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VERLIERE DEN VERSTAND UND FANG AN ZU L(I)EBEN!

„Wow!“ Meine Freundin Ebrar saß mir auf meiner Couch im Wohnzimmer gegenüber und hielt mir ihren nackten Unterarm mit den aufgestellten Härchen entgegen. Ich bestaunte ihre Gänsehaut, die sich dort aufgrund ihrer emotionalen Ergriffenheit gebildet hatte, wie sie mir mit aufrichtiger Wertschätzung gestand. Es war Anfang November. Ich hatte gerade meine Bildschirmpräsentation geschlossen und die Generalprobe meines ersten Vortrags beendet, den ich in gerademal vierundzwanzig Stunden in Alims Bistro einem kleinen Publikum zum Besten geben würde.

„Klar unterstütze ich dich“, war Alims Antwort gewesen, als ich ihn vor einigen Wochen gefragt hatte, ob ich in seinem Lokal einen Vortrag halten dürfte. „Ist doch Ehrensache! Ich freu mich, wenn ich dir helfen kann, Annie.“

Obwohl ich die „Generalprobe“ soeben mit Bravour gemeistert hatte und das Feedback meiner Couchsurf- und Seelenfreundin äußerst positiv ausgefallen war, schnürte sich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Event vor Nervosität meine Kehle zu. Angespannt schluckte ich den Kloß im Hals hinunter.

„Jetzt hoffe ich nur, dass morgen mit der Technik alles klappt“, brachte ich knapp hervor, aber Ebrar nickte ermutigend und ich dachte dankbar an meinen Bekannten aus dem ortsansässigen Musikverein, der jetzt wahrscheinlich bereits auf dem Weg zu Alim war, wo ich ihn in einer Stunde treffen würde, um mit ihm die Tontechnik zu überprüfen. Es rührte mich, dass ich nicht nur mit Ebrar eine Weggefährtin an meine Seite gestellt bekommen hatte, die mich beim Erreichen meiner Träume und Visionen so liebevoll unterstützte, sondern dass seit geraumer Zeit auf unerklärliche Weise immer die passenden Menschen im genau richtigen Moment auf der Bildfläche meines Lebens erschienen, um mir zu helfen. Zumindest fiel mir das zu dieser Zeit zum ersten Mal bewusst auf.

„Verliere den Verstand und fang an zu l(i)eben!“ war kurze Zeit später in großen Buchstaben auf der heruntergelassenen Leinwand in einem Nebenraum des Bistro zu lesen. Etwas weiter unten bereitete in etwas kleinerem Schriftzug der Untertitel auf die Karikatur eines ängstlich dargestellten Hasen vor, dem Schweißperlen von der Stirn tropften: „Ein Angsthase erzählt, wie aus einem Nein zur Hochzeit ein Ja zur Liebe wurde.“ Testweise klickte ich durch die Seiten meiner animierten Bildschirmpräsentation, die knapp und bündig die Thesen meines Vortages enthielt. Dabei hatte ich auf eine angemessene Schriftgröße geachtet und mich auf das Wesentliche beschränkt, um den Zuhörer nicht mit zu vielen Informationen zu überfordern. So zumindest hatte ich es während meines Lehramtsstudiums in einem Seminar über Moderations- und Präsentationstechniken gelernt.

„Werde dir deiner Gedanken bewusst!“, lautete mein erster Appell an das Publikum. Ich selbst hatte es vormals als große Befreiung empfunden, immer tiefer zu verstehen, dass zwischen meinen Gedanken und Gefühlen und dem, was sich unmittelbar ereignete, ein Zusammenhang bestand. Vieles in meinem Leben hatte sich schlagartig entspannt, als ich anfing, dem unkontrollierten Geplapper in meinem Kopf lediglich zuzuhören, ohne mich länger damit zu identifizieren. Jedes Mal, wenn ich mir meiner negativen Gedanken bewusst geworden war, stellte ich mir einfach einen Papagei auf meiner Schulter vor, dem ich freundlich zurief: „Danke fürs Teilen!“ Weiter hatte ich versucht, auftauchende unangenehme Gedanken so lange umzuformen, bis sich angenehmere Gefühle dazu einstellten. In der Tat hatte sich mein Leben trotz der anhaltenden Trauer um die abgesagte Hochzeit während des vergangenen Jahres recht positiv verändert, und das hauptsächlich seit ich meine Gedanken bewusst in Bahnen lenkte, die mich vergnüglich stimmten. Dass ich in weniger als vierundzwanzig Stunden meinen ersten Vortrag halten würde, um die Freude, die ich empfand, an andere weiterzugeben, war ein Resultat dieser veränderten Denk- und Lebensweise.

Da ich selbst begonnen hatte, meine über Jahrzehnte unterdrückten Gefühle zuzulassen und einige davon bereits erfolgreich transformiert hatte, fasste ich unter der zweiten Aufforderung „Höre auf deine Gefühle!“ meine wichtigsten Erkenntnisse der vergangenen Monate zusammen. Dabei waren meine Ausführungen über natürliche Gefühle und unnatürliche Reaktionen größtenteils angeregt durch die Inhalte der Trilogie Gespräche mit Gott. Die Lektüre von Neale Donald Walsch hatte ich nach meiner Rückkehr von Schottland während meiner täglichen Spaziergänge im Wald regelrecht verschlungen, und deren Anwendungsversuche hatten in den vergangenen Monaten tiefgreifende Transformationen und beglückende Veränderungen in meinem Leben bewirkt. Mehr als einmal hatten mich die Inhalte zu Tränen gerührt, weil sich meine Seele offenbar an eine Wahrheit erinnerte, die weit über das hinausging, was mir von meinen Eltern beigebracht worden war, was mich das Christentum gelehrt hatte und was die Gesellschaft dachte.

Um meine Ausführungen über die Entwicklung von einer Partnerschaft der Bedürftigkeit hin zu wahrer Liebe auf den Punkt zu bringen, hatte ich unter der dritten Anregung meines Vortrags Liebe deinen Partner! eine kleine mit Klaviermusik untermalte Animation integriert. Auf dieses Filmchen hatte mich eine Couchsurf-Besucherin aus Taiwan gebracht, die im Sommer im Zuge ihrer Europareise einen Zwischenstopp auf dem Weg in den Schwarzwald bei mir eingelegt hatte. An ihrer Seite war ich, neben einem köstlichen taiwanesischen Gericht nach dem Rezept ihrer Großmutter, auch in den Genuss einer beglückenden interkulturellen Lernerfahrung gekommen. So hatten wir in einer gemeinsam entwickelten Unterrichtssequenz die feinmotorischen Fertigkeiten meiner Schüler nicht nur durch den adäquaten Umgang mit chinesischen Essstäbchen trainiert, sondern auch durch das Erlernen chinesischer Schriftzeichen. Vor dem Hintergrund unserer beruflichen Tätigkeiten hatten wir neben unseren pädagogischen Ansichten auch unsere Auffassungen hinsichtlich partnerschaftlicher Beziehungen miteinander geteilt. So waren wir auf die Kindergeschichte The MISSING PIECE meets the BIG O von Shel Silverstein gestoßen, die von einem Dreieck handelt, das sich als verlorenes Teil eines Ganzen sieht und sich auf die Suche nach seinem Gegenstück macht, um vollkommen zu werden. Erst durch die Begegnung mit dem BIG O lernt es schließlich, dass dauerhaftes Glück nicht von einem Partner abhängig ist, mag er sich auch noch so gut in die „Lücke“ einfügen. Vielmehr geht es darum, die eigenen Ecken und Kanten „abzurunden“ und so schlussendlich selbstständig durch das Leben zu „rollen“. Die Reise des MISSING PIECE erinnerte mich an meine eigene Sehnsucht nach einem passenden Gegenüber, an dessen Seite ich freudig und glücklich mein volles Potenzial leben könnte. Dass ich bis zum Zeitpunkt der geplanten Hochzeit wie die meisten anderen Menschen irrtümlich gemeint hatte, dieses Glück in einer anderen Person finden zu können, zumal ich mir meiner eigenen Schatten nicht bewusst gewesen war, hatte ich mittlerweile durchleuchtet. Die Erfahrung des vergangenen Jahres hatte mich zumindest Ansatzweise gelehrt, dass Zufriedenheit immer zuerst in einem selbst gefunden werden kann, und weil mich die animierte Geschichte ermutigt hatte, daran zu glauben, dass auch ich eines Tages ebenso leicht durch das Leben „rollen“ würde wie das BIG O, wollte ich anderen diese frohe Botschaft nicht vorenthalten. Eines Tages, so hoffte ich, würde die Liebe zu mir selbst die Suche nach Befriedigung im Gegenüber vollständig ablösen.

Betroffene Stille herrschte am darauffolgenden Abend in den Zuhörerreihen, nachdem die Klaviermusik des Videos verklungen und ein abschließendes Zitat, gefolgt von einer Danksagung eingeblendet worden war. Dann setzte der Applaus ein und schallte durch den Raum, der bis auf den letzten Platz gefüllt war.

„Du warst großartig!“, hörte ich meine Mutter mit einem stolzen Lächeln zu mir sagen, nachdem sie aufgestanden und zu mir nach vorne gelaufen war. Liebevoll drückte sie meine beiden Hände und schaute mir in die Augen. „Wirklich ganz große Klasse!“

Auch die übrigen Zuhörer hatten sich mittlerweile erhoben und verweilten noch ein wenig, um sich auszutauschen.

„Ich bin so stolz auf dich, Annie!“, hörte ich plötzlich eine männliche Stimme dicht neben mir. Sie war mir erst seit Kurzem vertraut. Ich wandte mich abrupt von meiner Mutter ab und fühlte überraschend einen feuchten Kuss, begleitet von einem schmatzenden Geräusch, auf meiner Wange. Beinahe blieb mir unter dem Druck der Umarmung, die unmittelbar folgte, die Luft weg. Ich blickte in das strahlende Gesicht eines Mannes, den ich erst wenige Wochen zuvor an Alims Tresen kennengelernt hatte. Bei einem Glas Tempranillo hatten wir eine rege Unterhaltung über New-Age-Literatur geführt und diese in der darauffolgenden Woche bei einem Besuch beim Italiener fortgesetzt.

Obschon ich den Austausch mit dem dickbäuchigen Engländer genossen hatte, fühlte ich jetzt, dass mir der Blick und die ungestüme Geste des Mannes Mitte fünfzig trotz anfänglicher Sympathie großes Unbehagen bereitete. Ich ertappte mich dabei, beim Betrachten seines unter dem karierten Hemd hervortretenden Bauches und seiner behaarten Arme plötzlich von Ekel beschlichen zu sein. Unbeholfen löste ich mich aus seiner Umarmung und wandte mich stattdessen meiner Freundin Ebrar zu, die mich und das Geschehen aus wenigen Schritten Entfernung beobachtet hatte.

Als ich am späteren Abend zusammen mit Ebrar und ein paar Besuchern noch ein wenig bei Alim am Tresen verweilte, fiel die Anspannung der vergangenen Stunden von meinen Schultern ab, und ein Gefühl von Stolz über meine erste gelungene öffentliche Vortragstätigkeit keimte auf. Was jedoch weiterhin blieb, war der Ekel, der mich überkommen hatte bei der Umarmung meines persönlichen Fans, der nun am anderen Ende des Tresens saß und dem ich kaum noch in die Augen schauen konnte. Es sollte nur wenige Wochen dauern, bis der Schleier vor meinen Augen verschwinden und ich verstehen würde, was es mit diesem Gefühl auf sich hatte …

DU BIST DAS LICHT

Die Scheinwerfer leuchteten mir den Weg durch die Dunkelheit auf dem Weg zu Philippe. Meine Stimme begleitete die Radiomusik, die bei maximal aufgedrehter Lautstärke aus den Boxen meines papaya-farbenen Kleinwagens namens Trevis drang. Die Leichtigkeit in meinen Körperzellen an diesem Abend zauberte ein Lächeln auf meine Lippen, und meine rechte Hand klopfte zum Takt der Musik an die filzbezogene Decke meines Fünftürers. Mit lautstarkem Juchzen verlieh ich immer wieder der Freude Ausdruck, die meinen gesamten Körper nach dem Besuch bei Kaya in fortlaufenden Wellen erfasste. Diese Frau war einfach der Wahnsinn! Seit der Empfehlung meiner Kollegin Cecilia hatte mich die tätige Heilpraktikerin durch die Höhen und Tiefen der vergangenen Monate begleitet und mir in ihrer „Kreativen Heilpraxis“ mit Homöopathie, schamanischen Reisen und Aufstellungsarbeit immer wieder geholfen, meine alten Muster zu erkennen und für mehr Gesundheit, Kraft, Freude und Gelassenheit den Schalter umzulegen.

Erfüllt von göttlicher Heilenergie und bedingungsloser Liebe saß ich eine Dreiviertelstunde später bei Philippe auf der stoffbezogenen Couch im Wohnzimmer. „Heute feiern wir in deinen Geburtstag rein. Hast du Lust?“ Ich hielt ihm freudestrahlend die Sektflasche entgegen, die ich aus dem üppigen Vorrat unserer abgesagten Hochzeitsfeier aus einer der Kisten in seiner Garage genommen hatte.

„Zu Kaya kannst du öfter gehen. Immer wenn du da warst, bist du so gut drauf.“ Philippe grinste und nickte der Flasche zu.

Ich krabbelte zu Philippe ans Fußende der Ottomane, schmiegte mich von hinten an seinen muskulösen Körper und küsste ihn liebevoll auf seine zarte Wange. Ich liebte seine cappuccinofarbene Babyhaut, die wegen seines spärlichen Bartwuchses besonders deutlich zu spüren war, wenn ich sie streichelte. „Darf ich dir ein Lied zeigen?“, flüsterte ich ihm behutsam ins Ohr. Ich beugte mich über seine Schultern zu dem Notebook auf seinem Schoß und gab „Gregor Meyle“ in die Suchmaschine ein.

Die Klavierakkorde drangen zuerst aus den Bluetooth-Lautsprechern, dann kam die Stimme des deutschen Musikers dazu:

Immer wenn wir glauben, dass wir angekommen sind,

immer wenn wir funkeln, wie die Augen eines Kindes,

immer wenn wir stolz sind auf uns selbst,

uns ein schwerer Stein vom Herzen fällt,

immer wenn wir Liebe in uns spüren,

sehen wir das Licht.

Meine Arme hielten Philippe fest umschlungen, als Gregor direkt aus meiner Seele sang. Nach meinem Besuch bei der Heilpraktikerin Kaya konnte ich dieses Licht endlich wieder in mir spüren. Ich fühlte mich wie eine Lampe aus Glas, die im Laufe der Jahre eingerußt war, sodass das Licht nicht mehr nach außen dringen konnte. An diesem Abend schien es, als wäre sie wieder ein Stück mehr vom Ruß befreit worden. Überhaupt hatte ich das Gefühl, mit jeder Behandlung, in der ich mich mit Kayas Hilfe den Schattenseiten meines Lebens zuwandte, würde das Glas ein klein wenig durchlässiger werden für die hellen Strahlen, die aus meinem Herzen in die Welt dringen wollten. Mit Tränen in den Augen lauschte ich dem Songtext, der perfekt auf mein gegenwärtiges Befinden abgestimmt schien:

Wenn all das, was vor dir liegt, auf einmal ´nen Sinn ergibt, dann

scheint durch die Dunkelheit am Ende das Licht,

denn du bist das Licht.

Rückblickend schien es mir nicht nur, als würde alles, was vor mir lag, plötzlich einen Sinn ergeben, sondern auch alles, was in der Vergangenheit geschehen war. Ich fragte mich, ob unser an Hollywood erinnerndes Beziehungsdrama des vergangenen Jahres möglicherweise in den größeren Plänen unserer beider Leben stand, und ob daraus etwas Neues hervorgehen könnte, das uns um ein Vielfaches mehr erfüllen würde als das, was wir bisher kannten.

Wie so oft nach einer Heilbehandlung bei Kaya spürte ich ein deutlicheres Ja zu Philippe und blickte voller Zuversicht auf das, was sich in meinem Leben ereignen würde. Ich war voller Hoffnung für uns und unsere Liebesbeziehung oder zumindest das, was wir gegenwärtig hatten, auch wenn es vor dem Hintergrund unserer gesellschaftlichen Prägungen schwer fiel, einen passenden Ausdruck dafür zu finden. Ich hatte den Eindruck, als würde ich mit dem kontinuierlichen Abtragen der „Schalen“, die sich im Laufe meines Lebens um meinen göttlichen Kern herum gebildet hatten, immer beziehungsfähiger werden. Vielleicht, so überlegte ich, war die Tragödie des vergangenen Sommers nötig gewesen, um zum nächsten Level in unserer Beziehung vorzudringen? Bei der Vorstellung, dass unsere Geschichte im Begriff sein könnte, langfristig einem Happy End entgegenzusteuern, wurde es mir warm ums Herz.

Als ich mich weit nach Mitternacht zu Philippe ins Bett legte und mich in seine Arme kuschelte, beschlich mich das Gefühl, es sei nicht nur Philippes Geburtstag gewesen, den wir um 0 Uhr mit einem tiefen Blick in die Augen und klingenden Gläsern gefeiert hatten. Ein Lächeln umspielte meine Lippen bei der Vorstellung, dass der romantische Auftakt in seinen Geburtstag gleichzeitig auch der Beginn einer neuen Ebene von Hingabe und Intimität zwischen uns sein könnte. Zumindest wünschte ich mir das von ganzem Herzen, und ich war fest entschlossen, alle Blockaden ein für alle Mal aufzulösen, die mich am Erreichen dieses Ziels noch hinderten.

ALLE WEISHEIT LIEGT IN DIR

Als ich am nächsten Morgen in Philippes Doppelbett erwachte, war das Glückgefühl des vorangegangenen Abends noch immer spürbar. Er hatte nach dem Duschen, als er noch einmal ins Schlafzimmer gekommen war, um sich in seinen Arbeitsanzug zu werfen und von mir zu verabschieden, eine Duftwolke hinterlassen, die ich genüsslich durch meine Nase inhalierte. Ich liebte seinen Geruch. Und ich liebte den Gedanken, nicht in die Schule zu müssen. Nach einigen emotionalen Tiefschlägen in den letzten Tagen, die erst mit dem Besuch bei Kaya zum Positiven gewendet werden konnten, war ich auch für diesen Tag noch krankgemeldet. Ich betrachtete es als großen Segen, den Tag in stabiler emotionaler Verfassung, hoher Schwingung und ohne berufliche Verpflichtungen verbringen zu dürfen.

Ich kuschelte mich noch einmal unter die rotgemusterte Bettdecke und war gerade im Begriff, mich wieder ins Traumland zu verabschieden, da ergriff ein Gedanke plötzlich Besitz von mir:

„Heute lasse ich mich von meiner inneren Führung leiten!“

Die Vorstellung, ausschließlich der Stimme meines Herzens zu folgen, erzeugte ein derart freudiges Gefühl in mir, dass die Müdigkeit blitzartig verschwunden war. Hastig warf ich die Bettdecke von mir, schnappte mir ein frisches Outfit aus dem kleinen Vorrat an Klamotten, der noch bzw. wieder hier im Kleiderschrank hinterlegt war, und sprang hellwach unter die Dusche.

In ein frisches Handtuch gehüllt spähte ich auf mein Handy und blieb am heutigen Datum auf dem Display hängen. Es war der Geburtstag meines Vaters. Es war der Geburtstag von Philippe. Und es war der Geburtstag meiner großen Liebe vor Philippe. Es war mir noch nie so aufgefallen wie jetzt, dass bei mir offenbar eine Tendenz bestand, mich in Männer zu verlieben, die am Geburtstag meines Vaters Geburtstag hatten. Lediglich bei meiner Jugendliebe, mit der ich im Alter zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren meine ersten Erfahrungen in Sachen Partnerschaft und Sexualität gesammelt hatte, war ich von diesem Muster um immerhin drei Tage abgewichen. Aber auch dieser Freund war, wie die anderen Herzensmänner in meinem Leben, im selben Sternzeichen geboren wie mein Vater.

Ich überlegte, was ich meinem Vater schenken könnte. Da fiel mir ein, dass meine gewissenhafte Schwester Marlene, die Erstgeborene der Vierlinge, bereits ein Geschenk für meinen Vater besorgt hatte, an dem ich mich beteiligen konnte. So lief das öfter bei uns: Einer von uns Geschwistern hatte eine Idee und besorgte das Geburtstagsgeschenk, und die anderen beteiligten sich an den Kosten, entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten. Meist war Marlene diejenige, der diese Aufgabe zuteilwurde, da sie erstens die besten Ideen hatte und zweitens das größte Verantwortungsgefühl besaß.

Für den heutigen Tag hatten meine Eltern ein „offenes Haus“ angekündigt. Wer zum Gratulieren erscheinen wollte, war zu jeder Zeit willkommen und wurde mit einem Glas Sekt und je nach Tageszeit mit einem kleinen Snack oder Kaffee und Kuchen begrüßt. Mir gefiel diese neue Ungezwungenheit des Kommens und Gehens, die im Vergleich zu dem bis dahin praktizierten Geburtstagsritual – Kaffeetrinken 15 Uhr, Abendessen 19 Uhr – mehr Flexibilität zuließ. Für den Fall, dass ich vor Marlenes Eintreffen im Haus meiner Eltern erschiene, machte ich einen Abstecher zum Lebensmittelmarkt und kaufte eine Tafel der Lieblingsschokolade meines Vaters (Vollmilch mit ganzen Haselnüssen), um nicht mit „leeren Händen“ aufzuschlagen. Die kurze Wartezeit an der überschaubaren Schlange vor der Kasse nutzte ich, wie so oft in dieser Zeit, dafür, die Frau an der Kasse in Gedanken mit magischem Glitzerstaub zu bestäuben, um ihr für ihre Dienstleistung zu danken. Als mir die sichtlich mürrisch dreinblickende Kassiererin den Preis nannte, schenkte ich ihr das bezauberndste Lächeln, das mein neu erwecktes Fülle-Bewusstsein zuließ, und erhielt sogar ein leichtes Lippenzucken zurück, welches man mit etwas Fantasie und gutem Willen als Lächeln verbuchen konnte.

Glücklich summend wollte ich gerade meinen Weg zum Haus meiner Eltern fortsetzen, als ich am Ende des Supermarktparkplatzes plötzlich auf die Idee kam, einen weiteren kurzen Abstecher zu machen, diesmal zum Friedhof, um dort einen kurzen Spaziergang in meine Tagesplanung einbauen. Wenn ich mich auf meine innere Führung verlassen konnte, würde ich vielleicht intuitiv das Grab von Philippes Großmutter ausfindig machen können. Philippe hatte seine Oma aufrichtig geliebt und mir oft von ihr erzählt. Im Grunde waren seine Erzählungen die einzige Grundlage für das Bild, das ich mir von ihr machen durfte, denn sie war bereits verstorben, bevor Philippe und ich uns kennengelernt hatten. Sie musste wahrlich ein toller Mensch gewesen sein, denn Philippes Augen strahlten jedes Mal vor Wertschätzung und Bewunderung für sie, wenn das Gespräch auf sie kam. Bisher hatten wir ihr noch nie gemeinsam auf dem Friedhof einen Besuch abgestattet, und jetzt hatte ich plötzlich das Bedürfnis danach.

Während ich mich über meinen Ideenreichtum freute, was die Gelegenheiten zum Trainieren meiner sensitiven Fähigkeiten anbelangte, ärgerte ich mich gleichzeitig darüber, dass mir der Name von Philippes Oma einfach nicht einfallen wollte, so sehr ich auch darum bemüht war, mich zu erinnern. Erst als ich meine Hand auf die Türklinke des kleinen Eisentores am Friedhofseingang legte, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die mir den Namen verriet. Verblüfft und erschrocken zugleich staunte ich über die doch noch pünktliche Informationslieferung meines Unterbewusstseins.

„Ich bitte meine innere Weisheit darum, mir dabei behilflich zu sein, das Grab von Helmine zu finden“, betete ich zu Gott, als ich über die schmalen Kieswege schritt. Ich schloss meine Augen und versuchte zu erspüren, wo sich das Grab befand. Blind folgte ich meiner inneren Führung jeweils solange, bis ich den Impuls verspürte, meine Augen zu öffnen, um zu überprüfen, ob mich meine innere Stimme richtig geleitet hatte – meist mit dem Ergebnis: Fehlanzeige!

Als ich das dritte Mal meine Augen aufschlug, hatte ich Helmine noch immer nicht gefunden, stattdessen fiel mein Blick auf einen winzigen Grabstein. Mir stockte der Atem. Ungläubig starrte ich auf die mit Sternmoos bewachsene Grabstelle: Ronald. Ich war fassungslos. Meine Intuition hatte mich zum Grab meines nur zwei Wochen alt gewordenen Bruders geführt. Die Jahreszahl, die unter seinem Namen angebracht war, stand sowohl für die Geburt als auch für den Tod des Säuglings. Gerademal vierzehn Tage hatte Ronald im Brutkasten der Säuglingsstation für Frühgeborene neben seinen drei Geschwistern überlebt. Trotz Beatmungsgerät, Infusionspumpen, Flüssigkeitszufuhr und Medikamentengabe hatte dann aber sein krankes Herz aufgehört zu schlagen und seine Seele den Körper wieder verlassen.

Ronald. Erst gestern hatte ich während meines Termins bei Kaya die Ankunft meiner Geschwister aufgearbeitet und insbesondere auch den Tod meines Bruders, der noch zusätzlich den Fokus meiner Eltern schlagartig von mir abgezogen hatte. Jetzt stand ich infolge meines Experiments an seinem Grab und hatte Gelegenheit, noch einmal in Liebe Abschied zu nehmen. Was für eine sensible Fügung! Ich legte meine Hände auf mein Herz, atmete tief ein und schickte der Seele meines kleinen Bruders so viel Liebe, dass mir ganz warm wurde. Wie mutig er doch gewesen war, meine Geschwister auf diesen Planeten und durch das Tor zum Leben zu begleiten. Vielleicht war genau das seine Lebensaufgabe gewesen. Im stillen Gebet nahm ich Kontakt mit ihm auf, und auf einmal wurde mir klar, dass mein intuitiver Umweg über den Friedhof einen anderen Grund gehabt hatte, als zunächst von mir angenommen: Sicher wäre es möglich und auch schön gewesen, das Grab von Philipps Großmutter ausfindig zu machen. Doch an diesem Vormittag hatte meine Seele andere Prioritäten gesetzt. Es war darum gegangen, Frieden zu schließen: Frieden mit dem Tod meines Bruders, aber auch mit meinen Eltern, deren Trauer um ihren Sohn ihr Herz schwergemacht hatte, sodass sie mir nicht die offenherzige Liebe entgegenbringen konnten, die ich im Alter von zwei Jahren so dringend gebraucht hätte.

Mit einem tiefen, friedlichen Seufzer öffnete ich meine Augen und verabschiedete mich mit einem letzten Blick auf das Grab von meinem Bruder. Dann verließ ich den Friedhof über den Haupteingang am oberen Ende, um den Weg zu meinem Elternhaus fortzusetzen.

„Die Annie ist’s“, hörte ich etwas später die heitere Stimme meines Vaters, nun etwas leiser an meine Mutter gerichtet, durch die Sprechanlage. Der Drücker summte, ich stieg die Treppe hinauf und schenkte meinem Vater, der mich in der Diele bereits freudig erwartete, eine Umarmung. Dann drückte ich ihm einen Kuss auf die bärtige Wange, gratulierte ihm zum Geburtstag und überreichte ihm die Schokolade.

„Dein Hauptgeschenk überreichen wir dir später, wenn die anderen kommen“, fügte ich erklärend hinzu. Ein Blick über seine Schulter ins Esszimmer hatte mir bereits verraten, dass noch keines meiner anderen Geschwister anwesend war.

„Lecker! Meine Leibspeise!“ Mein Vater grinste genüsslich und nahm dankend die Tafel entgegen. Dann führte er mich ins Esszimmer, wo meine Mutter in der angrenzenden offenen Küche mit den Vorbereitungen beschäftigt war. „Magst du einen Sekt mit uns trinken?“, fragte er mich und nahm eines der Gläser zur Hand, die meine Mutter auf der Durchreiche bereitgestellt hatte. Dies war wohl eher eine rhetorische Frage, denn mein Vater kannte mich und meine Vorliebe für das herbe, prickelnde Getränk, welches so schöne Bläschen aufsteigen ließ, besonders in Stielgläsern, die vorher im Kühlschrank gelegen hatten. Meine Stimmung lockerte sich jedes Mal merklich schon nach dem ersten Schluck.

„Hattet ihr heute schon Besuch?“, begann ich das Gespräch, was meine Mutter sogleich als Anlass nahm, mir von dem frühen Anruf ihrer angeheirateten neunzig Jahre alten Tante zu erzählen, die die beiden offenbar aus dem Bett geklingelt hatte.

Unsere Konversation wurde von einem Klingeln an der Tür unterbrochen. Das sympathische, befreundete Ehepaar meiner Eltern, welches kurz darauf im Esszimmer erschien, kannte ich von einer runden Geburtstagsfeier, bei der ich einst als Servicekraft ausgeholfen und mir dabei ein kleines Taschengeld verdient hatte. Amüsiert lauschte ich den Anekdoten aus früheren Urlauben, die mein Vater sichtlich vergnügt vor seinen Gästen zum Besten gab. In diesem Zusammenhang kam er auch auf seine Herkunftsfamilie zu sprechen und das Gespräch lenkte nun auf seine Kindheit.

Interessiert hörte ich mir seine Schilderungen an, aus einer Zeit, in der der Gewölbekeller noch dazu verwendet wurde, konservierte Lebensmittel zu lagern und die Vorräte für den Winter zu sichern. Offenbar war mein Vater derjenige in der Familie gewesen, dem am häufigsten die Aufgabe zuteilwurde, die Nahrungsmittel aus dem Keller zu holen, wohingegen sein Bruder diesbezüglich eher verschont worden war. Das Gespräch kam nun auf meinen Onkel. Ich empfand Mitgefühl für den weißhaarigen alten Mann mit der angeborenen geistigen Beeinträchtigung, die seit einigen Jahren zunehmend auch mit massiven Einschränkungen in seiner Bewegungsfreiheit einherging. Traurig dachte ich daran, dass seine geführten Seniorenreisen, an denen er regelmäßig mit spürbarer Freude teilgenommen hatte, seit seinem Einzug in das Altersheim weggefallen waren, und ich fragte mich, ob es überhaupt noch etwas gab, was das Leben des mittlerweile im Rollstuhl sitzenden Junggesellen lebenswert machte. In diesem Moment durchzuckte es mich wie ein Blitz, und ich wusste, wohin mich meine intuitive Reise als nächstes führen würde.

„Ich werde Onkel Albert heute Mittag im Altersheim besuchen“, unterrichtete ich meine Eltern, die mich überrascht ansahen.

„Wie kommst du denn darauf?“, wollte meine Mutter wissen.

„Ich habe ganz einfach Lust dazu“, gab ich zurück, ohne den beiden etwas von meinem Experiment in Sachen innerer Führung zu verraten. Tatsächlich konnte ich meine Entscheidung nicht plausibel begründen. Alles, was ich wusste, war, dass der Besuch meines Onkels den nächsten Programmpunkt meines Heute-lasse-ich-mich-von-meiner-inneren-Führung-leiten-Tages bilden würde.

Als ich mich auf den Weg zu meiner Dachwohnung machte, die keinen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt lag, fiel mir auf einmal die erwartete Postsendung ein, die laut Versandbestätigung des Onlineshops mittlerweile auf dem Weg zu mir war. Ein Blick in den Briefkasten zauberte ein Lächeln auf meine Lippen: Glücklicherweise war die Audio-CD der US-amerikanischen Sachbuchautorin, die mir in den vergangenen Monaten dank ihrer kraftvollen Affirmationen geholfen hatte, mein Leben positiv zu beeinflussen, schmal genug, um durch den Schlitz meines Briefkastens zu passen. Ursprünglich hatte ich das Hörbuch für Philippe zum Geburtstag bestellt, weil ich der Auffassung war, dass ein paar positive Affirmationen auch ihm nicht schaden könnten. Doch in der Zwischenzeit hatte ich meine Beweggründe für den Kauf noch einmal reflektiert und eingesehen, dass ich ihn nicht dazu zwingen konnte, sich seinen inneren Themen zuzuwenden und die gleichen Wege zu beschreiten wie ich. Welch glücklicher Zufall, dass mir nun eine Person eingefallen war, die sich vermutlich um ein Vielfaches mehr über das Geschenk freuen würde als Philippe!

Vorfreudig ging ich hinauf in meine Wohnung, um mein Mitbringsel in Geschenkpapier einzupacken und meine Autoschlüssel zu schnappen. Dann machte ich mich auf den Weg zum Seniorenzentrum, in dem mein Onkel neuerdings zu Hause war. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn dort besuchte. Meinen Rückweg von der Schule hatte ich schon einmal genutzt, um einen Abstecher zu ihm zu machen. Damals hatte er zusammen mit den anderen Heimbewohnern gerade beim Mittagessen im Speisesaal gesessen, und als wäre es etwas Besonderes, hatte er seinen Tischnachbarn voller Stolz erzählt, ich wäre Lehrerin. Als Geste der Dankbarkeit über meinen Besuch hatte er dann sein Dessert mit mir geteilt. Mit der Frage „Wie, Frau Lehrerin?“ hatte er sich nach meinem Befinden erkundigt und dabei über beide Ohren gestrahlt.

An diesem Freitag jedoch sah mein Onkel anders aus als bei meinem letzten Besuch: Teilnahmslos saß er in seinem Rollstuhl in dem kleinen Aufenthaltsraum auf der Etage, auf der auch sein Zimmer lag, und hatte die Augen geschlossen. Seine Freude über meinen Besuch war auch diesmal spürbar, aber seine Bewegungen waren schwerfällig und eine Unterhaltung war kaum möglich. Er öffnete mein Geschenk, bedankte sich kurz für die CD und erklärte mir bedauernd, dass er keinen CD-Player besäße. Während ich an dem Weihnachtsgebäck knabberte, das er mir angeboten hatte, und angestrengt versuchte, unser Gespräch aufrechtzuerhalten, fielen ihm seine Augen immer wieder zu. Als wir in sein Zimmer hinüberwechselten, erschrak ich innerlich, weil ich sah, welch große Mühe er hatte, sich aus seinem Rollstuhl zu erheben und sich mit seiner Gehhilfe über den Flur zu schleppen. Er kam mir kraftlos, abwesend und gebrechlich vor, und der offensichtliche körperliche und psychische Abbau seit meinem letzten Besuch ließ sich nicht leugnen.

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9783906212876
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