Читать книгу: «Tiloumio»

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Table of Contents

Thrillerband eBook 1

KOVD Online

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Die Autorin

Literatur Guerillas


Thriller eBook

Band 1

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by KOVD Verlag, Herne

Artwork: Björn Craig


Nachdruck und weitere Verwendung

nur mit schriftlicher Genehmigung.


ISBN: 978-3-969-44504-4


Es ist stockdunkel. Und irgendwo in dieser Dunkelheit wartet seine Überraschung, so wie sie es ihm gesagt haben. Sein Geruchssinn verrät ihm, dass er nicht alleine ist. Die Luft ist stickig und angstgeschwängert. Es ist die Art Luft, die ihm vertraut ist. Doch jetzt ist in ihr eine Nuance enthalten, die er nicht kennt. Ein künstliches Aphrodisiakum vielleicht, oder eine bestimmte Aura, die von Angst zeugt.

Er tastet sich langsam vor und kommt sich plötzlich so lächerlich vor wie beim Blinde-Kuh-Spiel, das er früher in der Schule spielen musste. Ein dummes Spiel, bei dem die anderen Kinder ihn gezwungen hatten, eine erbärmliche Tiermaske aufzusetzen, um blind ein paar Gegenstände zu ertasten, und natürlich … ihm hatten sie eine Nacktschnecke in die Hände gedrückt. Wie er die kleinen Weiber mit ihrem dämlichen Gekicher in seiner Klasse dafür gehasst hatte. Doch das ist lange vorbei, und er beginnt sich wieder auf das zu konzentrieren, was irgendwo vor ihm ist.

Das Nachtsichtgerät ist ihm verboten worden, angeblich, weil er sich so mehr über die Überraschung freuen würde. Er weiß aber nicht, ob er sich wirklich freuen soll. Eher hat er das Gefühl, dass sie ihm mit der Freude, die sie ihm machen wollen, zu viel zumuten. Trotzdem tastet er sich weiter voran, folgt dem Geruch nach Angst und stößt mit den Händen auf einen haarigen Widerstand. Atemgeräusche sind zu hören. Sie kommen stoßweise, und er spürt den warmen Hauch an seiner Hand, als er das Gesicht unter den Haaren abzutasten beginnt. Sein eigenes Keuchen übertönt fast den Lebenshauch des kleinen Schatzes, der vor ihm sitzt. Es ist ein Mädchen. Und er weiß auch ganz genau, welches.

Er beißt sich selbst in den Handrücken, um nicht einen Freudenschrei auszustoßen, denn das würde den kleinen Schatz nur erschrecken, und er will nicht, dass sie sich erschreckt. Bemüht darum, seine Hände nicht hektisch werden zu lassen, streicht er dem Kind über das Gesicht, über die Haare und erkundet schließlich den Rest.

Das Mädchen hält die Beine fest umschlungen und versucht das Gesicht zwischen den Knien zu verstecken. Es zittert und scheint voller Unverständnis für das, was ihm widerfährt.

Vorsichtig setzt er sich neben die Kleine und ergreift ihre Unterarme. Sie sind kalt und kommen ihm erstaunlich zerbrechlich vor. Es erfolgt kein Versuch, ihn abzuwehren. Nichts dergleichen geschieht. Sie hält den Kopf weiterhin gesenkt. Er lässt ihre Arme los, und sie fallen schlaff zur Seite. Ermutigt von ihrer Widerstandslosigkeit steht er auf und drückt ihre Beine auseinander, ohne dass Gegenwehr erfolgt. Keine Bewegung, nicht einmal ein Schrei oder ein Wimmern. Nichts.

Erneut beginnt er, sie abzutasten. Zuerst das Gesicht, weil er kaum glauben kann, dass es tatsächlich das Mädchen ist, das er bisher für unerreichbar gehalten hat. Unter seinen Berührungen fängt es an zu blinzeln. Das merkt er an den langen Wimpern, die seine Handinnenfläche kitzeln.

Seine Hände streichen über ihren Oberkörper, der ebenso fragil ist, wie die Arme. Es trägt ein Hemd und eine Hose aus dünnem, rauen Stoff, und er kommt nicht umhin, sich vorzustellen, dass auf dem Hemd kleine Herzen gedruckt sind, und dass derjenige, der so einem kleinen Mädchen Hemden mit Herzen kauft, eigentlich liebevoll sein sollte. Dabei weiß er genau, dass es nur so gekleidet ist, weil es für Kinder nichts anderes zum Anziehen gibt, weil die Hersteller davon ausgehen, dass sie nichts anderes verdient haben, als geliebt zu werden. Aber diese Annahme ist ein Trugschluss, sonst wäre sie nicht hier. Sie sind allesamt Prinzessinnen in einer Welt voller Gräuel. Eine Welt, dessen hässliches Gesicht mit Herzen übertüncht wird.

Obwohl … er liebt sie doch. Ihren goldigen Atem, ihre Angst und das Kitzeln ihrer Wimpern. Dieses Mädchen ist anders als die anderen, und deshalb will er mit ihr besonders behutsam umgehen. Sie ist zu klein für all das Schreckliche. Zu jung, und das erfüllt ihn mit Wut. Warum tun sie ihm und ihr das an?

Er streichelt ihr sanft über den Kopf und greift zaghaft in die langen, seidigen Haare. Sie riechen nach einer undefinierbaren Frucht. Ein Gemisch aus Pfirsich und Vanille vielleicht.

Es hebt den Kopf und versucht sich offensichtlich in der Dunkelheit zu orientieren. Vielleicht möchte es ihn ansehen, aber da es stockdunkel ist, hebt es die Hände und tastet nach seinen Armen. Er lässt es gewähren und ist ergriffen von dieser zutraulichen Neugier, die nichts weiter ist, als die Hoffnung, mit ihm auf jemanden gestoßen zu sein, der es aus der Schwärze befreit. Doch den Gefallen kann und will er dem Mädchen nicht tun.

Es gibt einen verzweifelten Laut von sich, bis er begreift, dass es weint, was Gefühle in ihm auslöst, die er noch nie zuvor verspürt hat.

Am liebsten würde er ihr sagen, dass er nichts Böses will und ihr nur beibringen möchte, dass es keinen Zweck hat, sich über irgendetwas auf dieser Welt zu freuen. Er weiß, dass das Leben nicht viel für sie bereithalten wird, und er will sie lehren, sich daran zu gewöhnen. Es ist nur zu ihrem Besten. Doch selbst wenn er ihr das sagen würde, würde sie ihn nicht verstehen.

Du süßes, kleines Ding, denkt er. Wenn ich dir doch nur sagen könnte, dass wir mehr gemeinsam haben, als du glaubst. Ich merke dir an, dass dich niemand lieb hat und dass du verloren bist. Das Einzige, was ich für dich tun kann, ist, dich ein bisschen zu begleiten. Ich werde in Zukunft öfter vorbeikommen.

Das will er wirklich. Die Welle, die in ihm losgetreten wird, will sich nicht zurückziehen. Das Mädchen hat etwas in ihm ausgelöst. Ein Gefühl der Verbundenheit. Sie ist wieder verstummt, und als er sie hochnimmt und an sich drückt, spürt er, dass es keinen Hass, Ekel oder Verachtung in sich trägt, wie bei denen, die ihm sonst zugespielt werden. Bei ihr ist nur Angst und Verwirrung. So wie vor vielen Jahren bei ihm. Die Verbundenheit, die er fühlt, wird bestätigt, indem sie seine Arme um seine Schultern legt und den kleinen Kopf an seinen Hals drückt. Eine Welle der Erregung erfasst ihn, aber sie ist längst nicht so übermächtig, wie die Mitleidswelle, die er für dieses kleine Mädchen verspürt. Deshalb trägt er sie in der Finsternis umher, genießt ihr Zutrauen und denkt darüber nach, was er ihnen sagen wird. Sie werden merken, dass er einen Narren an der Kleinen gefressen hat, und dann muss er verdammt gute Argumente vorbringen, um sie öfter besuchen zu dürfen.

Er weiß nicht mehr, wann er das letzte Mal so ein Glück gehabt hat. Es ist so lange her, dass er sich schon daran gewöhnt hat, dass, immer wenn er seine Schicksalskulptur perfektioniert hat, ein Hindernis kam und sich wie ein Hammer in sein Werk rammte. Aber dieses Glück, das er gerade verspürt, soll nicht zerstört werden. Er überlegt fieberhaft und fragt sich, ob er zum Narren gehalten wird. Hat jemand die Faszination in seinen Augen gesehen? Neulich, als sie zum ersten Mal das riesige Haus betreten hatten und das Kind auf den kalten Fließen des Wohnzimmers spielte. Wahrscheinlich hatte er es ein wenig zu lange angesehen. Denn die Mutter hat es auf den Arm genommen und ins Obergeschoss gebracht, wo es zu weinen anfing. Warum auch immer. Es war das übliche Kinderweinen, in dem aber etwas mitschwang, das ihn wehleidig werden ließ. Es gibt keinen Zweifel. Sie hatten ihm angesehen, dass die Kleine ihn nicht kalt lässt, und wollten ihm eine Überraschung machen.

Die Überraschung ist ihnen gelungen, aber zu welchem Preis?

Plötzlich geht die grelle Deckenbeleuchtung an. Das kleine Mädchen macht sich steif und fängt an zu wimmern.

»Ganz ruhig«, sagt er.

Er spricht mit ihr in seiner Sprache und weiß, dass sie ihn nicht versteht. Aber zumindest der Tonfall soll sie zur Ruhe bringen. Er mag zwar ihre Angst, aber sie soll nicht daran zerbrechen. Noch nicht.

Die Mutter kommt in den Raum und zerrt ihm das Kind aus den Armen.

»Genug jetzt«, giftet sie, und im ersten Augenblick glaubt er, dass sie wütend auf ihn ist.

Aber dann registriert er, wie sie dem kleinen Mädchen eine Ohrfeige verpasst und etwas sagt, was er nicht versteht. Er wagt nicht, dazwischen zu gehen. Er kennt die Frau noch nicht gut genug.

Nur eines weiß er; sie ist ein Vulkan, und gleichzeitig hat sie einen eisigen Blick. Er mag sie nicht, aber er kann sich nicht erlauben, sie das spüren zu lassen.

Ihr Ehemann kommt dazu. Zumindest geben sich die beiden als Paar aus. Er hat von Anfang an zugänglicher gewirkt, als die Frau, und daher wagt er es, etwas zu sagen.

»Sie ist zu jung«, knurrt er kaum verständlich.

»Ihr wird nichts geschehen, falls du das meinst. Aber wir brauchen sie für andere Zwecke.«

Die Antwort reicht ihm fürs Erste. In seinem Kopf schwirren merkwürdige Gedanken umher. Im Magen kündigt sich ein unangenehmes Flattern an und er überlegt krampfhaft, wie er die Kleine öfter sehen kann. Zumindest das. Er möchte sie sehen, und er will nicht, dass sie irgendwann nur noch eine Erinnerung ist. Dafür ist sie zu wertvoll.

Nach einem Augenblick beginnt er innerlich zu jubeln, denn jetzt weiß er, wie er das anstellen wird.


Gott ist mir schon immer auf die Nerven gegangen. Er hat sich mir bisher nur gezeigt, wenn er seinen Frust an jemanden auslassen muss. Und dafür scheine ich die perfekte Zielscheibe zu sein. Ich hasse das und will dem ein Ende setzen. Aber ich habe wahrscheinlich zu lange gebraucht, um zu begreifen, dass ich eventuell die Chance für eine Aussöhnung mit Gott niemals bekommen werde. Es sei denn, dass mir mein Vorhaben gelingt. Mein letzter Versuch, mit ihm und mir selbst Frieden zu schließen, steht bevor. Jetzt, wo ich endlich die Möglichkeit habe, etwas selbst entscheiden zu können. Wie Gott darauf reagieren wird, steht in den Sternen. Es wird nur zwei Möglichkeiten geben. Entweder ich finde einen Sinn oder sterbe. So einfach ist das.

Ich starre aus dem Fenster, hinunter auf die Straße und zum Meer, das glatt und grau wie gegossener Beton zwischen den Bergen liegt. Von draußen sind keine Geräusche zu hören, nur das leise Ticken der Küchenuhr dringt an meine Ohren. Es erscheint mir fast ohrenbetäubend, jetzt, wo ich mich beruhigt habe und mein Entschluss, alles hinter mir zu lassen, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Mein Herz hämmert schmerzhaft gegen die Rippen, und ein mieses Kribbeln hat sich in meiner Magengegend festgesetzt.

Ein Containerschiff bahnt sich seinen Weg durch den Sund in das offene Meer. Ich sehe dem trägen Koloss dabei zu, wie er langsam aus meinem Blickfeld verschwindet. Wenn ich das Fenster geöffnet hätte, wäre mir das Dröhnen der Schiffsmotoren aufgefallen. Es wäre ein leises, tröstliches Geräusch gewesen.

Ich richte mich auf. Das Kribbeln in meiner Magengegend verwandelt sich in Übelkeit, die ich zu ignorieren versuche. Ich lasse meinen Blick über das Chaos schweifen, das ich in der letzten Stunde verursacht habe. Es wird meinem Vater mit Sicherheit noch lange in Erinnerung bleiben, sobald er wieder da ist. Es geschieht ihm recht.

Die umgeworfenen Möbel, die Scherben des Porzellans auf dem Küchenboden, die aufgeschlitzte Couchgarnitur. All das spiegelt wider, wie es in mir aussieht. Dieses zerrüttete Gefühl kommt einem Erdbeben gleich, und niemand, der nicht dasselbe erlebt hat wie ich, wird es mir nachempfinden können.

Ich schnaube verächtlich, schnappe mir meinen Rucksack und steige über das Chaos. Als ich an der Küchenanrichte vorbeikomme, greife ich nach einem Topf, der in der Spüle liegt, und schleudere ihn mit aller Kraft gegen das Küchenfenster. Es zerbricht mit einem lauten Knall, ein Regen funkelnder Glassplitter fliegt durch die Luft.

»Viel Spaß beim Aufräumen, du feige Sau«, brülle ich ins leere Haus, knalle die Haustür hinter mir zu und werfe den Schlüssel achtlos ins Gras.

Ich brauche ihn nicht mehr.

Erst als ich in meinem Van sitze und die Insel verlassen habe, wird mir bewusst, dass ich über all die Jahre hinweg nur funktioniert und mich insbesondere in den letzten Jahren in einem tauben und desolaten Zustand befunden habe. Es ist mir plötzlich unverständlich, wie die Zeit vergehen konnte, ohne dass ich es gemerkt habe.

Die Arbeit in der Fabrik hatte ich nach dem Wehrdienst wieder aufgenommen, doch sie war mir wie eine Zwangsjacke vorgekommen. Die Frage, ob das nun alles in meinem Leben gewesen sein sollte, keimte immer häufiger auf, bis ich schließlich zu dem Entschluss gekommen war, dass es das Beste ist, sich abzusetzen. Neben der Straße begleitet ein rauschender Bach meine Fahrt gen Osten. Ich halte an und betrachte das Wasser, wie es mit brachialer und rücksichtsloser Gewalt über Felsblöcke schlägt. Mein Leben ist mindestens genauso außer Kontrolle, wie die Wassermassen, die an mir vorüberrauschen. Ich wünsche mir, dass mein Leben mehr einem breiten Flussbett gleicht, das dem Wasser genug Spielraum lässt, um sich entfalten zu können.

An meinem achtzehnten Geburtstag wurde ich mit einer Wahrheit konfrontiert, die mich ins Bodenlose hat stürzen lassen. Nicht, dass mein Leben vorher einfach gewesen wäre, aber das, was ich erfahren musste, hatte den Rahmen des Erträglichen eindeutig gesprengt. Während andere Jugendliche ihre Volljährigkeit feierten, hatte ich erleben müssen, wie es ist, wenn man seiner Identität beraubt wird. Es war ein beschissener Arbeitstag gewesen. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Es hatte wie aus Eimern gegossen, und ich bin völlig durchnässt zu Hause angekommen, wo mich ein unangenehmer Empfang erwartete. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich noch ein Junge im Grundschulalter war und meine Schwester das Ganze noch nicht verstand. Sie war zu jung gewesen. Jedenfalls waren wir bei unserer Mutter geblieben, da unser Vater schon damals regelmäßig sein Geld auf den Trawlern verdiente, die vor Grönland ihr großes Glück in Form eines großen Fanges suchten. Wir waren nur unregelmäßig bei ihm, und trotzdem war die Zeit bei ihm immer schöner gewesen, als in dem unpersönlichen, steril wirkenden Haus, das wir mit unserer Mutter und ihrem neuen Lebensgefährten Erik bewohnten.

Ich kam also zu Hause an und wurde von meiner Mutter mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht begrüßt. Hinter ihr stand Erik, der keine Miene verzog, und mir einen Koffer vor die Füße stellte.

»Du wirst auf der Stelle mein Haus verlassen. Du bist jetzt volljährig, und deine Mutter wird nicht mehr länger für dich sorgen, du Bastard.«

Seine Worte waren so kalt wie eh und je gewesen. Anders kannte ich das von ihm nicht. Wenn ich meinen Stiefvater beschreiben soll, dann fallen mir nur zwei Worte ein: kalt und zornig. Dasselbe gilt für meine Mutter, die, wie mir später einmal gesagt wurde, gar nicht meine leibliche Mutter ist. Damals war ich so perplex, dass ich nicht verstanden habe, was es mit dem Bastard auf sich hatte. Ich war nicht in der Lage gewesen, nachzufragen und habe es einfach geschehen lassen, als Erik mich am Arm gepackt und vor die Haustür gestoßen hatte. Das Lachen meiner vermeintlichen Mutter begleitete sein Tun und ich hatte es aus Angst und Scham so hingenommen. Wie immer.

Das war der Beginn meiner Odyssee gewesen, in der mein Job und meine winzige Wohnung im Bootshaus die einzigen Konstanten gewesen waren. Meinen Vater hatte ich zu der Zeit gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Ich hasste ihn, und tue es noch. So sehr, dass die Wut in mir einer regelrechten Ohnmacht gleichkommt, sobald ich an ihn denke.

Ein einziges Mal habe ich meinen Mut zusammengenommen und die offene Konfrontation mit ihm gesucht. Aber weil ich mit meinen Beleidigungen und Faustschlägen auf beschämende Weise ins Leere gelaufen war, habe ich keinen weiteren Versuch mehr gestartet.

Ich hätte wissen müssen, dass mein Vater stärker war als ich. Er hielt meine Arme ohne Mühe fest und verwies mich mit seiner nüchternen und verschlossenen Art einfach des Hauses, indem er mich vor die Haustür schob und sie vor meiner Nase zuknallte.

Danach hatte er jedoch mehrere Versuche gestartet, mit mir ins Gespräch zu kommen. Doch ich konnte ihm immer wieder ausweichen, bis auf das eine Mal, wo ich mich betrunken in die Koje meines Bootes gelegt hatte und mein Vater mich zufällig entdeckte, während ich meinen Rausch ausschlief. Er war mit mir aufs offene Meer gefahren, und nachdem ich mich über die Reling gebeugt hatte, um mir die Seele aus dem Leib zu kotzen, war ich gezwungen gewesen, ihm zuzuhören.

Letztendlich hätte er sich die Mühe sparen können. Schließlich wusste ich nach dem Monolog meines Vaters immer noch nicht, wer meine leibliche Mutter war, denn sie hatte sich schon zu Beginn der kurzfristigen Affäre mit falschem Namen ausgegeben, sodass die Suche nach einer Nina Kusavik ergebnislos blieb. Sie hatte mich eines Nachts bei meinem Vater abgegeben und war wortlos verschwunden. Somit war sie zu einer fiktiven Gestalt geworden, die sich, seit mein Vater mir von ihr erzählte, in meine Träume gebrannt hatte. In diesen Träumen jagte ich ihr hinterherher, doch sie verschwand immer wieder in unruhige Schatten.

Ich starte den Motor und setze meine Fahrt fort. Ich werde wohl drei oder vier Tage brauchen, bis ich am Ziel bin. Je nachdem, wie viele Zwischenstopps ich einlege. Ich habe keinen Zeitdruck. Es kommt mir vor, als ob ich in den Urlaub fahre. Eine Zeit, die endlos dauert, oder eben so lange, wie ich es will. Mir ist allerdings klar, dass das meine Finanzen nicht unbegrenzt mitmachen werden, aber darüber will ich mir vorerst keine Gedanken machen. Schließlich habe ich vor, mich für unbestimmte Zeit in der lappländischen Wildnis aufzuhalten, und dort werde ich kein Geld brauchen.

Ich habe niemandem gesagt, wo ich hinfahre und bin mir sicher, dass mich auch niemand vermissen wird. Mein Vater ist wieder auf See und wird erst in ein paar Wochen feststellen, dass sein Haus verwüstet ist. Und meinen Job habe ich gekündigt. Von den Kollegen wird also auch keiner nach mir fragen. Und von dem Rest meiner verrotteten Familie rede ich lieber nicht. Obwohl ... die Einzige, die mein Verschwinden bemerken wird, ist Turia. Ich habe ihr nichts gesagt, weil es mir schwergefallen war. Vor ein paar Tagen bin ich noch mit ihr im Atlantahavspark gewesen, weil sie dort einen jungen Schweinswal aufpäppeln.

Ich konnte es ihr nicht sagen, als sie die Hand in das kalte Becken hielt und der junge Wal darunter hindurchschwamm. Sie wäre mit Sicherheit nicht so unbekümmert gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ich fortgehe, obwohl sie meinen Drang, mich in der Wildnis zu verstecken, kennt. Sie weiß genauso gut wie ich, dass in der Einsamkeit keine Zwänge auf mich warten, und dort meine unaussprechliche Wut auf mich und die Welt nicht zwischen den Wänden gesellschaftlicher Werte und Normen eingesperrt wird.

Das Gefühl von Freiheit hatte Turia letzten Sommer selbst kennengelernt, als sie mit mir auf dem Boot durch die Fjorde geschippert war.

Mein Boot gleicht mehr einer Nussschale. Und trotzdem bietet es mir so viel Sicherheit, dass ich darauf in der Lage bin, mir die Schuhe auszuziehen. Auf dem Meer gibt es niemanden, der mich bedroht und vor dem ich nur mit Hilfe meiner Schuhe entkommen kann.

Mein schlechtes Gewissen beginnt, sich wie überkochende Milch in mir breitzumachen.

Die Freude über die erworbene Freiheit ist plötzlich wie weggeblasen, und ich habe das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben.

Im Grunde genommen bin ich genauso egoistisch wie mein Vater, indem ich mich einfach auf und davon mache, ohne darüber nachzudenken, was ich Turia damit antue.

Ich steuere die nächste Parkbucht an, krame mein Handy aus dem Handschuhfach und wähle Turias Nummer. Während ich das Freizeichen höre, lege ich mir noch schnell zurecht, was ich ihr sagen soll. Ich will ihr verschweigen, dass ich auf unbestimmte Zeit weg sein werde. Auch das mit der verwüsteten Bude werde ich für mich behalten. Das wird sie noch früh genug erfahren.

»Hallo«, höre ich ihre dünne Stimme.

»Hey. Hey Turia«, sage ich hastig und versuche, meine Nervosität zu verbergen. »Du, ich bin für ein paar Tage weg. Ich fahre in die Berge nach Jotunheimen«, lüge ich und merke, dass ich zu schnell rede. Für einige Sekunden bleibt es am anderen Ende der Leitung still.

»Nach Jotunheimen? Aber, warum sagst du mir das erst jetzt?«, fragt sie entgeistert.

»Ich ... ich muss einfach mal raus und hab mir drei Wochen Urlaub genommen.«

»Drei Wochen«, ruft Turia erstaunt, »und wo bist du jetzt?«

»Ich ... ich bin schon auf dem Weg. Im Romsdal«, antworte ich wahrheitsgemäß. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass sie angefangen hat zu weinen.

»Bitte weine nicht«, sage ich, nachdem ich mich von meiner Erstarrung gelöst habe. Ich will nicht, dass sie weint. Nicht nur ihrer selbst willen, sondern auch, weil ihre Tränen mein schlechtes Gewissen schüren.

»Es sind doch nur drei Wochen. Hast du vergessen, was ich dir damals versprochen habe? Damals im Bootshaus, weißt du das noch?«

»Ich weiß«, sagt sie mit tränenerstickter Stimme, »aber ich habe kein gutes Gefühl. Da ist etwas. Was ist … wenn dir was passiert?«

»Mir wird schon nichts passieren«, versuche ich sie zu beruhigen, »du weißt doch, dass ich auf mich aufpassen kann. Ich werde mich ab und zu bei dir melden, dann weißt du, dass es mir gut geht.«

»Du wirst keinen Empfang haben. Nur gelegentlich, und dann ist es wahrscheinlich schon zu spät. Da ist etwas ...« Ihre Stimme klingt dumpf und desillusioniert. So, als ob sie eine ihrer diffusen Vorahnungen quält. Bei dem Gedanken daran wird mir kalt.

»Was meinst du damit? Es ist dann zu spät?«, frage ich unsicher.

Sie gibt mir darauf keine Antwort und sagt stattdessen: »Versprich mir noch etwas, bevor du weiterfährst.«

»Ja?«

»Versprich mir, nie den Helden zu spielen und deine Entscheidungen zu überdenken, bevor du sie in Taten umsetzt.«

»Das verspreche ich dir. Und nicht nur das, ich schwöre es dir,«, sage ich mit beinahe feierlicher Stimme.

»Das ist gut. Dann werden wir uns wiedersehen.«

»Ja, das werden wir. Wenn du mir versprichst, auch auf dich aufzupassen«, sage ich leise.

»Ich werde die Zeit schon irgendwie überstehen«, bekomme ich zur Antwort.

»Okay, ich werde mich wieder bei dir melden.«

»Aaron?« Ihre Stimme klingt plötzlich angsterfüllt. »Aaron. Ich hab dich lieb. Vergiss das nie, nie, niemals.«

Ich höre es knacken im Hörer. Sie hat aufgelegt. Ich sitze noch lange da und starre mein Handy an. Turia hat mir noch nie so unmissverständlich klar gemacht, dass sie mich liebt. Ihre Worte berühren mich unangenehm und lassen fast Schamgefühl in mir aufkommen. Im Allgemeinen hat mich das Gespräch aufgewühlt. Es ist die Art, wie sie gesprochen hat. Turias Stimme klingt immer so eigenartig, wenn sie ihre Ahnungen von Dingen preisgibt, die ich nicht fassen kann.

Ich denke noch eine Weile darüber nach, komme aber zu dem Schluss, dass meine kleine Halbschwester einfach ein wenig verwirrt ist, und dass es ihr nicht gutgeht, weil ihre Mutter wieder betrunken ist.

Jedenfalls bin ich froh darüber, ihr Bescheid gesagt zu haben, auch wenn ich nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Sie hat mir meinen Entschluss nicht übelgenommen, und letztendlich behält sie Recht. Wir werden uns wiedersehen. Auch wenn ich noch nicht weiß, wann das sein wird.

399
477,84 ₽
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0+
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492 стр. 55 иллюстраций
ISBN:
9783969445044
Издатель:
Правообладатель:
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