende Herzen über alle Standesgrenzen hinweg vor dem Traualtar landen, enthielt man vielen gutbürgerlichen Mädchen bis ins 20. Jahrhundert vor. Oft genug wurden sie jedoch als heimliche Lektüre unterm Kopfkissen versteckt.

Doch zurück zur Kontaktanzeige mit dem Mähdrescher und der Mindestschnittbreite. Die Auswertung von Heiratsannoncen ergab, dass in Bayern die Liebesheirat tatsächlich erst in der 1980er-Jahren in allen Schichten akzeptiert wurde (Braun 2017). Bis dahin folgten eher die ärmeren Frauen auf dem Land ihrem Herzen, statt eine reine Versorgerehe zu erdulden. Bundesweit trug vor allem die Studentenbewegung (1967 – 1969) dazu bei, die bürgerlichen Heiratsnormen aufzubrechen.

Der traditionelle Wunsch nach einer lebenslangen Bindung ist heute bei Jugendlichen ungebrochen. Bei der ersten Partnerschaft sind Frauen meist jünger als Männer. Auch die Entscheidung, erstmals zusammenzuziehen, fällt bei den Frauen früher. Im Durchschnitt heiraten sie früher und häufiger (Pairfam 2021). Tendenziell ist das Heiraten den jungen Pärchen nicht mehr so wichtig, die Quote sinkt. Von einem Auslaufmodell kann man bei der Ehe trotzdem nicht sprechen. Immerhin gaben sich 2019 noch 416.300 Paare das Ja-Wort. Auch die Haltbarkeit der „ewigen Bindungen“ ist beachtlich. Im Durchschnitt erfolgte die Scheidung erst nach 14,8 Jahren (Destatis 2021). Das passt nicht zum „gefühlt“ schlechten Ruf der Ehe, die statistisch angeblich in jedem dritten Fall „scheitern“ würde.

Eine weitere Ursache für die Scheidungsrate ist die gestiegene Lebenserwartung. Mein Großvater starb 1974 im Alter von 65 Jahren. Das war für Männer damals kein ungewöhnliches Sterbealter. Er war 43 Jahre mit meiner Großmutter verheiratet. Heute hätte er eine Lebenserwartung von 78 und das Ehemodell wäre für 56 Jahre ausgelegt. War das vom Erfinder der Lebensform so gedacht? Als die Kirche im zwölften Jahrhundert die Trauung einführte, erreichten die meisten Menschen das 40. Lebensjahr nicht. Bei einem Heiratsalter von 14 Jahren dauerte das Eheleben maximal 26 Jahre. Wer heute zwei Silberhochzeiten erlebt, nutzt seine Lebenszeit optimal für zwei reguläre Ehezyklen des Mittelalters …

Ähnlich wie mit den tradierten Vorstellungen von der romantischen Liebe und der Neigungsehe verhält es sich mit den überlieferten Formen von Familie. Die heute gängige Kleinfamilie mit zwei Kindern ist historisch gesehen eine recht junge Erscheinung. Über Jahrhunderte spielten die Privatsphäre der Eltern und die Bedürfnisse der Kinder kaum eine Rolle.

Der folgende Überblick beleuchtet den geschichtlichen Hintergrund unserer Wunschbilder von Familie und macht deutlich, welche sozialpolitischen Errungenschaften heute für selbstverständlich gehalten werden.

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