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Kapitel 5 – Valentin

Gerade noch schnell genug bekomme ich Marlenas Schultern zu fassen, bevor sie mit ihrem Kopf auf dem harten Boden aufschlägt. Was ist bloß mit ihr los? Warum brechen heute alle Leute in meinem Umkreis zusammen? Beinahe verzweifelt versuche ich immer wieder, sie ins Bewusstsein zurückzubringen. Zuerst streiche ich ihr noch vorsichtig die Haare aus der Stirn, dann schüttle ich sie an ihren Schultern, immer und immer wieder. Keine Reaktion. Ich träufle ihr ein wenig Wasser ins Gesicht. Ohne Erfolg. Nur am Rande nehme ich das gurgelnde Lachen des – wie es mir scheint – verrückten Alten wahr, doch meine Aufmerksamkeit ruht vollkommen auf der leblos wirkenden, jungen Frau in meinen Armen.

* Währenddessen in einem Traum *

Als ich den kalten Marmor unter meinen Füßen spüre, kann ich nicht anders, als genervt aufzuschreien und meine Hand gegen die hellgraue Steinwand zu meiner Rechten zu schlagen. Eine dumme Idee. Auf meinen Schrei folgen ein saftiger Fluch und dann ein wehleidiges Wimmern. Ich reibe mir über die vor Schmerz pochende Stelle auf meiner Handfläche. Blut haftet an meinen Fingern. Ein Blick auf die Wand erklärt mir die Verletzung: dort steht ein Nagel aus der Wand, ohne ein Bild zu halten. Zwar nur die Seite mit dem Nagelkopf, aber meine Wut hat den Rest erledigt. Achtlos wische ich das Blut am Rocksaum meines Kleides ab. Es ist in den unterschiedlichsten Blautönen gehalten. Wie der Ozean. Oder wie Valentins Augen, denke ich. Wäre ich nicht gerade bei vollem Bewusstsein darüber, was gerade noch passiert ist, bevor ich scheinbar ohnmächtig geworden bin, würde ich den seidenen Stoff bestaunen. Doch so lassen mir meine kreisenden und beängstigenden Gedanken keinen Platz für andere Empfindungen als Panik und Frustration. Zitternd setze ich mich auf den spiegelglatten Stein und lehne den Kopf an eine der vielen dunklen Holztüren. Ich kenne diesen Gang und dieses Gebäude aus meinen Träumen. Doch noch nie bin ich am Tag hierher gelangt. Und noch nie ist einer dieser Träume wirklich schön ausgegangen. Der Gedanke an mein mordlüsternes Ich vom letzten Mal lässt mich erschaudern. Es war nur ein Traum. Das bin nicht ich. Ich schaffe es kaum, mich zu beruhigen, als mein Puls auch schon wieder in die Höhe schnellt. Hat er mich … nein das kann nicht sein … aber wenn doch? Was, wenn mich der alte Mann hierher geschickt hat? Das ist doch Blödsinn … warum sollte er das tun? Und noch wichtiger: Wie?

Über mich selbst lachend schüttle ich den Kopf. Mein Kreislauf war bestimmt einfach nur im Keller. Das ist doch kaum verwunderlich, nach dem ganzen Stress und der Furcht der letzten Tage. Da kann man schon mal umkippen. Und wirr in der Gegend herum fantasieren. Das ist bestimmt schon den Besten passiert. Alles ganz normal. Und logisch erklärbar. Wie sollte es auch sonst sein? Der fremde Alte hat magische Kräfte und hat mich mit nur einem Satz in eine Traumwelt ins Exil geschickt? Ha, ja genau. Und wahrscheinlich muss ich einen Drachen töten und die Träne einer Meerjungfrau besorgen, damit ich in die Realität zurückkehren kann. Alles klar. Ich entscheide mich für Version 1: die Kreislaufprobleme. Der Fremde mag vielleicht ein ehemaliges Mitglied der praeditii iuveni und somit auf irgendeine Weise begabt sein. Aber zaubern? Also so richtig mit allem Drum und Dran? Das ist doch lächerlich. Dann wachsen mir vermutlich demnächst Flügel und ein grüner Schnauzbart. Dein Ex-Lover tötet Menschen mit einem Streichinstrument, Marlena. Touché. Ich bleibe trotzdem bei der ersten, logischeren Variante.

Und wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich gleich mal wieder nach einem möglichen Ausgang umschauen. Auch wenn ich mich etwas davor grusle, möglicherweise den Albtraum-Valentin und seinen Best-Buddy Nick zu treffen, raffe ich mich hoch und gehe langsam den Gang entlang. Auch dieses Mal hallen meine Schritte von den Wänden wider, trage ich doch wunderschöne dunkelblaue Pumps auf denen einzelne Glitzersteine funkeln wie die Sterne am Firmament in einer klaren Nacht. Eines muss ich dieser Traumwelt lassen: hier habe ich echt Stil. Zumindest was meine Kleidungsgewohnheiten betrifft. Ich greife nach dem Rock und hebe ihn ein Stück hoch, sodass ich nicht ständig Angst haben muss, über den Stoff zu stolpern. Ich komme nicht weit. Schon nach wenigen Schritten zieht eine kleine, fast schon unscheinbare Tür meinen Blick auf sich. Das Holz ist schwarz wie die Nacht. Ohne auch nur einen Wimpernschlag darüber nachzudenken, greife ich nach dem angelaufenen Türknauf und trete ein. Kaum habe ich einen Schritt über die Schwelle gemacht, fällt die Tür hinter mir ins Schloss und sperrt mich in vollkommene Finsternis. Die Dunkelheit ist so durchdringend und so unfassbar still, dass ich einzig an dem Geräusch meines pochenden Herzens noch sicher erkennen kann, dass ich lebe, und nur das Rascheln meines Kleides versichert mir, dass ich – mehr oder weniger – bei Bewusstsein bin. Plötzliche Worte lassen mich zusammenzucken. Zuerst noch etwas undeutlich, dann jedoch immer klarer und lauter hallen sie rings um mich herum von den Wänden wider. Was ist bloß mit ihr? Warum rührt sie sich nicht? Soll ich ihr eine Ohrfeige geben? Nein, ich könnte sie doch niemals schlagen. Nie könnte ich sie verletzen. Verlass mich nicht. Ich flehe dich an. Komm‘ zu mir zurück, Marlena!

Ich strauchle, stolpere, schlage mit meiner Stirn gegen einen Widerstand, vermutlich eine Wand. Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht, begreife einfach nicht, was das alles zu bedeuten hat. Es ist als wäre ich …

»Ganz richtig, Kindchen«, schallt eine viel ältere und rauere Stimme als jene zuvor durch den kaum greifbaren Raum.

»Du bist zwar nicht direkt in seinem Kopf«, fährt der Alte fort, »Wohl eher in seinem Geist. Aber das, was du hörst, sind tatsächlich Valentins Gedanken.«

Völlig überfordert schnappe ich immer wieder nach Luft und doch dringt nichts davon bis in meine Lungen vor.

»Und jetzt komm‘ zurück.« Kaum dringt dieser Satz an meine Ohren, gibt der Boden unter mir nach. Und ich blicke in eisblaue Augen.

*

Erleichterung schwappt durch meine Venen.

»Marlena …«, nuschle ich in ihre Haare. Erst da merke ich, wie diese Szene aussehen muss, lockere meinen Griff und entferne mich ein Stück von ihr. Kälte überzieht meine Haut, dort wo gerade noch ihr Kopf geruht hat. Unwirsch schüttle ich diese sinnlosen Gefühle ab. »Was ist nur mit dir passiert?« Doch sie scheint meine Frage gar nicht gehört zu haben. Ihr Blick schweift unruhig umher, sie richtet sich langsam auf, bis sie gefunden hat, was sie sucht: den Fremden. Als wäre sie nicht gerade noch ohnmächtig gewesen, springt sie auf, reißt sich gänzlich von mir los. Sie stürmt auf ihn zu, bleibt jedoch knapp vor ihm stehen. Ein Ruck geht durch ihren Körper, als hätte er nicht mit dieser Abbremsung gerechnet.

»Sie!«, zischt sie ihm aufgebracht entgegen. »Was haben Sie getan? Wie konnten Sie das mit mir machen? Das ist … Das ist …«

Egal wie aufgebracht Marlena gerade ist, der Mann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ein siegreiches Lächeln dominiert seine Züge.

»Ich habe dir nur die Augen für das geöffnet, wovor du sie zuvor so penetrant verschlossen hast.«

Wütend stampft sie auf, scheint ihrer Wut Platz machen zu müssen. Ich sitze währenddessen wie vor den Kopf gestoßen da und verstehe nur Bahnhof.

»Ist das … wird mir das jetzt jedes Mal passieren, wenn ich schlafe? Ich will das nicht. Und warum haben Sie solche Macht darüber?«

Grinsend schüttelt er seinen Kopf. »Keine Angst, Kindchen. Du wirst schon genug ruhigen Schlaf bekommen. Zumindest solange das Jungchen seine Finger bei sich behalten kann. Hält ja keiner aus, wie er dich ansieht. Und sei beruhigt: Ich habe keine« – er zeichnet mit seinen Händen Gänsefüßchen in die Luft »Macht über dich. Ich habe lediglich eine Gabe, so wie er. So wie du. Meine ist nur etwas anders als seine. Aber keinesfalls so besonders wie deine.«

Ich weiß nicht, ob ich gerade beschämt oder wütend sein soll. Diese ganzen Gefühle überfordern mich noch immer. Wie soll ein Mensch denn mit diesen Unmengen an Nervenreizungen und Hormonen umgehen können? Außerdem, wie sehe ich sie denn an?

»Was meinen Sie damit, dass wir alle eine Gabe haben? Marlena doch nicht.« Ein kurzes Zucken in Marlenas Mimik lässt mich vermuten, dass mein Einwand sie ein wenig gekränkt hat, aber einer von uns muss schließlich versuchen, realistisch zu bleiben.

»Ach Kinder«, seufzt der Alte. »Jetzt packt erst mal eure sieben Sachen zusammen und dann kommt ihr mit zu mir. In diesem zugigen Drecksloch kann doch keiner leben. Schnee und Wind alleine reichen wohl kaum aus, um Brendanus‘ Zorn von euch abzuwenden. Und dass er nicht gerade bester Laune sein wird, ist wohl allen klar.«

»Aber warum sollten wir bei Ihnen sicher sein?« Ich bin mir nicht sicher, ob Marlena wollte, dass diese Frage so beleidigend wirkt und auch, wenn ich ihre Zweifel verstehen kann, sollten wir diese Chance nutzen.

»Immerhin lebt er noch.« Erkläre ich mit einem Schulterzucken und scheine sie allein dadurch zu überzeugen, dass wir mit dem Alten gehen sollten. Natürlich vertraue auch ich diesem Mann nicht, gar keine Frage. Nicht nur, dass er viel zu viel zu wissen scheint. Ich verstehe immer noch nicht, was da mit Marlena passiert ist, aber er scheint seine Finger im Spiel zu haben und das gefällt mir gar nicht. Wer er sein könnte, weiß ich auch nicht. Außerdem schuldet er uns rein gar nichts. Es ist zwar verständlich, dass er uns nicht selbst ausliefert, immerhin ist er angeblich auch auf der Flucht vor den preditii iuveni, aber er könnte uns trotzdem einfach so hier auf unser Schicksal warten lassen. Warum also hilft er uns? Um das herauszufinden, müssen wir ihm wohl oder übel folgen. Jedoch nicht, ohne ihn zu beobachten.

»Komm, packen wir unsere Sachen.« Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass der Mann noch immer gefesselt ist, nehme ich Marlena an der Hand und ziehe sie mit mir. Es ist nur wenige Tage her, seit wir hastig diese Sachen in die Rucksäcke gestopft haben und uns unter falschem Namen per Anhalter aus der Stadt hierher aufgemacht haben. Nun raffen wir schon wieder alles zusammen und machen uns erneut auf in die Ungewissheit. Doch keine Sekunde sehe ich Angst oder Zögern in Marlenas Blick. Mit bestimmten Bewegungen wickelt sie einen kleinen Kochtopf in einen schmutzigen Fetzen, den ich als ihre Hose wiedererkenne, die sie auf dem Weg anhatte, und knüpft das Bündel außen an ihren schwarzen Rucksack. Es dauert keine zehn Minuten bis wir bereit zum Aufbruch sind. Wir beide werden langsam ein eingespieltes Team, was zusammenpacken und abhauen betrifft. Mit wenigen geschickten Bewegungen befreie ich den Mann aus seinen provisorischen Fesseln und bedeute ihm, voranzugehen. Nach einem letzten Blick auf die halb verwitterte Holzhütte zwischen den Bäumen, lächle ich Marlena aufmunternd zu und stapfe neben ihr dem Alten hinterher. Mit ihr an meiner Seite ist das Leben eine einzige Aneinanderreihung von Überraschungen, Ungewissheiten und Kraftakten. Und doch kann ich mir kaum mehr vorstellen, wie ein Leben wäre, in dem ich sie nie kennen gelernt hätte. Und möchte das auch gar nicht. Habe ich das gerade wirklich gedacht?


Kapitel 6 – Marlena

Wir stapfen nun seit circa einer halben Stunde durch den sonnenbeschienenen Schnee, der unter jedem unserer Schritte vor Kälte knirscht. Ich fühle mich völlig ausgelaugt, jedoch nicht körperlich, sondern geistig. In etwa so, wie ich mich manchmal gefühlt habe, wenn ich den ganzen Tag lang nichts anderes getan habe, als zu lernen. Doch diese mentale Erschöpfung ist gerade um ein Vielfaches schlimmer. Immer wieder entgleitet mir mein Blick, wird unscharf und meine Augen drohen, zuzufallen. Und so versuche ich standhaft, mich auf den alten Mann vor mir zu konzentrieren, während ich viel zu oft blinzle, doch meine Augen brennen trotzdem wie verrückt.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst erschöpft aus.« Vorsichtig streift Valentins Arm den meinen. Unsere Schultern berühren sich durch die dicken Jacken hindurch und ein beruhigendes Wärmegefühl lullt meine Gedanken ein. Ich bin sogar zu müde, um ihn auf Abstand zu halten.

Ich nicke. »Alles okay. Aber ja du hast recht. Ich bin, warum auch immer, ganz schön geschafft. Ich hoffe, wir haben keinen Tagesmarsch vor uns.«

Der Mann hat nicht gesagt, wie weit es zu seinem Unterschlupf sein würde. Nachdem Valentin ihn losgebunden hatte, hat er uns lediglich zu erkennen gegeben, dass wir ihm folgen sollen, und dann ist er auch schon schweigend losgestapft.

Ich weiß nicht, woran es liegt, doch weder Valentin noch ich, haben genauer nachgefragt. Valentin wirkt generell gerade sehr in sich gekehrt. Ich mustere ihn von der Seite. Keinesfalls unauffällig. Doch er scheint meinen analysierenden Blick nicht zu bemerken. Auf seinen Zügen liegt eine hilflose Gleichgültigkeit, die mir überhaupt nicht gefällt. Nicht nur, weil ich mich bislang immer auf sein Durchhaltevermögen und seinen Kampfgeist verlassen konnte, sondern auch, weil man Gefühle nun mal nicht einfach so abschalten kann. Es waren nur wenige Tage, in denen wir uns nähergekommen sind. Und doch haben mir diese Tage so viel bedeutet. Er hat mir viel bedeutet. Und auch jetzt ist er mir alles andere als egal. Ich konnte früher nie verstehen, wie Menschen immer noch zu ihren Lieben halten können, wenn diese schreckliche Dinge getan haben. Doch jetzt befinde ich mich in einer ähnlichen Situation und auch ich schaffe es nicht, Valentin als kaltes Monster zu sehen. Ich meine, ja, ich kann mich nicht selbst belügen: Er hat Menschen getötet. Doch ich sehe so viel mehr in ihm: ich sehe seine Fürsorge, mit der er sich um mich gekümmert hat, als ich ihn immer und immer wieder von mir gestoßen habe. Ich sehe die Angst um mich in seinen Augen, als ich mich selbst beinahe aufgegeben habe. Ich sehe den Blick, den er mir zugeworfen hat, bevor wir uns das erste Mal geküsst haben, so voller Glück und Zuneigung. Ich sehe in ihm einen Beschützer, doch ich sehe auch ein egozentrisches Arschloch. Und ich sehe, wie er Menschen das Leben raubt. Und doch kann ich immer noch nicht sagen, was davon er ist, und zwar sein wahres Selbst, und was davon die Marionette der praeditii iuveni ist, zu der sie ihn über die Jahre geformt haben. Hin und wieder stelle ich mir vor, wie ich ihre Fäden durchschneide und ihn von ihrem Einfluss befreie. Und doch weiß ich nicht, ob das noch möglich ist, oder ob er dieses grausame und gewaltreiche Leben nicht bereits viel zu sehr verinnerlicht hat, als dass man es gänzlich von ihm entfernen könnte. Ich muss an einen Parasiten in seinem Körper denken, der sich schon viel zu stark ausgebreitet hat. Ein Schütteln jagt durch meine Glieder beim Versuch dieses eklige Bild aus meinen Gedanken zu verdrängen.

»Kommst du, Marlena?« Valentins Stimme reißt mich aus meinen Grübeleien. Ich habe wohl immer mehr getrödelt und so schließe ich nun hastig zu den beiden Männern auf.

»Wo führen Sie uns überhaupt hin?«, fragt der jüngere den Alten.

»Das habe ich euch doch bereits gesagt, Jungchen: zu mir. Du solltest wirklich besser aufpassen, wenn jemand mit dir spricht«, tadelt der Ältere ihn.

Valentin seufzt genervt auf, verkneift sich aber einen beleidigenden Kommentar, auch wenn ich mir sicher bin, dass er ihm bereits auf den Lippen lag.

»Ich wollte doch nur wissen, wo es langgeht und wie weit es dorthin ist.«

»Kinder, folgt mir einfach, ich weiß schon, wo wir hinmüssen. Und quengelt bloß nicht herum, wir sind da, wenn wir eben da sind.«

Ich hasse dumme Antworten auf ernst gemeinte Fragen. Kurz berühre ich Valentins Arm, um still seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich verdeutliche ihm so gut es geht mit einem Schulterzucken und gleichzeitigem Kopfschütteln, dass er es bleiben lassen soll. An diesem alten Mann beißt er sich sonst noch die Zähne aus. Alles verschwendete Energie. Energie, die wir sicherlich brauchen werden.

Auch ich frage mich, wie lange wir noch weiterwandern sollen. Inzwischen ist die Nässe des Schnees durch das Kunstleder meiner Stiefel gedrungen und meine Socken und Zehen sind starr vor feuchter Kälte. Mit Verbissenheit versuche ich, meine Zähne am Klappern zu hindern. Unvermittelt komme ich ins Straucheln, fange mich aber wieder. Es ist als würde mein Gehirn einfach nur noch schlafen wollen und meinen Körper gegen meinen Willen dazu drängen, schlapp zu machen, obwohl wir kaum mehr als eine Stunde unterwegs sein können.

Der Horizont verliert immer mehr seine Farbe, während die Sonne hinter den Bäumen unterzugehen droht. Es muss beinahe siebzehn Uhr sein. Durch all die Zusammenbrüche und Überraschungen des heutigen Tages haben wir viel Zeit verloren. Mit einem Knurren erinnert mich mein Magen daran, dass wir auch von unserem Mittagessen abgehalten worden waren und somit heute kaum etwas zu uns genommen haben. Immerhin haben wir den Hasen mitgenommen und so ist er nicht völlig umsonst Valentin zum Opfer gefallen. Doch das Essen muss warten, bis wir endlich den Unterschlupf des Alten erreicht haben. Es graut mir vor der Nähe dieses Mannes, zu groß ist die Angst, dass er mich wieder in meine Traumwelt verbannen könnte und ich das nächste Mal nicht mehr zurückfinde. Und doch kann ich es nicht erwarten, ein Dach oder Ähnliches über dem Kopf zu haben und die Wärme eines prasselnden Feuers zu spüren.

»Wir sind da!«, verkündet der Alte in diesem Moment lautstark und lässt mich dadurch aus meinen Gedanken hochschrecken. Unsicher blicke ich zu Valentin, doch auch er mustert die Umgebung argwöhnisch, während kaum mehr Sonnenstrahlen übrig sind, die uns Licht spenden könnten. Es ist zwar fast dunkel, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass ich mich nicht irre: da ist weit und breit nichts weiter, als eine Lichtung, auf der rein gar nichts zu sehen ist. Zumindest nichts, das einem Unterschlupf auch nur im Geringsten nahekäme.

Schon hat Valentin wieder das kleine Messer gezogen und zeigt damit drohend auf die Brust unseres selbsternannten Reiseführers. »Verarschen können wir uns selbst. Ich würde Ihnen raten, uns ganz schnell zu sagen, was hier los ist, sonst ist der Schnee hier gleich rot statt weiß.«

»Du bist genauso blind wie sie. Siehst nur mit deinen Augen anstatt mit deinem Herzen und deinem Geist.« Verrückterweise legt der Alte seine Hand an Valentins Brust, dort wo sein Herz in rhythmischen Schlägen gegen seine Rippen hämmert. Ungläubig und etwas beschämt zieht der Mann seine behandschuhten Finger zurück. »Vergiss das mit dem Herzen …«, murmelt er vor sich hin. »Aber worauf ich hinauswollte«, fährt er fort, »ist, dass nicht alles immer so sein muss, wie es den Anschein macht. Nennt es Zauberei, Illusion oder was ich hier am passendsten finde: Magie. Aber tut es nicht immer gleich als Unsinn ab, nur weil ihr es nicht in zwei einfachen Sätzen erklären könnt. Merkt euch das gefälligst.«

Als wolle er die Luft um uns beschwören, hebt er beide Hände und formt mit seinen Lippen stumme Worte, dann fasst er Valentins und meine Hand und zieht uns ein paar Schritte mit sich. Schon beim nächsten Herzschlag frage ich mich ungläubig, ob er mich schon wieder in einen Traum katapultiert hat. Doch hier sind kein Boden aus Marmor und keine hohen und hallenden Wände. Dafür erscheint vor unseren Augen wie aus dem Nichts eine kleine Blockhütte, aus hellen Holzstämmen gefertigt. Zuerst kann ich nur die Umrisse erkennen, dann wird das Bild schärfer und mir fallen immer mehr Details auf. Warmes, flackerndes Licht scheint durch ein quadratisches Fenster. Zarte Rauchschwaden wandern aus dem steinernen Schornstein in den dunklen Himmel hinauf. Der Mann lässt uns los und geht auf die Hütte zu. Staunend folgen ihm Valentin und ich, Seite an Seite. Kaum treten wir neben ihn, hebt der Alte die Arme erneut, nur um sie dann schwungvoll gen Boden zu senken und kurz den Schnee unter unseren Füßen mit seinen Handflächen zu berühren. Ein kurzer, kraftvoller Windstoß lässt meine dunklen Haare um meinen Kopf aufwirbeln.

»Was … wie?«, versuche ich zu erfragen, um diese Situation begreifen zu können. Der Mann ist bereits an der Haustüre angelangt und zieht einen kleinen, gusseisernen Schlüssel hervor, der perfekt ins Schloss passt. Kurz wendet er sich zu uns um.

»Eine Art Schutzzauber, der ungebetene Gäste in die Irre führen soll. Ein ehemaliger Bekannter hat mir ein auf mich geprägtes Artefakt überlassen, auf dem der Zauber ruht. Ohne wäre ich wahrscheinlich schon lange gefunden worden.« Er tut es mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab, als hätten wir gerade über das Wetter gesprochen. »Und jetzt kommt endlich, Kinder. Mir ist kalt. Immer hinein in die gute Stube.«

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen, auch wenn mir dieser Mann mehr als nur ein wenig suspekt und unheimlich ist: Die Kälte und die Ausweglosigkeit treiben uns förmlich in seine Arme.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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441 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783954528363
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