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IRRSEIN IST MENSCHLICH

Etwas nervös blickte ich in die Runde der Mitpatienten, die sich in einem Stuhlkreis im Dachgeschoss der Klinik für Allgemeine Psychiatrie versammelt hatten, und faltete das Blatt Papier mit der kleinen Geschichte über das Loslassen auseinander. Ich hatte mich mit dem Text auf die Sitzung vorbereitet, weil die Psychologin, welche die zweimal wöchentlich stattfindende Achtsamkeitsgruppe leitete, mich diesmal damit beauftragt hatte, kurzfristig für sie einzuspringen. Vermutlich wollte sie mich durch das Übertragen von etwas Verantwortung allmählich wieder auf den Einstieg ins Berufsleben vorbereiten – nach acht Wochen Aufenthalt.

Nach einigem Räuspern begann ich zu lesen:

Zwei Mönche befanden sich auf dem Weg zurück zu ihrem Kloster. Unterwegs kamen sie an einen Fluss, an dessen Ufer eine wunderschöne Frau in einem edlen seidenen Gewand saß. Es war offensichtlich, dass sie den Fluss nicht zu überqueren vermochte, ohne mitsamt ihrer Kleidung nass zu werden. Ohne lange zu überlegen ging der ältere der beiden Mönche zu ihr, hob sie auf ihre Schultern und watete mir ihr durchs Wasser. Am anderen Ufer angekommen setzte er die Frau behutsam ab. Unversehrt und trocken bedankte sich die Frau für die erhaltene Hilfe und ging ihres Weges. Nachdem sich die Frau verabschiedet hatte, setzten auch die beiden Männer ihren Weg fort. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Dann wandte sich der jüngere der beiden, den die Gedanken an die zurückliegende Hilfeleistung offenbar immer noch quälten, an seinen hilfsbereiten Bruder: „Warum hast du das getan? Du weißt doch, dass uns der Körperkontakt zu Frauen streng untersagt ist!“

Verwundert schaute der ältere Mönch seinen besorgten Bruder an und antworte ruhig: „ICH habe die Frau bereits vor Stunden am Ufer abgesetzt. DU scheinst sie hingegen immer noch zu tragen.

Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte und meine Stimme verhallt war, breitete sich Schweigen unter den altersgemischten Patienten aus, von denen die meisten unter sogenannten „monopolaren“ oder „bipolaren affektiven Störungen“ litten. Geduldig wartete ich auf einen Meinungsaustausch zum Inhalt der vorgelesenen Geschichte. Dabei fragte ich mich, wann es mir selbst gelingen würde, meine sorgenvollen Gedanken über die Vergangenheit und Zukunft abzustreifen und meine Aufmerksamkeit wieder darauf zu richten, was im Hier und Jetzt geschah. Von morgens bis abends war ich damit beschäftigt, mir den Kopf zu zermartern, was einer glücklichen Beziehung mit Philippe im Wege lag, warum es überhaupt so weit gekommen war und wie die Chancen für eine gemeinsame Zukunft ständen, wenn ich erst einmal herausgefunden hätte, was mich so quälte.

Die Klinik für Allgemeine Psychiatrie war in den vergangenen zwei Monaten zu meinem vorübergehenden Zuhause geworden. Meine Trauzeugin, in deren Wohnung ich nach der Trennung von Philippe kurzfristig untergekommen war, hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als in der Notaufnahme des Universitätsklinikums anzurufen, nachdem ich abermals ihren Küchentisch mit Tränen überflutet und weder ein noch aus gewusst hatte. Es hatte sich zwar bald herausgestellt, dass ich mit den Fragen, auf die ich verzweifelt eine Antwort suchte, am falschen Ort gelandet und das therapeutische Programm des psychiatrischen Zentrums nicht wirklich auf meine Bedürfnisse zugeschnitten war. Dennoch hatte mir die Klinik im Sinne einer Krisenintervention einen sicheren Rahmen gewährt, in dem ich nach dem inneren und äußeren Erdbeben ein wenig Halt gefunden hatte.

„Sie haben keine Depression, Frau Frank. Sie haben nur eine Krise“, hatte mir die Oberärztin im Beisein des aus Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeitern bestehenden Stationsteams während einer Wochenvisite erklärt. Diese Kategorisierung half mir in Anbetracht der inneren Leere und immensen Orientierungslosigkeit, die ich empfand, herzlich wenig, und ich fragte mich, ob die gescheite Schulmedizinerin auch noch einen Vorschlag parat hätte, welche Maßnahmen mir denn im Falle einer solch harmlosen Krise Linderung verschaffen könnten. Ich fühlte mich unverstanden, überfordert und auch fehl am Platz, obwohl sich diese Klinik immerhin einem „ganzheitlichen Krankheitskonzept“ verpflichtet sah, nur leider bei mir nicht. Ich wünschte mir einen Ort, an dem man meiner Situation mit Verständnis begegnete und der Ursache für meinen inneren Schmerz auch ganzheitlich auf den Grund ging. Da mich das Ärzteteam offensichtlich auch nicht darin unterstützen wollte, einen Antrag auf Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik zu stellen, blieb mir nichts anderes übrig, als meiner sogenannten „Nähe-Distanz-Problematik“ innerhalb der hiesigen Therapieangebote zu begegnen.

Gemäß der Empfehlung der ärztlichen Direktorin, dass nicht jedes Gefühl gleich in eine Entscheidung münden müsste, sondern erst einmal wahrgenommen und betrachtet werden könnte, versuchte ich, so gut es mir möglich war, mich von dem Druck zu befreien, in Bezug auf Philippe zu einem Entschluss zu kommen, und konzentrierte mich auf meine berufliche Wiedereingliederung, meine Wohnungssuche und auf die Themen, die mich innerhalb meiner Herkunftsfamilie beschäftigten. Mit Hilfe einer Sozialarbeiterin plante ich sukzessive meinen beruflichen Wiedereinstieg und erarbeitete ein passendes Modell für meine Rekonvaleszenz, welche mir erlauben sollte, mich später schrittweise meinem ursprünglichen Deputat wieder anzunähern. In den Pausen zwischen den Therapieangeboten durchstöberte ich am internetfähigen Stationscomputer Wohnungsinserate und vereinbarte erste Besichtigungstermine für meine therapiefreien Wochenenden.

Nach nur drei Besichtigungen in der näheren Umgebung hatte ich eine 2,5-Zimmer-Wohnung gefunden, die mir mit einer weitläufigen Terrasse, stimmungsvollen Dachschrägen und einem gemütlichen Kamin im Wohnzimmer ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Dass sie gerade mal etwa fünfhundert Meter Luftlinie von unserer neuen Doppelhaushälfte entfernt lag, beruhigte mich vor allem vor dem Hintergrund meiner aktuellen Angst vor dem Alleinsein. Mir war wohler bei dem Gedanken, meine eigenen vier Wände zu beziehen und gleichzeitig zu wissen, dass Philippe auch in räumlicher Hinsicht nicht weit entfernt war.

In den darauffolgenden Herbstferien, nach meiner Entlassung, bewältigte ich zusammen mit ein paar hilfsbereiten Familienmitgliedern, Freunden und Mitpatienten meinen Umzug. Philippe hatte mir zu diesem Zweck das Feld geräumt, um nicht mitansehen zu müssen, wie jene Möbelstücke, die ich erst vor gut einem Jahr in unser neu erbautes Zuhause hineingetragen hatte, samt seiner Ex-Verlobten ihn verließen. Als alles geschafft war und ich mich erschöpft zum ersten Mal in meinem neuen, noch spärlich eingerichteten Schlafzimmer in meine Bettdecke kuschelte, wurde mir bewusst, dass ich noch nie zuvor alleine gewohnt hatte. Während des Studiums war ich unmittelbar aus meinem elterlichen Zuhause aus- und mit meinem damaligen Freund zusammengezogen. Nach der Trennung hatte ich aus finanziellen Gründen einen BA-Studenten als WG-Partner in meine Wohnung aufgenommen und kurze Zeit später Philippe kennengelernt, der mich bald überredete, zu ihm zu ziehen, bis unser Haus bezugsbereit wäre. Allerdings hatte ich auch noch nie zuvor auf die Zustimmung und Anerkennung meiner Familie, Freunde und Partner verzichtet und die Freiheit genossen, die nur das Alleinsein hätte mit sich bringen können. In der Hoffnung, die Isolierung des Hauses wäre ausreichend gedämmt, um meine Klagelaute nicht bis zu den benachbarten Mietern neben und unter mir durchdringen zu lassen, weinte ich mich in den Schlaf – einsam, ängstlich und ohne die geringste Ahnung, wie ich meinen Weg durch die Dunkelheit ohne Weggefährten finden sollte.

ERWACHEN AUF SCHOTTLANDS COUCH

Den kommenden Jahreswechsel sollte es mich nach Schottland verschlagen. Schon lange hatte ich den Wunsch gehegt, die in den Schulbüchern abgedruckten Highlights wie Edinburgh, die Highlands und Loch Ness, welche ich als Englischlehrerin meinen Schülern vermittelte, selbst zu besuchen. Diesen Traum kombinierte ich mit meiner stetig wachsenden Neugier, Land und Leute mit Unterstützung eines virtuellen Gastfreundschaftsnetzwerks kennenzulernen. Ich fühlte mich angesprochen von der Idee, über eine Website Menschen ausfindig zu machen, die bereit wären, ihr Heim zu öffnen, indem sie Reisenden kostenlos eine Unterkunft zur Verfügung stellten und dadurch interkulturelle Begegnungen ermöglichten.

Ich musste nur eine einzige Anfrage stellen, um die positive Antwort einer jungen Schottin zu erhalten, die wiederum in einer Dachgeschoss-WG einer jungen Familie in Edinburgh wohnte. Scarlett war etwas jünger als ich und verfügte noch über keinerlei Referenzen auf ihrem Profil, da sie offenbar wie ich das Portal zum ersten Mal nutzte. Dennoch erschien mir das freundliche Lächeln auf dem Foto vertrauenswürdig, und auch die Beschreibung auf ihrem Nutzerprofil machte einen seriösen Eindruck. Und so kam es, dass ich mich wenige Tage vor Heiligabend mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem großen Rollkoffer im Schlepptau meinem vorübergehenden Schlafplatz im Stadtteil Bruntsfield näherte.

Scarlett entpuppte sich als eine liebenswürdige, schüchterne und eher introvertierte Person, die ihre freien Abende am liebsten in ihrem Zimmer verbrachte, um in der Bibel zu lesen. Mir kam diese Art von Abendgestaltung sehr gelegen, insbesondere weil ich seit geraumer Zeit das Lesen spiritueller Lebensratgeber mit philosophischem Hintergrund neu für mich entdeckt hatte. Auf meinem E-Book-Reader verschlang ich zu dieser Zeit bereits das zweite Buch von Robert Betz, dessen Worte auf ungewohnte Weise etwas in mir zum Schwingen brachten und mir darüber hinaus Hoffnung machten auf eine Möglichkeit, meine akuten Leidenszustände zu „transformieren“.

Froh um etwas Ablenkung und dankbar für Scarletts Gastfreundschaft begleitete ich meine Wohngenossin am folgenden Sonntagmorgen zum Gottesdienst der Freikirche, der sie angehörte, und genoss die Offenheit der Gemeindemitglieder beim anschließenden Brunch. Wenngleich die Gespräche an der Oberfläche blieben und mir die allgemeine Freundlichkeit etwas überschwänglich vorkam, fand ich Gefallen an den Begegnungen an der Seite von Scarlett, die mich von den Turbulenzen der vergangenen Monate etwas ablenkten und mich seltsamerweise sogar etwas zur Ruhe kommen ließen.

Am Abend des 24. Dezember liefen wir zu einer Kirche am unteren Ende der Bruntsfield Links, um am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Ich betrachtete den Schein der Kerze in meinen Händen, die als ein Zeichen des Friedens von meinem Sitznachbarn entzündet und an mich weitergegeben worden war. Ich schloss meine Augen und stellte mir für einen kurzen Moment vor, wie dieses Licht meine Freunde, Bekannten und Verwandten in Deutschland in ihrem schönsten und hellsten Glanz erstrahlen ließ. Allen voran dachte ich an Philippe, der womöglich gerade die Geschenke öffnete, die ich ihm vor meiner Abreise überreicht hatte: ein Kochbuch als Grundlage für ein Candle-Light-Dinner, eine Kerze in Form einer kleinen Badewanne für die nötige Romantik während eines gemeinsamen Bades und eine neue Glühbirne für seine Edelstein-Lampe, welche uns während der gemeinsamen Ruhezeit nach dem Bad in warmes Licht einhüllen sollte. Tränen kullerten über meine Wangen bei dem Gedanken an den Schmerz, den ich in ihm verursacht hatte, und das emotionale Chaos, das ich noch immer in mir trug. Seit der radikal ausgesprochenen Trennung nach meiner Rückkehr aus Berlin war unsere Beziehung innerhalb der letzten Monate in eine neue Form übergegangen, die von dem Wunsch getragen war, dass eine Partnerschaft mit getrennten Wohnungen eine erfolgversprechende Alternative des Zusammenlebens für uns darstellen könnte. Immerhin war auch Robert Betz, dessen Meditationen mir während der ersten einsamen Nächte in meiner neuen Wohnung Trost gespendet hatten, der Meinung, dass man die Doppelbetten „zersägen“ müsste, wenn man eine erfüllte Partnerschaft leben wollte. Ich fragte mich, ob meine Reise nach Schottland mir dabei behilflich sein würde, mein eigenes Licht wieder leuchten zu lassen und zögerte – in der Hoffnung, die Flamme der Liebe in meiner Hand würde mich auf meinem Weg durch die Dunkelheit führen – den Moment des Auslöschens so lange wie möglich hinaus.

Am ersten Weihnachtsfeiertag begleitete ich Scarlett zu ihrer Glaubensschwester Amber, in deren Wohnung ich mit einem köstlichen und traditionellen Christmas-Dinner in die Weihnachtstradition Großbritanniens eingeführt wurde: Truthahn und Süßkartoffeln dampften auf dem liebevoll dekorierten Tisch in der Küche, während der Plumpudding noch im Kühlschrank wartete. Dazu wurde ein Glas Wein gereicht, und selbst Scarlett, die, wie ich herausgefunden hatte, alkoholische Getränke normalerweise ablehnte, ließ ihn sich schmecken. Nach dem reichhaltigen Schmaus saßen wir mit vollgefressenen Bäuchen zum sogenannten Christmas Tea vor dem Fernseher und lauschten den Worten der Queen. Wir sprachen über die Höhe-, Tief- und Wendepunkte in unserem Leben und tauschten anschließend Buchempfehlungen aus, die unser Leben positiv beeinflusst hatten. Ich empfand die Gesellschaft der beiden Schottinnen und die Wärme, die nicht nur von meiner dampfenden Tasse Schwarztee ausging, sondern auch von Herz zu Herz spürbar war, als äußerst wohltuend. Es fühlte sich stimmig an, Weihnachten einmal auf völlig neue Art und Weise zu feiern, jenseits der Traditionen meiner Herkunftsfamilie und in räumlicher Distanz zu meiner Heimat.

Da ich beabsichtigte, Schottland und seine Bewohner auch über die Grenzen von Bruntsfield hinaus kennenzulernen, hatte ich von meiner Homebase bei Scarlett aus schon für den zweiten Weihnachtsfeiertag eine weitere Unterkunft organisiert und surfte mit einem kleinen Tagesgepäck zu meinem nächsten Gastgeber am Nordrand der Stadt. Luigi bot mir nicht nur eine Couch an, sondern ein äußerst komfortables, wohnlich eingerichtetes Gästezimmer seines luxuriösen Appartements. Dieses wiederum war Teil eines stattlichen Schlosshotels, welches von Gästen vor allem für geschäftliche Anlässe und private Feierlichkeiten wie Hochzeiten heimgesucht wurde. Staunend betrachtete ich das von einem großen Waldgebiet umgebene Anwesen, als ich aus Luigis grauem Sportwagen stieg. Er hatte mich in seinem Zweisitzer von der nächstgelegenen Bushaltestelle abgeholt und erwies sich auch im Laufe des Abends als wahrer Gentleman. Der sympathische Mann Mitte vierzig stammte ursprünglich aus Italien, wie er mir erzählte. Er hätte zwischenzeitlich einige Jahre in England gelebt, bevor er sich in Schottland niedergelassen hätte, und verdiente seinen Lebensunterhalt nun damit, Hotels, die in finanziellen Schwierigkeiten waren, zu verwalten oder neu zu eröffnen und Hoteleigentümer zu beraten und zu unterstützen. So hätte er auch dieses Anwesen zum Laufen gebracht und sich damit gleichzeitig seinen Kindheitstraum erfüllt, in einem Schloss zu wohnen.

Mit weit aufgerissenem Mund betrat ich mein gemütlich eingerichtetes Doppelzimmer und ließ mich auf eines der beiden Einzelbetten plumpsen, welches mit glänzender Satinbettwäsche bezogen und mit zahlreichen Kissen für mich hergerichtet war. Nachdem ich mich in dem königlichen Badezimmer mit goldfarbenen Armaturen etwas frisch gemacht hatte, setzte ich mich nebenan zu Luigi auf die Couch im Wohnzimmer, der mir sogleich einen Teller mit rohem Staudensellerie und Minikarotten anbot.

Luigis achtsames und ausgewogenes Ernährungsverhalten hatte ihm, zusammen mit seiner Vorliebe für regelmäßige körperliche Betätigung, einen von Fitness strotzenden Körper beschert, der für sein Alter ausgesprochen ansehnlich war. Trotz seiner gesunden Ernährungsweise schien er aber dem Alkohol zumindest an diesem Abend nicht abgeneigt. Während wir uns über die Kraft der Gedanken und die Kunst des Manifestierens austauschten und das am Ziel vorbeischießende staatliche Schulsystem kritisch unter die Lupe nahmen, befeuchtete eine gute Flasche Rotwein unsere redseligen Kehlen. Ich genoss unsere intensive Unterhaltung, die mit den Inhalten, die ich kürzlich bei Robert Betz gelesen hatte, auf überraschende Weise in Einklang zu stehen schien. Amüsiert dachte ich an den Ehemann meiner Cousine, von dem ich vor vielen Jahren schon Ähnliches gehört hatte wie von Luigi und der mir damals schon zu erklären versucht hatte, dass alles ein Gedanke wäre, bevor es materielle Wirklichkeit würde. Während ich ihn damals mit großen Augen angestarrt und an seinem Verstand gezweifelt hatte, verspürte ich nun eine seltsame Resonanz zu dem, was Luigi sagte, was mit wachsender Sympathie für meinen neuen Gastgeber einherging. Freudig teilte ich mit ihm meine Vision einer Schule, die frei von Notendruck und Leistungsgedanken das Wohl und die Interessen der Schüler in den Mittelpunkt stellte. Angetan lauschte ich Luigi, der mir zunächst erklärte, dass wir unsere Wirklichkeit selbst erschaffen würden, und dann bekräftigend schilderte, wie er selbst seine Träume in der Vergangenheit verwirklicht hätte. Dass er nun tatsächlich in einem Schloss lebte, so, wie er es sich als kleiner Junge gewünscht hatte, konnte ich mit meinen eigenen Augen sehen. Ich fühlte mich verstanden und fand unser Gespräch ermutigend und inspirierend. Ich gestand mir innerlich mit einer gewissen Traurigkeit ein, dass ich einen solchen Austausch mit Philippe zunehmend vermisst hatte. „Können wir denn gar keine ‚normalen‘ Gespräche mehr führen und uns einfach mal darüber unterhalten, wie unser Tag so war, Annie“, hatte er mich eines Tages gereizt angefahren, als ich wieder einmal damit anfing, die Unordnung im Außen, sprich die immer größer werdenden Papierhäufchen auf unserer gläsernen Bar in der Küche für ein Spiegelbild der Unordnung in seinem Inneren zu halten.

„Hast du schon mal von den Gesprächen mit Gott gehört?“, fragte mich Luigi und holte mich zurück ins Hier und Jetzt. „Die könnten dich interessieren. Es sind drei Bände. Der Autor heißt Neale Donald Walsch.“

Ohne zu zögern griff ich nach meinem Handy, um Luigis Information als Notiz darin abzuspeichern. „Neale Donald wie?“, fragte ich nach. Ich hatte stark den Eindruck, dass diese Information wichtig für mich wäre, ohne erklären zu können warum.

„Neale Donald Walsch. Walsch mit s-c-h. Er ist Amerikaner.“ Luigi schmunzelte, und nachdem ich mein Handy wieder beiseitegelegt hatte, fragte er plötzlich: „Hast du Lust auf eine Schlossführung? In einer der Bars müsste noch eine zweite Flasche Wein zu finden sein.“

Aufgeregt nickte ich ihm zu und konnte kaum glauben, dass ich um kurz nach Mitternacht eine private nächtliche Führung durch das spektakuläre Hotel, welches vor über achthundert Jahren von einer edlen schottischen Familie erbaut worden war, angeboten bekam. Augenblicke später liefen wir die riesige, mit einem Teppich überzogene Treppe hinab, vorbei an altertümlichen Gemälden, vor denen wir hin und wieder Halt machten, weil Luigi mir eine Geschichte dazu erzählte. In einem der Festsäle verschwand Luigi für einen kurzen Moment hinter der Bar und tauchte dann freudestrahlend mit einer Flasche Rotwein in der Hand wieder auf.

„Manchmal ist es von Vorteil, sein eigener Chef zu sein.“ Lächelnd präsentierte er mir den guten Tropfen und wies mir den Weg zurück in sein Appartement, wo wir unsere Konversation auf seinem Bett fortführten. Von dort aus würde er, so machte er mich zumindest glauben, die ankommenden Besucher, die noch außer Haus waren, am besten bemerken. Der Portier wäre krankheitsbedingt ausgefallen und nun wäre er selbst, ausnahmsweise, für das Öffnen der Tür verantwortlich.

Der unvermittelte Ortswechsel in Luigis Schlafzimmer löste plötzliches Unbehagen in mir aus, und ich spürte, wie die Gelassenheit in mir einer Anspannung wich, die mich dazu bewog, den Abend abrupt zu beenden und mich in mein fürstliches Gästezimmer zurückzuziehen. Schlaflos lauschte ich dem Sturm, der an den Fensterläden sein Unwesen trieb, und spürte mit einem Mal eine auftauchende dunkle Furcht, die sich über den lichtvollen Abend legte. Mutterseelenallein lag ich an einem Ort, der von nichts weiter umgeben war als weitreichendem Wald, endlosen Grünflächen und einer Flusswiese. Niemand würde mich hören oder mir zu Hilfe eilen, würde der charmante Italiener in seiner Residenz nur wenige Kilometer südlich von Edinburgh auf die Idee kommen, mir in seinem Gästezimmer, welches sich nicht einmal abschließen ließ, einen Besuch abzustatten. Ängstlich verkroch ich mich unter der Bettdecke und zuckte bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen, bis die Müdigkeit, verstärkt durch den konsumierten Alkohol, schließlich über die Angst siegte und meine Lider schwer werden ließ …

Als ich am nächsten Morgen mit heftigen Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen erwachte, war Luigi bereits bei der Arbeit. Ich schnappte mein Handy, welches neben meinem Bett auf dem antiken Nachtisch lag, und öffnete die Textnachricht, die ich erhalten hatte:

„Guten Morgen, Annie. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Melde dich, wenn du wach bist und zum Bus gefahren werden möchtest. Dann komme ich dich holen. Natürlich kannst du auch noch eine weitere Nacht bleiben, wenn du möchtest. Luigi.“

Auch wenn ich Luigis Gesellschaft genossen hatte und mir meine nächtliche Angst plötzlich lächerlich vorkam, war mir doch wohler, meine Reise an diesem Vormittag fortzusetzen. Da meine körperliche Leistungsfähigkeit wegen des vielen Weins noch zu wünschen übrigließ, entschied ich mich gegen einen Ausdauerlauf über das zwanzig Hektar große Gelände und überbrückte die Zeit bis zu Luigis Eintreffen mit der Fortsetzung der Lektüre von Robert Betz.

„Heute wäre ich zugegebenermaßen auch noch gerne etwas liegengeblieben“, gestand er mir mit müden Augen, bevor er mich in seinem silbergrauen Cabriolet zur nächsten Buslinie fuhr, die mich in das Zentrum der Stadt zurückbringen würde. Dort wartete zwischen Slateford und Balgreen bereits meine nächste Couchsurf-Begegnung auf mich: Evan.

Da ich mich mit Evan erst für den Abend verabredet hatte, überbrückte ich den Nachmittag ohne Gesellschaft, dafür aber mit einem mittelschweren Kater in mehreren Cafés in Edinburgh und fragte mich, warum noch nie jemand auf die Geschäftsidee gekommen war, neben gewöhnlichen Cafés und Restaurants auch eine Art Wohlfühloase anzubieten, welche übermüdeten Touristen wie mir die Möglichkeit bot, sich tagsüber niederzulegen und zu entspannen. Umso glücklicher war ich, als mir auf dem Parkplatz eines nicht zu übersehenden Fastfood-Restaurants zwischen Slateford und Balgreen am frühen Abend ein dunkelhäutiger, gutaussehender junger Mann entgegenkam, der sich sogleich als Evan vorstellte und mich in sein bescheidenes Zuhause führte. Meine Freude, nach einem langen öden Tag endlich wieder ein Dach über dem Kopf zu haben, ließ mich über den drastischen Schwund an Wohnkomfort hinwegsehen, der zwischen Luigis Schlossresidenz und Evans Studentenbude zu verzeichnen war. Anstelle einer Goldarmatur zierten nun Schimmelspuren die Wanne in einem Badezimmer, das schon seit geraumer Zeit keinen Putzlappen mehr gesehen hatte. Dieses war lediglich durch eine Glastür, durch welche man ungehindert hindurchblicken konnte, vom Rest der Wohnung abgetrennt, sodass ich mich von der Hoffnung, hier mein Geschäft verrichten zu können, erst einmal verabschiedete. Der Geruch und die Spuren auf der Bettwäsche zeugten davon, dass diese bereits von anderen Besuchern vor mir benutzt worden war. Dennoch dankbar lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass ich wenigstens ein eigenes Zimmer angeboten bekam und folgte Evan, nachdem ich mein Gepäck abgestellt hatte, ins Wohnzimmer.

Evan reichte mir ein Glas seines Lieblingsgetränks, Gin Tonic, welches er in der Küche für mich zubereitet hatte, und nahm dann neben mir auf der durchgesessenen Couch Platz. Als einer der wenigen Einwohner Haitis hatte er das große Glück, einen Studienplatz in Schottland finanziert zu bekommen, was in Anbetracht der verbreiteten Armut seines Heimatlandes eine große Ausnahme darstellte. Dass Evan aus bildungsnahen Kreisen stammen musste, verriet unsere tief greifende Konversation an diesem Abend, die ich als sehr bereichernd empfand. Was mich jedoch am Allermeisten beeindruckte, war die Weisheit, die aus dem Sechsundzwanzigjährigen sprach. Mir gefiel die positive Lebenseinstellung, die er sich gemäß seines Lebensmottos „Carpe Diem“ angeeignet hatte, und die selbst durch die einfachen, von offensichtlicher Geldknappheit geprägten Lebensumstände nicht getrübt werden konnte.

„Eines Tages, Annie, glaube ich, wird es keine Ländergrenzen mehr zwischen den Kulturvölkern geben. Es wird keine Haitianer, Jamaikaner oder Amerikaner geben. Genauso wenig wird man zwischen Deutschen, Briten oder Schotten unterscheiden. Wir werden lediglich eine einzige Menschheit sein“, erklärte er mir mit ruhiger Stimme. Ich stutzte. „Allerdings …“, fügte er milde lächelnd hinzu, „dürfen die Erdbewohner erst noch ein wenig mehr erwachen, um dies zu begreifen, fürchte ich.“

Ich war fasziniert von dem dunkelhäutigen jungen Mann, der die Menschen scheinbar vorurteilsfrei so liebte und akzeptierte, wie sie waren, und der mir trotz der wenigen Mittel, die sein Studentenjob abwarf, seine Junggesellenbude zur Verfügung stellte.

Auch in dieser Nacht hatte ich Mühe, in den Schlaf zu finden. Ob dafür unsere bewegende Konversation, der modrige Duft der leicht schimmligen Wände oder auch der Sturm verantwortlich war, der durch die undichten Fenster pfiff, vermochte ich nicht zu sagen. Erst als ich meine Aufmerksamkeit auf den Besuch des National Museum of Scotland lenkte, der mir mit Evan am nächsten Tag bevorstand, gelang es mir, das Muffeln der Bettwäsche auszublenden und endlich wegzudämmern.

Offenbar wusste Evan um jene Sehenswürdigkeiten, die man besuchen konnte, ohne Eintritt bezahlen zu müssen, und so schlenderten wir den größten Teil des Vor- und Nachmittags durch die Ausstellungsebenen des Nationalmuseums und informierten uns neben der Entwicklung des Königreichs Schottland vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit unter anderem auch über die politische und sozioökonomische Transformation Schottlands im Zeitalter der Industrialisierung.

Nachdem wir unser Wissen über schottische Geschichte und Kultur ausgiebig aufgefrischt hatten, pilgerten wir anschließend über den Weihnachtsmarkt in den Princes Street Gradens, wo wir die gewonnenen Eindrücke neben dem charmanten Karussell mit einem Glühwein in der Hand sacken ließen. Offenbar weckte das schmackhafte Wintergetränk unsere Ausgehlaune, daher beschlossen wir, den Abend in einer der zahlreichen Bars ausklingen zu lassen. Dabei ließen wir es uns nicht nehmen, mit einem kurzen Auftritt auf der ansonsten menschenleeren Tanzfläche die Blicke der übrigen Gäste auf uns zu ziehen. Ich genoss Evans ungezwungene Gesellschaft, konnte jedoch nicht leugnen, dass ich auch froh war, die kommende Nacht wieder in Scarletts Wohngemeinschaft übernachten zu dürfen, wo ich zwar nicht ganz so königlich untergebracht war wie bei Luigi, mich jedoch, zumindest was den Sauberkeitsstandard betraf, wohler fühlte als bei Evan.

Die Erinnerung an Scarlett, die regelmäßig um 22 Uhr ins Bett ging, ließ mich einen kurzen Blick auf die Uhr werfen und drängte mich zum Aufbruch. Wir tranken unser Bier aus und Evan begleitete mich zur Bushaltestelle Princess Street, direkt am Übergang von der Altstadt zur Neustadt. Von dort aus führte eine Linie direkt nach Bruntsfield. Wartend und schweigend standen wir da. Ich schielte mehrmals auf die Zeitanzeige meines Mobiltelefons und ließ dann wieder meine Augen nervös über die Princess Street Gardens schweifen. Statt jedoch die herrliche Aussicht auf die Burg und die Altstadt zu genießen, kreisten meine Gedanken unentwegt um den Umstand, dass ich keinen Schlüssel zu Scarletts Wohnung besaß und die Zeit bereits derart fortgeschritten war, dass ich es nie und nimmer pünktlich dorthin schaffen würde. Die Vorstellung, Scarlett letztlich wecken zu müssen, um in die Wohnung zu kommen, war mir unangenehm und ich hoffte inständig, dass sie mir meine Verspätung nicht übelnehmen würde. Als der Bus endlich eintraf, schnappte ich erleichtert mein Gepäck, bedankte mich zum Abschied bei Evan für seine Gastfreundschaft und den schönen Tag in Edinburgh und stieg ein.

Gedankenversunken ließ ich die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen Tage revuepassieren, durch die ich mich reich beschenkt fühlte. Kein Tourismusmanager der Welt hätte mir diese Stadt auf authentischere Weise nahebringen können als meine drei reizenden Gastgeber, die trotz aller Unterschiede ihre vorbehaltslose Weltoffenheit Fremden gegenüber gemeinsam hatten. Ich schaute leichten Herzens aus dem Busfenster auf die vorbeirauschende Landschaft, die mir überraschenderweise viel zu wenig beleuchtet vorkam. Augenblick mal, Landschaft?! Herrje, das durfte doch nicht wahr sein! Hatte ich etwa allen Ernstes meinen Ausstieg verpasst?! Erschrocken sprang ich von meinem Sitz auf und wandte mich an die ältere Dame, die mir schräg gegenübersaß.

„Ja, da hätten Sie bereits vor zwei Stationen aussteigen müssen“, klärte sie mich freundlich auf.

Entsetzt riss ich meinen Arm hoch und signalisierte dem Busfahrer meinen Haltewunsch. Der zeigte sich nun seinerseits überrascht und stoppte. Ich sprang gestresst auf den Gehsteig und musste mich erstmal sammeln. Als ich mich der Vollständigkeit meiner Gepäckstücke versichert hatte, begann ich mit meinem kleinen Reiserollkoffer in den Händen und der Zeit im Nacken unweigerlich zu rennen, als könnte ich dadurch meine Verspätung wieder aufholen. Schnaufend wie eine Dampfwalze kam mir plötzlich eine Passage aus dem Buch von Robert Betz in den Sinn, die ich erst kürzlich gelesen hatte. In der Tat hasste ich es, zu spät zu kommen, und die Vorstellung, Scarlett dadurch möglicherweise Unannehmlichkeiten zu bescheren, passte so gar nicht zu dem Pflichtbewusstsein, zu dem ich von meinen Eltern erzogen worden war. Doch, war ich nicht gerade im Begriff, dem bekanntesten Mantra anheimzufallen, unter dem nahezu die gesamte westliche Bevölkerung litt? Pünktlichkeit! Hatte ich wirklich keine Zeit zu verlieren, oder war das lediglich ein Glaubenssatz, ein „alter Schuh“ sozusagen, den ich in genau dieser Situation abstreifen konnte, um möglichweise zum ersten Mal in meinem Leben bewusst anders zu reagieren? Erst gestern hatte ich nach der Buchlektüre auf Luigis Couch die Entscheidung getroffen, mein Leben grundlegend zu ändern, und jetzt barg genau dieser Moment das Potenzial, einen neuen Gedanken zu denken, wenigstens über Zeit. Augenblicklich entschied ich, genau das Gegenteil von dem zu tun, was mir mein Verstand einzureden versuchte: Ich blieb stehen. Ich nahm meine innere Unruhe wahr, spürte meinen schnellen Herzschlag und hörte, wie mein Atem von dem kurzen Sprint hastig und deutlich vernehmbar aus meinem Mund ein- und ausströmte. Dann versuchte ich zur Ruhe zu kommen und hörte alsbald, wie ein neuer Vorsatz flüsternd und gleichzeitig voller Entschlossenheit den Weg über meine Lippen nahm:

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9783906212876
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