Читать книгу: «Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel», страница 2

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Jezabel zögert einen Moment und sieht ängstlich zu Broaf, bevor sie den Stein entgegennimmt. Im selben Augenblick befindet sie sich auch schon an einem anderen Ort. Das kleine Mädchen sieht sich ängstlich um. Sie steht in einem undurchdringlichen, grauen Nebel und starrt auf den Stein, der trotz seiner Größe leicht und warm in ihren Händen ruht. Sofort verschließt sie die Augen, da sie nicht lang überlegen muss, welchen Ort sie wählt.

»Mein Hort soll wie der verzauberte Garten hinter Großmutters Haus sein«, flüstert sie.

Da sie trotz ihres jungen Alters über eine herausragende Vorstellungskraft verfügt, fällt ihr diese Imagination nicht schwer. Sie sieht die Rosenbäume, zwischen denen ihre Blütenschaukel hängt. Die Himbeerhecken, von denen sie das ganze Jahr naschen kann, und dann fügt sie noch Florence das Sonnentrichterorakel ein, mit dem sie so gern über ihre Märchenbücher redet. Plötzlich wird ihr kalt. Sie presst die Augen noch fester zusammen und stellt sich einen wunderschönen Sommertag vor. Als sie spürt, wie ihre Haut sich erwärmt, öffnet sie neugierig die Augen und kommt aus dem Staunen nicht heraus. Der graue, triste Nebel ist verschwunden. Sie steht nun inmitten eines wunderschönen Gartens, der dem hinter Großmutter Vettels Haus tatsächlich sehr ähnelt. Nur ein paar Kleinigkeiten, wie die Lollipopblumen und den großen Schmetterling, hat sie sich dazugedacht.

Trotz der einschlägigen Warnung ihrer Großmutter legt sie ihr Lythargium aber nicht sofort wieder ab, sondern hält es fest in ihren Händen, während sie neugierig durch ihren Hort schleicht. Hinter den Himbeerhecken entdeckt sie eine Marmorsäule. Intuitiv hebt sie den Gedankenstein hoch und setzt ihn auf die steinerne Einkerbung. Ein tiefer Summton erfolgt, worauf der Stein seltsam zu leuchten beginnt. Jezabel ist aufgeregt, da nun wunderschöne, kleine Sterne herausgewirbelt kommen, die um sie herumtanzen.

»Auch wenn Großmutter es verboten hat, möchte ich so gern meine Eltern wiedersehen. Was soll so schlimm daran sein?«, flüstert sie versonnen, während sie unbewusst an das alte Familienalbum denkt. Die einzige Möglichkeit der letzten Jahre, ihre Eltern zu sehen. Oma Vettel holt es an manchen Abenden hervor und erzählt ihr zu jedem Bild eine lange Geschichte.

Da bemerkt sie, dass sich hinter ihr etwas tut. Erschrocken dreht sie sich um und entdeckt an der Stelle, wo die Blütenschaukel hing, einen großen Tisch. Neugierig schleicht sie hinüber und findet darauf ein altes Fotoalbum, ähnlich dem ihrer Großmutter, üppig bestückt mit Fotos ihrer Eltern. Da wird dem Mädchen bang. Auch wenn sie noch fast ein Baby war, als diese verunglückten, vermisst sie sie sehr. Versonnen streicht sie über ein Foto, auf dem ihre Eltern sie glücklich anstrahlen.

»Fotos. Ich sehe euch immer nur auf Fotos. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie eure Stimmen klangen.«

Da kommt ihr eine Idee.

»Ich habe vorhin an ein Fotoalbum gedacht. Das ist es!«

Man sollte in diesem Moment vielleicht anmerken, dass Jezabel für ihr Alter sehr klug ist.

Das kleine Mädchen konzentriert sich und spricht laut:

»Ich möchte meine Eltern sehen! Aber nicht nur auf einem Foto. Ich will sie ein letztes Mal sehen und bei ihnen sein!«, ruft sie trotz der Warnung ihrer Großmutter fordernd in den Garten.

Plötzlich wird es düster und ein kühler Wind kommt auf. Der Ort verändert sich. Die Umgebung verschmiert vor ihren Augen und lässt die Farben verblassen. Jezabel fällt zu Boden und bemerkt, dass um sie herum alles viel größer wird. Aus weiter Entfernung hört sie aufgeregte Stimmen. Sie sieht sich panisch um und stellt fest, dass sie in einem Auto ist. Der Hort hat sie also in die Erinnerung geschleust, als sie ihre Eltern das letzte Mal sah.

Eine blonde Frau sitzt vor ihr auf dem Beifahrersitz und dreht sich ängstlich zu ihr. Während der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit das Auto manövriert, löst sie den Gurt und kriecht zu dem Mädchen. Jezabel folgt den Blicken ihrer Mutter, die fortwährend mit angstverzerrter Miene aus dem Fenster sieht. Die Bäume, die sie durch das Fenster sehen kann, fliegen immer schneller an ihnen vorbei. Und sie bemerkt noch etwas, das nicht in diese Landschaft passt. Riesige, schwarze Vögel, die in unmittelbarer Entfernung neben ihnen herfliegen und fürchterlich kreischen.

»Du brauchst keine Angst zu haben, mein Schatz! Es ist nur ein Spiel! Hörst du. Versteck dich unter dem Sitz und verhalte dich ganz still! Mami hat dich lieb.«

Die Frau löst den Gurt des Mädchens und lächelt sie seltsam an.

»Mama. Diese Frau ist meine Mama! Aber wovor hat sie Angst?«

Jezabel versucht sie zu berühren, aber ihre Mutter drückt sie sanft unter den Sitz und legt ihren Zeigefinger an die Lippen. Dann setzt sie sich wieder zu Jezabels Vater, der sich umdreht und ihr beruhigend zuzwinkert.

»Keine Angst, kleine Prinzessin. Diese Hexen kriegen uns nicht!«

Jezabel hat aber Angst! Sie versucht ihren Eltern etwas zuzuschreien, aber die können sie nicht hören, da sie sich in ihrer Vergangenheit befindet und deshalb nicht eingreifen kann. Ein paar Worte, die ihre Mutter ständig wiederholt, merkt sie sich:

Dunkler Phad, Darania, Marla, Legende und Skulks.

»Skulks!«, kreischt die junge Frau hysterisch, dann folgt ein dumpfer Schlag.

So als wäre etwas Großes auf das Autodach gefallen. Ängstlich presst Jezabel die Hände vor die Augen und schreit: »Aufhören!«

Und im nächsten Moment ist es still.

Es dauert ein paar Sekunden, bis das kleine Mädchen sich traut, die Augen zu öffnen. Ganz langsam nimmt sie die Hände herunter und sieht sich ängstlich um. Sie ist wieder in ihrem Hort und liegt auf der Blütenschaukel. Ohne nachzudenken, springt sie auf und rennt zur Marmorsäule. Sie nimmt den Gedankenstein herunter und schmeißt ihn fluchend zu Boden. In diesem Moment steht sie wieder im Esssalon. Oma Vettel starrt entsetzt auf den Stein und dann zu ihrer Enkelin. Eine angespannte Atmosphäre beherrscht plötzlich den Raum. Jezabel hebt langsam den Kopf und sieht ihre Großmutter wütend an.

»Das ist also mein Geschenk? Weißt du was, das kannst du behalten! Ich hasse die Zauberei und den dunklen Phad hasse ich noch viel mehr! Meine Eltern sind gestorben, weil sie vor einer Hexe geflohen sind! Ich will keine dunkle Hexe werden. Ich will gar keine Hexe sein!«, schreit sie los und verschränkt trotzig die Arme. Oma Vettel schüttelt entsetzt den Kopf.

»Ich sagte dir doch, dass du den Stein sofort wieder ablegen sollst! Du hättest dich in dieser Erinnerung verirren können! Was …«

Weiter kommt die alte Dame nicht. Jezabel hält sich die Ohren zu und rennt an ihr vorbei. Verzweifelt sieht Oma Vettel zu Broaf, der betroffen den Blick senkt.

»Ich werde niemals eine dunkle Hexe! Niemals!«, hören sie das kleine Mädchen immer wieder rufen, während es hinaus in den Garten rennt.

Jezabel wirft sich schluchzend auf die Blütenschaukel. Broaf folgt ihr besorgt. Bei ihr angekommen streicht er ihr sanft über den Kopf.

»Meine kleine Jezabel. Du weißt, wie schwer es deiner Großmutter fällt. Aber ihr seid an die Gesetze des Hexenrates gebunden. Du wirst sehen, wenn du erst einmal im dunklen Phad bist, wirst du schnell Spaß an der Zauberei finden.«

Jezabel springt auf und wischt wütend die Tränen aus dem Gesicht.

»Broaf, es ist mir egal, wie viel Spaß die Hexerei macht. Ich will keine dunkle Hexe werden! Ich will niemandem wehtun, verstehst du. Ich war in dem Auto und habe sie gesehen. Die Skulks! Meine Eltern haben geschrien und jetzt sind sie tot! Ich will keine Hexe sein. Bitte!«

Sie richtet sich auf und sieht ihm entschlossen in die Augen.

»Ich werde heute Nacht weglaufen und keiner wird mich jemals wiederfinden!«, fährt sie fort und wirft sich hoffnungslos weinend auf die Schaukel. Broaf nimmt sanft ihre Hände.

»Jezabel. Der Hexenrat wird dich überall finden. Egal, ob in dieser Welt oder im Zauberreich. Sie werden die Skulks losschicken und die können dich überall orten. Damals hatten wir Glück, das wir dich rechtzeitig aus dem Auto holen konnten. Aber es hat am Ende nichts geändert. Es tut mir sehr leid, kleine Fee, das hat keinen Zweck. Wir werden den Gesetzen leider folgen müssen.«

Jezabel fällt dem Diener schluchzend um den Hals. Ihre Großmutter, welche die ganze Zeit hinter dem großen Rosenbaum gestanden und alles mit angehört hat, stampft wütend auf den Boden, bevor sie aus ihrem Versteck hervortritt.

»Broaf, lass uns bitte einen Moment allein!«, sagt sie traurig.

Der Diener hebt das kleine Mädchen auf die Schaukel zurück und geht ins Haus. Jezabel bleibt mit gesenktem Kopf sitzen und schluchzt unaufhörlich. Ihre Großmutter setzt sich nachdenklich neben sie und nimmt sie schützend in den Arm.

»Meine kleine Prinzessin. Ich möchte, dass du weißt, wie stolz ich auf dich bin. Auch wenn du es jetzt noch nicht begreifst, aber du bist mir ähnlicher, als du glaubst. Ich habe deinen Vater verloren und noch viele andere geliebte Menschen, weil das Schicksal es so wollte. Ich habe dich aufgenommen und wusste, dass irgendwann der Tag kommt, an dem dein Gedankenstein gehoben wird. Ich hoffte nur, dass er uns etwas mehr Zeit gibt. Es ist alles sehr kompliziert, mein Kind. Aber da er im dunklen Phad gehoben wurde, darf der Hexenrat dich nun legal einberufen. Ich kann im Moment also nicht sehr viel für dich tun. Wie du weißt, bin ich an diesen Ort gebunden. Ich darf nicht in Xestha wohnen. Auch wenn es noch andere Möglichkeiten für dich gäbe, so wäre die Endstation immer das Zauberreich. All die Jahre habe ich gehofft, dass dir die Hexerei Spaß macht und du gern eine von uns werden möchtest. Ich hoffte, dass es mir dann leichtfallen würde, dich gehen zu lassen. Doch nun muss ich erkennen, dass dies eine falsche Hoffnung war. Es ist nicht alltäglich, dass eine junge Hexe die Magie ablehnt. Du bist eben etwas ganz Besonderes. In jeder Hinsicht. Dieser Umstand macht alles sehr kompliziert. Broaf hat recht. Wir haben keine Chance, uns gegen Daranias Gesetze zu wehren. Weglaufen ist leider auch keine Lösung, sie würden dich überall finden. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, dich vor einem Leben als Hexe zu bewahren. Aber die wird dir nicht gefallen und zudem mein altes Herz brechen.«

Jezabel richtet sich auf und sieht ihre Großmutter ungläubig an.

»Aber Großmutter, ich dachte, du bist gern eine Hexe des dunklen Phads. Ich habe doch all die Jahre gesehen, wie du mit Rosinante mächtige, böse Zauber vollendet hast. Ich verstehe nicht, was du meinst.«

Oma Vettel dreht sich zu ihrer Enkelin und nimmt ihre Hände.

»Das kannst und sollst du jetzt auch nicht verstehen. Aber ich will, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass du dich irgendwann wieder daran erinnerst.«

Jezabel stutzt einen Augenblick und schüttelt fragend den Kopf.

»Wieso sollte ich daran erinnert werden? Großmutter, was hat das zu bedeuten?«

Oma Vettel seufzt und stellt sie sich mit düsterer Miene vor ihre Enkelin.

»Alles, was ich will, ist dich zu retten. Ich liebe dich, Jezabel. Ich werde nicht zulassen, dass der Hexenrat dich auch noch bekommt! Irgendwann muss Schluss damit sein.«

Die alte Dame stemmt beide Beine fest auf den Boden und hält die Arme nach oben. Während sie traurig zu ihrer Enkelin sieht, ruft sie laut:

»Rosinante! Ardogo!«

Jezabel bekommt nun furchtbare Angst und springt auf. Durch eine kleine Geste ihrer Großmutter wird sie jedoch sanft in die Schaukel zurückgedrückt. Rosinante, Vettels alter Hexenbesen, kommt blitzschnell durch die Luft geflogen und lässt sich, mit dem Reisig nach oben, neben der alten Hexe nieder. Jezabel weiß genau, was das bedeutet, da sie ihrer Großmutter schon oft beim Zaubern zugesehen hat. In diesem Augenblick weiß sie jedoch nicht, was die Hexe vorhat, und das macht ihr Angst.

»Großmutter, was soll das?«, schreit sie verzweifelt.

Aber Oma Vettel antwortet ihr nicht. Sie nimmt den Besenstiel in die linke Hand und stemmt ihn mit voller Wucht auf den Boden.

»Stabigo«, ruft sie mit donnernder Stimme.

Ein mächtiger Sturm kommt auf, der das Mädchen noch tiefer in die Schaukel drückt. Rosinante leuchtet hell auf und verwandelt sich in ein elfenbeinfarbenes Zepter, das von einer großen, grünen Kugel gekrönt wird, die sich nun immer schneller dreht. Ein grelles, blendendes Licht schießt aus dem Boden.

»Ich rufe den Sturm und den mächtigen Blitz. Erhebt euch an meiner Seite mit all eurer Kraft. Ich bin eure Herrscherin und befehle euch, bringt die schwarzen Schatten der ewigen Nacht in meinen Kreis!«

Die Stimme von Oma Vettel wird lauter und dunkler. Der Sturm wird stärker und hat nun die Kraft eines Tornados. Wie ein wildes Tier windet er sich um die alte Hexe, die in seinem Zentrum steht und das Zepter weit in die Höhe streckt. Blitze zucken aus dem Boden und da öffnet sich die Erde vor der dunklen Hexe.

Jezabel würde gern weglaufen, kann sich aber nicht bewegen. Angst hat das kleine Mädchen nicht, die hat Oma Vettel ihr mit einer kurzen Geste genommen. Trotzdem hält sie sich die Ohren zu und kneift ihre Augen fest zusammen.

Aus dem Spalt im Boden kommen schwarze Schatten gekrochen, die bei jedem Licht, das die Blitze verursachen, vor Schmerzen laut aufstöhnen. Der Sturm saugt sie ein, sodass sie nun um Oma Vettel herumwirbeln. Die alte Hexe nimmt das Zepter in beide Hände und spricht einen dunklen Zauber.

»Gora et ut zor. Gora et ut biena!«

Ein gewaltiger Donner lässt daraufhin die Erde erbeben.

»Varda mon el bi gultanamo it diea.«

Ein greller Blitz fährt vom Himmel und hinterlässt den Geruch nach verbranntem Heu. Oma Vettel schließt die Augen und spricht mit dunkler Stimme.

»Vergiss, wer du bist! Vergiss, wer du warst! Von jetzt bis in alle Ewigkeit gehört deine Vergangenheit den schwarzen Schatten!«

Mit aller Macht stemmt sie das Zepter in den Boden. Der Sturm um sie herum verwandelt sich in eine gewaltige Feuersbrunst. Die dunklen Schatten reiten auf den glutroten Flammen und murmeln düstere Verse, die keiner menschlichen Sprache ähnlich sind. Oma Vettel nimmt das Zepter und streckt es erneut in die Höhe.

»Geht zurück, meine getreuen dunklen Diener, in eure lichtlose Welt.«

Ein letztes Mal stemmt sie das Zepter in den Boden. Die schwarzen Schatten werden von der rotierenden Kugel eingesaugt und dann ist es endlich vorbei. Es ist still, als wäre hier nichts Bedeutendes geschehen. Ein letzter greller Blitz zuckt auf und verwandelt das Zepter in den alten Reisigbesen zurück. Oma Vettel rennt zu Jezabel, die mit geschlossenen Augen auf der Schaukel liegt. Broaf kommt aus dem Haus gerannt und hebt den kleinen Körper hoch.

»Nicht so schnell, Broaf! Lass sie noch einen Moment hier liegen. Ich bin noch nicht fertig.«

Der Diener legt das Mädchen sanft zurück und tritt zur Seite. Er zittert am ganzen Körper und hat große Mühe, seine Tränen zurückzudrängen. Oma Vettel küsst ihre Enkelin behutsam auf die Stirn und hält beide Hände über sie.

»Geh in die grüne Kammer und bring mir den Würfel. Beeil dich!«, befiehlt sie Broaf mit bebender Stimme.

Der Diener macht aus Gewohnheit eine leichte Verbeugung und eilt in die grüne Kammer, die sich hinter den Himbeerhecken befindet. Ein paar Sekunden später kommt er mit einem Glaswürfel zurück, den er vorsichtig auf den Bauch des schlafenden Mädchens stellt. Im selben Moment öffnet sich der gläserne Würfel und faltet sich selbstständig auseinander. Er wird größer und größer, bis er den regungslosen Körper Jezabels gänzlich umschlossen hat. Oma Vettel und Broaf nehmen sich an die Hand.

»Dieser Kubus wird dich schützen. Er verhindert, dass dich die Skulks und diese widerlichen Gluggs finden können. Keine schlechte Energie tritt hinein und keine Gute kann heraus.«

Die dunkle Hexe tritt einen Schritt zurück und sieht zu Rosinante.

»Ardogo et Stabigo«, flüstert sie mit tränenerstickter Stimme.

Der Hexenbesen verwandelt sich in das mächtige Zepter und stellt sich neben ihr auf. Oma Vettel verbeugt sich vor ihrer Enkelin und spricht leise weiter.

»El livo grodano tu. Möge das Licht dich schützen!«

Anders als bei dem Vergessenszauber zischen nun keine grellen Blitze aus der rotierenden Kugel. Ein warmes, angenehm gelbliches Licht, umgibt Jezabels Körper, das mit dem gläsernen Schutzschild verschmilzt.

»Broaf, ruf bitte bei Mrs. Rogan an. Sag ihr, dass wir heute Abend Jezabel vorbeibringen. Sie möchte alle nötigen Papiere fertigmachen!«

Der Diener nickt und eilt zurück ins Haus. Oma Vettel setzt sich auf die Schaukel und legt den Kopf ihrer Enkelin vorsichtig auf ihren Schoß. Sanft streicht sie über das lange, hellblonde Haar des Kindes und weint.

»Ich hoffe, dass der Zauber stark genug ist, um dich vor Darania zu schützen, mein Engel. Ich schenke dir ein normales Leben, beraube mich dafür jedoch deiner Nähe. Ich werde dich niemals vergessen, kleine J.J.!«

Kapitel 2
Nach dem Vergessen und vor der Erinnerung

Knapp 8 Jahre später.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2011 und befinden uns in Marton, einer größeren Ortschaft auf der Nordinsel Neuseelands, die etwa zwanzig Kilometer nördlich der South Taranaki Bight liegt. Niemand Geringeres als der legendäre Seefahrer James Cook soll diesen Boden als erster Mensch betreten haben, weshalb die ansässige Privatschule auch nach ihm benannt wurde. Während des Schuljahres dient das Internat etlichen Kindern und Jugendlichen aus allen Teilen Neuseelands als zweiter Wohnsitz.

Es ist Ende Dezember und die großen Feiertage stehen vor der Tür. Für die meisten Schüler bedeutet das mehr als fünf Wochen Sommerferien, die sie bei ihren Familien verbringen können. Die letzte Unterrichtswoche steht folglich an, wobei die Internatsbewohner in Gedanken schon zu Hause sind. Alle außer Josie Jezabel Smith, die ihre Ferien auf dem Campus verbringt, den sie seit acht Jahren ihr Zuhause nennt. Soweit sie sich erinnern kann, lebt sie schon immer hier, da sie sich an die Zeit davor nicht erinnern kann. Aber J.J., wie sie alle nennen, ist glücklich.

Mittlerweile besucht sie die 8. Klasse und freut sich schon seit Wochen auf ihren 14. Geburtstag. Den will sie mit der Hausdame Pippa und deren Familie feiern, die sie liebevoll wie ein weiteres Familienmitglied behandeln.

J.J. ist für ihre außerordentlich kreative Begabung bekannt und wegen ihrer natürlichen, lockeren Art bei ihren Mitschülern eigentlich sehr beliebt. Das hellblonde Haar, welches ihre graugrünen Augen wie ein kostbares Gemälde umrahmt, wird ihr von vielen Mädchen geneidet. Für ihr Alter ist sie ziemlich groß, weshalb sie auf den ersten Blick recht erwachsen erscheint. Ihre temperamentvolle Art zu sprechen tut ihr Übriges.

Am liebsten trägt sie Jeans und individuelle T-Shirts, die sie selbst schneidert. J.J. ist sehr talentiert. Es spielt keine Rolle, welche Farben und Formen sie kombiniert, am Ende passt alles perfekt zusammen, und braucht den Vergleich mit Designermode nicht zu scheuen.

Seit zwei Jahren teilt sie sich mit Zoé, ihrer besten Freundin, ein Zimmer. Das quirlige Mädchen hat ebenfalls ein Faible für Kunst und individuellen Stil, den sie jedoch weniger in ihrer Kleidung auslebt. Zoé liebt verrückte Frisuren, weshalb sie ihre Freizeit meist mit abenteuerlichen Experimenten verbringt, um ihre Haarpracht zu verschönern. Im Moment trägt sie schulterlange Rastazöpfe, die sie erst vor drei Tagen grell pink gefärbt hat.

William und Felder vervollständigen die Clique um J.J.

William gilt an der Schule als Vorzeige-Nerd, was J.J. lediglich an seiner großen Brille festmachen möchte. Eigentlich ist er nämlich ein lockerer und lustiger Zeitgenosse, der sie mit trockenem Humor ständig zum Lachen bringt. William ist eben nicht der athletische Typ, sondern eher ein Philosoph, wie J.J. immer betont. Felder, der Vierte im Bunde, heißt eigentlich Barnabas Lionel Felder. Da er allerdings keine Lust auf die ständigen Hänseleien wegen seines Vornamens hat, stellt er sich immer nur mit Nachnamen vor. Im Gegensatz zu seinem bestem Freund ist er hochgewachsen und ein absoluter Spitzensportler. Er beschützt J.J. wie ein großer Bruder, ist jedoch seit Jahren heimlich in Zoé verliebt. Im Großen und Ganzen ist es eine Gruppe Teenager mit vielen Träumen und Problemen, wie wir sie in diesem Moment sicherlich an jeder Schule dieser Welt vorfinden würden.

Seit ein paar Monaten hat J.J. allerdings mehr Probleme, als sie gebrauchen kann, und ihre Träume sind alles andere als schön.

»Hey J.J., heute schon ein paar Leute in die Luft gejagt?«

Eine Traube kichernder Mädchen drängt sich dicht an J.J. vorbei. Die kneift genervt die Augen zusammen und holt tief Luft.

»Nein. Heute noch nicht. Aber wenn ihr eine Minute Zeit für mich hättet?«, zischt sie gereizt, bevor sie die Spindtür zuknallt und wütend durch die Gruppe trampelt.

Die Mädchen amüsieren sich köstlich und rufen noch ein paar alberne Beleidigungen hinterher, bevor sie nach anderen Opfern suchen, denen sie auf die Nerven gehen können.

J.J. stampft wütend den Gang hinunter und betritt wortlos den Klassenraum, wo Zoé sie schon sehnsüchtig erwartet.

»Na endlich! Wo warst du denn? Ich warte schon seit einer Ewigkeit auf dich«, fragt sie theatralisch.

J.J. schnaubt und wirft die Bücher auf den Tisch, ohne ihre Freundin anzusehen.

»Ich war bei Mrs. Rogan. Ausgleichsgespräch«, antwortet sie knapp und spitzt dabei die Lippen extra gekünstelt zu einem Schmollmund, sodass Zoé lachen muss.

»Wegen der Geschichte mit Britany?«, fragt sie besorgt.

J.J. räumt ihre Bücher ordentlich zusammen und lässt sich genervt auf den Stuhl fallen. Erschöpft legt sie den Kopf auf den Tisch und grummelt. Zoé starrt sie erwartungsvoll an.

»Ja und was hat sie gesagt?«, blafft sie neugierig.

J.J. mustert die Tischplatte und zuckt ratlos mit den Schultern.

»Britanys Eltern haben bei ihr angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Britany hat ihren Eltern erzählt, dass ich sie in die Luft sprengen wollte, und sie Glück hätten, dass sie noch am Leben sei. Mrs. Rogan wollte wissen, wie ich das angestellt habe. Was sollte ich darauf antworten? Britany äfft mich nach. Ich sage ihr, dass sie das lassen soll, weil ich ihr sonst etwas Schreckliches antue. Britany lacht mich aus. Ich werde sauer und peng, fliegt sie einen halben Meter durch die Turnhalle. Ende! Oh, Zoé. Was stimmt nicht mit mir? Ständig passieren mir irgendwelche dummen Sachen. Vielleicht bin ich verflucht?«

J.J. dreht sich hilfesuchend zu ihrer Freundin, die ihr beruhigend auf die Schultern klopft.

»Mach dir bloß keinen Kopf! Meine Mutter sagt, dass deine Hormone verantwortlich sein könnten. Wir kommen jetzt in diese weltbestimmende Phase und da passieren wohl viele dieser Dinge, die uns verunsichern.«

J.J. richtet sich ruckartig auf und sieht ihre Freundin verwirrt an.

»Du meinst also, meine Hormone sind schuld daran, dass Britany durch die Luft schwebt oder in Thalias Zimmer das Fenster von alleine aufgeht und alle Papiere wild durch das Zimmer fliegen? Oder, dass sich der Wasserhahn verabschiedete, als mich der dumme Joe belästigt hat? Na, dann hoffe ich mal, dass wir nicht alle gemeinsam in diese Phase kommen, sonst gibt das ein ganz schönes Chaos hier!«

Die Mädchen lachen laut auf und ziehen ein paar alberne Grimassen. J.J. ist froh, dass sie Zoé hat, da sie sich immer darauf verlassen kann, dass diese sie wieder aufmuntert. In diesem Moment kommt Mr. Muller, ihr Geschichtslehrer, in die Klasse. Die Mädchen mögen ihn sehr, da er seinen Schülern die Historie sehr lebhaft näherbringt.

J.J. versucht dem Unterricht aufmerksam zu folgen, ihre Gedanken schweifen jedoch immer wieder ab.

»Ich muss aufpassen!«

Ständig meldet sich ihre innere Stimme und befiehlt: »Pass auf dich auf!«

Aus Angst, dass ihr gleich wieder übel wird, stützt sie ihren Kopf in die Hände.

»Wenn ich nur wüsste, was mit mir los ist?«, denkt sie betroffen.

»Solang ich mich erinnern kann, bin ich in dieser Schule und hatte noch nie irgendwelche ernsthaften Probleme. Aber seit ein paar Monaten ist es wie verhext! Ständig gerate ich in kuriose Situationen, die ich mir nicht erklären kann. Mittlerweile tuschelt schon die halbe Schule über mich. Selena hat mich sogar gefragt, ob ich Drogen nehmen würde. Als ich ihr daraufhin ziemlich wütend meine Meinung geigte, ist die Thermoskanne in ihrer Hand geplatzt. Einfach so, in eintausend Stücke zersprungen! Sie hat mich mit großen Augen angestarrt und losgeschrien wie der Teufel. Gott sei Dank hatte sie ihre wasserfeste Jacke an und den heißen Tee nicht auf die Haut bekommen. Das war das erste Mal, dass ich in das Zimmer der Direktorin musste. Aber versuche mal jemandem zu erklären, dass du nichts damit zu tun hast, wenn vierzig völlig hysterische Mädchen das Gegenteil behaupten.

Und dann diese furchtbaren Träume. Ich träume oft ziemlich uncooles Zeug. Da sind diese grässlichen Kreaturen, die mit mir sprechen. Halbe Hunde, Geisterwesen, Krokodile, die fliegen können, Katzen, denen Klingen aus dem Kopf wachsen, und alle verschwinden in diesem schwarzen »Nichts«. Dieses schwarze Ding ist mir unheimlich, denn es scheint nach mir zu suchen. Es ruft mich! Irgendwie bin ich davon aber auch so fasziniert, dass ich ihm antworte und sage, wo es mich findet. Vielleicht werde ich ja verrückt?

Eilmeldung! Josie Jezabel Smith wird im Alter von vierzehn Jahren irre! Super Prognose!«

Ein heftiger Stoß in die Rippen reißt sie aus ihren Gedanken.

»Hallo J.J., alles in Ordnung mit dir?«, fragt Mr. Muller, der mit erwartungsvoller Miene vor ihr steht.

J.J. rappelt sich auf und sieht ihren Geschichtslehrer verlegen an.

»Tut mir leid, Mr. Muller. Ich glaube, ich konnte Ihnen nicht ganz folgen. Worum geht es noch?«

Mr. Muller setzt sich auf ihr Pult und wirft die Kreide leger wie ein Zirkusjongleur durch die Luft.

»Ich dachte eigentlich, dass du beim nächsten Geschichtsseminar deine Klasse vertreten könntest. Aber im Moment scheinst du nicht wirklich daran interessiert zu sein. Vielleicht holt dich ein Referat über die Unabhängigkeitserklärung zurück in unsere heiligen Reihen. Also, ich bin sehr gespannt darauf. In vier Tagen beginnen die Sommerferien. Ich würde ungern fünf Wochen darüber sinnieren, was du so herausgefunden hast. Also denke ich, dass du das Referat bis Donnerstag fertig haben solltest.«

Die Klasse klatscht und jubelt, während J.J. verlegen noch tiefer in ihren Stuhl rutscht.

»Fein, jetzt hat mich auch noch mein Lieblingslehrer auf seiner roten Liste«, denkt sie wütend und katapultiert ihre Bücher in die Tasche, als der Pausengong sie endlich aus dem Unterricht erlöst.

»Hey, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Kein Problem für mich«, bietet Zoé an, während sie krampfhaft versucht, ein natürlich wirkendes Lächeln in ihr hübsches Gesicht zu zaubern. Aber J.J. verdreht nur genervt ihre Augen.

»Ich denke, dass mir niemand helfen kann. Es sei denn, du kannst das Pech von meinen Schuhsohlen kratzen«, blafft J.J. beleidigt zurück.

Zoé sieht ihre Freundin sauer an und hebt abwehrend die Hände.

»Ich meinte eigentlich das Referat, das immerhin in drei Tagen fertig sein muss. Die Mappe für den Kunstunterricht sollen wir auch noch fertigstellen. Ich denke, du kannst mir sagen, wenn du aus dem Meer deines Selbstmitleides wieder herausgefunden hast. Ich gehe so lang schon mal auf unser Zimmer.«

Sie klopft ihrer Freundin noch kurz auf die Schultern und stampft genervt aus der Klasse. J.J. nimmt ihre Tasche und geht verlegen Richtung Speisesaal.

»Mal sehen, was Pippa heute gezaubert hat«, murmelt sie sich aufmunternd zu.

Als sie den großen Speisesaal betritt, bemerkt sie, dass sich die Hälfte der Schüler ein Stück zur Seite setzt, als hätten sie Angst vor ihr. Die hämischen Blicke, die sie sich verstohlen zuwerfen, unterstreichen ihre Annahme. Sie stockt einen Moment und schlendert dann extra lässig zur Essensausgabe. Sie ist heilfroh, als sie Pippa entdeckt, die ihre Kelle wie eine Trophäe in die Luft streckt.

»J.J., mein Liebes! Ich hoffe, du hast ordentlich Appetit mitgebracht! Ich habe heute nämlich dein Leibgericht gezaubert. Spaghetti mit Käsesoße und als Nachtisch gibt es meinen preisgekrönten Obstsalat. Also nimm dir den größten Teller und komm hierher.«

J.J. lächelt Pippa dankbar zu und geht zu dem Tisch mit dem Geschirr, wobei sie automatisch an Britany Hoilding und deren Freundinnen vorbeigehen muss. Nah genug, um die zickigen Bemerkungen ihrer Erzfeindin zu hören.

»Also, meine Eltern haben gesagt, dass ich mir von dummen Personen nichts gefallen lassen soll! Ich soll sie ignorieren, weil sie einfach unter unserem Niveau seien!«

J.J. tut so, als ob sie es nicht gehört hätte, und geht stur an ihnen vorbei. Gereizt schnappt sie sich ein Tablett und Besteck. Als sie damit zur Essensausgabe schlendert, blafft Britany, die lässig ihre frischlackierten Fingernägel begutachtet, weiter.

»Und! Menschen auf hinterlistige Art anzugreifen und durch die Luft zu schmeißen, ist so was von mehr als unter unserem Niveau! Einfach nur abartig und primitiv!«

Britanys Freundinnen nicken ihr bestätigend zu und kichern herablassend in J.J.s Richtung. Die hat die Nase nun gestrichen voll und geht schnurstracks auf Britany zu.

»Haben dir deine Eltern auch beigebracht, das Nachäffen dumm ist? Und! Dass es eigentlich unmöglich ist, dass eine Person, die einen Kopf kleiner ist und mindestens zehn oder zwanzig Pfund weniger wiegt, dich einfach mal eben durch die Luft schmeißt? Es tut mir wirklich leid, dass dieses phänomenale Ereignis stattgefunden hat, als ich gerade neben dir stand, aber ich habe dich noch nicht einmal angerührt! Du bist eine hohle Nuss, Britany Hoilding! Und! Das kannst du jetzt auch deinen Eltern erzählen!«

J.J. nimmt ihr Tablett und lässt Britany und ihre vier Freundinnen, die sie mit offenen Mündern anstarren, einfach sitzen. Kurz vor ihrem Ziel hört sie, wie sich ein Stuhl quietschend über den Boden schiebt, bevor die Stimme ihrer nervtötenden Mitschülerin erneut losdonnert.

399
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9783847606017
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