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Die Magd hatte sich mit dem Auftragen des Nachtmals länger als üblich Zeit gelassen. Warum machte sie so ein Getue um die fade Grütze und den zu weichen, aber versalzenen Hering? Endlich drückte sich niemand mehr in der Dienstbotenküche herum. Auch der Korridor zum Innenhof mit den fünf stattlichen Remisen für die besten Mietkutschen und Schlitten Stockholms war leer. Von dort konnte er unbemerkt durch den Hintereingang auf die Straße schlüpfen. Die quietschenden Türangeln hatte er am Vortag sorgsam mit Wagenschmiere eingefettet.

Eisiger Windhauch trieb ihm Wasser in die Augen. Er schlug den Rockkragen hoch und knotete das Halstuch fester. Hätte sich nicht der Turm der Finska Kyrkan vom Nachthimmel abgehoben, wäre er vom Weg zur Jakobikirche abgekommen. So tastet er sich behutsam von einem Lichtkegel zum nächsten, den die wenigen und traurigen Fackeln auf die gepflasterte Straße warfen. In seiner Heimat in Finnland war ihm diese Dunkelheit fremd, denn selbst in der sternenfinsteren Winternacht barg der kristallene Schnee noch die Funken der untergegangenen Sonne. Hier aber nur Matsch und Schlamm, der sich an seine Fuhrmannstiefel legte und die Schritte schwer machte. Immerhin war sonst niemand zu sehen. Er befühlte seine Brusttasche. Beruhigt ertastete er den Plan, den er nach dem Gedächtnis in unbeobachteten Stunden von der Altstadt gezeichnet hatte. Dieses Stockholm glich einem Labyrinth, es bereitete ihm Angst und Lust zugleich.

Nie wäre er hierhergekommen, wenn ihm der Feldzug etwas eingebracht hätte. Aber wenn man den Kugeln der Russen und der Ruhr entkommen war, blieb entweder nur die Entlassung ohne Sold oder die Schikanen in einer verlausten Garnison unter Offizieren, die sich über seinen Herrn, den König, die Mäuler zerrissen, bevor sie ihren Hass in Branntwein ersoffen. Doch genau dieser König hatte in seinem Kanonenboot vor Wiborg einen Ruderer, dem eine Kugel den Arm weggerissen hatte, mit seiner seidenen Schärpe verbunden. Die Herren trugen an allem Unglück Schuld, nicht der König. Was konnte es schaden, ihnen eins auszuwischen und auch noch in barer Münze bezahlt zu werden. Er griff in die andere Tasche, die Reichstaler waren kein Hirngespinst. Ein paar Aufträge noch für seine Dame, die ihr Gesicht immer hinter einem Schleier verbarg, und er konnte den kleinen Hof bei Savitaipale kaufen. Die Magd würde dann wohl mitgehen. Die Bedingung war nur, er musste das Maul halten.

Das Riddarhuset lag jetzt schon hinter seinem Rücken. Er zwang sich, aufrecht zu gehen. Um keinen Preis auffallen. Zwischen den Palästen und vornehmeren Kaffeehäusern herrschte ein eifriges Kommen und Gehen. Wer würde hier schon nach ihm schielen. Auf der Norrbrogatan machte er unter einer Laterne Halt, um ein letztes Mal seine Karte zu studieren. Die Pfeiler der noch unfertigen Steinbrücke daneben ragten wie Riesen, die nach dem fehlenden Gewölbe griffen, aus dem Strömmen. Nach der Brücke wandte er sich nach rechts und ging dann die Kungsträdgårdsgatan hinauf. Von dort konnte er durch eine unverschlossene Pforte in den Friedhof der Jakobikirche schlüpfen. Dort würde er sich auf den Spürsinn des Mittelsmannes verlassen, der ihn erkennen musste. Er faltete den Plan sorgsam zusammen und bemühte sich um einen unauffälligen Schritt. Ob ihm jemand folgte? An der Einmündung der Kungsträdgårdsgatan drehte er sich endlich um. Zwei grobschlächtige Kerle, vermutlich Knechte wie er, begannen wild gestikulierend miteinander zu streiten. Das Geläute der Jakobikirche verhallte direkt über ihm. Schlag neun Uhr, das Ziel war pünktlich erreicht. Tatsächlich hob sich eine dunkle Vertiefung von der Umfriedung des Friedhofs ab. Die Pforte war nur angelehnt, er schob seinen Fuß in den Türspalt. In dem Moment durchbrach Mondlicht die zerschlissenen Wolken. Grabsteine, aufrecht wie Gardesoldaten, hielten hier Wache. Am Ende des Weges löste sich ein Schatten unsicher aus dem Spalier der Gräber. Er wollte gerade das Erkennungszeichen aus der Hose holen, als ein Sausen in der Luft ihn herumfahren ließ. So klang es, wenn er mit seinem Vater und den Brüdern den harten Boden von Savitaipale von Wurzeln und Baumstümpfen befreite, mit mächtigen Armen die Spitzhacke schwingend. Der letzte Gedanke in seinem Leben galt seinem eigenen Hof, bevor ihm der Schädel zermalmt wurde.

Rapport des Polizeihauptmanns Lundquist an Polizeiminister Sivers

Der Postenkommandant des Kreises Norrköping meldet, dass der aufständische Bauer Ihrer Anweisung entsprechend vom Ende der Predigt bis zum Sonnenuntergang auf das Spanische Pferd verbracht wurde. Am nächsten Morgen entdeckten ihn Knechte des Grafen Horn erhängt an einer Birke, der Tod war bereits eingetreten.

Am ersten Dezember fand ein Aschenträger an der Böschung des Strandvägen den am Kopf schwer malträtierten Korporal Johann Jacobson vom Königlichen Artilleriebataillon Major Hartmannsdorf. Besagter Korporal verstarb während seines Abtransports in das Militärlazarett. Strenge Inquisition in den angrenzenden Kneipen hat ergeben, dass der Korporal mit seinem Kameraden, dem Artillerieunteroffizier Olof Rosenschütz, auf Zechtour war und zuletzt mit dem amtsbekannten Vagabunden Klaus Peterson gesehen wurde. Peterson konnte noch in derselben Nacht mit einem Betrag von neun Reichstalern im Freudenhaus des Moskowiten Nikita Sobolew aufgegriffen und verhört werden. Er will mit dem Totschlag nichts zu tun haben. Er erklärt, Rosenschütz habe ihm zehn Taler gegeben. Rosenschütz streitet das ab, er habe mit Jacobson und Peterson auf den Sieg über die Russen getrunken. Er erklärt, nichts über irgendwelche zehn Taler zu wissen. Ich erbitte um Weisung zu untertänigster Befolgung.

In einem offenen Grab am Friedhof bei der Jakobikirche wurde eine männliche Leiche gefunden. Der Stadtphysikus Elias Salomon stellte im Zuge der amtlichen Untersuchung eine schwere Kopfverletzung fest, die von einem harten und stumpfen Gegenstand herrührt. Die Personalia des Erschlagenen sind unbekannt. Die vom Stadtphysikus und einem beeideten Amtsdiener durchgeführte Leibesvisitation brachte folgende Gegenstände zu Tage: ein Kamm aus Horn, ein Sechskant Schraubenschlüssel, ein handgezeichneter Plan des Viertels um die Jakobikirche und ein in der Mitte abgebrochener Schilling.

Bericht des Polizeiministers Sivers an Graf Armfelt

Exzellenz, es freut mich, Ihnen melden zu dürfen, dass keine Indizien für bevorstehende politische Unruhen in Stockholm und den benachbarten Landkreisen vorliegen. In Norrköping hat sich der aufrührerische Rädelsführer beim Überfall auf den Schlitten des Grafen Horn selbst gerichtet. Zwei Fälle von Totschlag unter dem üblichen Gesindel stehen kurz vor der Aufklärung.

Der Erste Kammerherr Hans von Essen hat die Pagen betreffend der verbotenen dreifarbigen Kokarde belehrt und ist von ihrer Reue überzeugt. Der junge Herr Carl Klingspor hat sich allerdings krankgemeldet und wurde seit dem Vorfall in Stockholm nicht mehr angetroffen.

Hinter der Agentin mit dem Decknamen Mamsell steht die Wahrsagerin Ulrica Arfvidsson. Sie ist das Medium, das auch Mitgliedern des königlichen Hauses das Schicksal entschleiert. Sie fragen, warum wir ihr trauen sollen? Ob ich sie in der Hand habe, mit welchen Methoden? Ausnahmsweise muss ich passen. Ulrica Arfvidsson findet sich in keiner unserer Akten. Es existiert keine flüchtig hingekritzelte Notiz meiner Agenten, die in Leben emporheben oder in die Tiefe schleudern kann, kein Vermerk, der Personen, die von höherer Geburt sind als ich, zwingt, mir zu Diensten zu sein. Nein, die Arfvidsson ist frei von Schuld, vielmehr wurde ihr Leid angetan.

Ihr Stiefvater, nach dem sie sich nennt, hatte als Hofkoch die besten Referenzen und förderte die talentierte Ulrica in Musik und Sprachen. Mit ihrer Mutter lebten die drei im Schloss, waren überall gern gesehen. Das Mädchen wuchs zu einer Schönheit heran, die hohen Herren wurden auf sie aufmerksam – Galanterie wandelte sich zur Leidenschaft. Ja, man machte ihr, der Tochter des Kochs, den Hof. Der wusste, was kommen würde, und grämte sich. Dem schönen Kind verbot er das Tageslicht, zwang sie, in den Kellergewölben des Schlosses zu bleiben, während er Dienst tat. Das Mädchen fügte sich, bis es eines Tages verschwand. Mutter und Stiefvater vergingen vor Kummer. Wenn sie sich bei sämtlichen Hofstellen erkundigten, erhielten sie nie mehr als ein süffisantes Lächeln zur Antwort. Nach drei Tagen fand man Ulrica, halb entblößt, mit zerrissenem Gewand. Es war im dämmrigen Keller mit seinen hohen Gewölben geschehen, zwischen geräuchertem Fisch und eingelagerten Kartoffeln. Einer der Galane – Sie verstehen. Natürlich wurde der Schuldige nie gefunden. Dem Stiefvater empfahl man den Abschied mit einer großzügigen Pension. Der Koch nahm an und verstarb bald danach. Das Mädchen erbte alles, man munkelt von 4000 Reichstalern. Ihre Mutter verheiratete sich neu.

Als Gras über die Affäre gewachsen war, trat Ulrica als Medium in Erscheinung, sie begann, aus dem Kaffeesatz die Zukunft vorauszusagen, was ihr gute Münze einbringt. Sie lebt frei und unabhängig, sie scheint mir eine der wenigen nicht korrupten Personen in unserer Residenz zu sein. Ihre einzige Vertrauensperson ist eine schwarze Dienerin namens Adotja. Liebhaber gibt es keinen. Die Neugier führt vom Matrosen bis zum Herzog ganz Stockholm zu ihr. Wenn auch Ulrica, die man nur mehr Mamsell nennt, das Schicksal verkündet, lebt sie doch nur für den einen Gedanken, unter ihren Besuchern einst jenen Mann zu entlarven, der ihr die Unschuld genommen hat. Wüssten Sie irgendjemand, der uns bessere Dienste leistet?

Graf Armfelt an Polizeiminister Sivers

Mein lieber Sivers, verschonen Sie mich mit Details aus der Welt Ihrer Totschläger. Angesichts der patriotischen Begeisterung, die ich im Beisein unseres Landesherrn erleben durfte, sind das doch alles Kinkerlitzchen. Sagen Sie mir lieber, wo man angesichts der Hafenblockade für französische Schiffe noch einen vernünftigen Champagner kriegen kann.

Die Arfvidsson, sieh an! Ihr Schicksal bedaure ich zutiefst. Das alles hat sich freilich vor meiner Zeit am Hof zugetragen. Weben Sie nur an Ihrem Spinnennetz und hoffen wir, dass es nicht zerreißt.

Polizeiminister Sivers an Mamsell

Hochverehrte Madame, ich darf Ihnen mit diesem Billett das von Exzellenz Armfelt bewilligte Honorar von 200 Reichstalern in barer Münze übermitteln. Um uns die Gunst des Grafen weiterhin zu sichern, bitte ich Sie um rascheste Hilfe: Wir hatten in der letzten Nacht zwei Mordfälle, die mir nicht zu den üblichen Messerstechereien unter Saufkumpanen zu passen scheinen. Anbei sende ich Ihnen eine Abschrift des Rapports von Polizeihauptmann Lundquist. Besonders der Erschlagene am Friedhof bereitet mir Sorgen. Sie wissen so gut wie ich, dass sich dort oft Herrschaften der feinen Gesellschaft einfinden, um im gotischen Ambiente der Grabmäler aus dem Ossian zu zitieren. Noch ist die Exzellenz voller Optimismus. Ich kann ihn hinhalten. Der Eilbote ist verlässlich, bitte geben Sie ihm Ihre Antwort brieflich mit. Kodierung ist nicht erforderlich, die Zeit drängt. Ich vertraue Ihnen.

Mamsell per Eilboten an Polizeiminister Sivers

Herr Minister, ich fasse mich kurz. Die Situation ist äußerst besorgniserregend. Beim Erschlagenen am Friedhof handelt es sich um einen meiner Agenten, den ich als Knecht beim Wagnermeister Engzell am Stortorget untergebracht habe. Weil er seine Fuhrwerke vor allem an die hochgestellten Herren vermietet, konnte ich so deren Bewegungen und Zusammenkünfte verfolgen. Am Tage seiner Ermordung sollte sich der Agent mit meiner Zofe treffen, ich selbst war zu einer Soiree des Herzogs Carl gebeten. Da sich die beiden nicht kannten, war als Erkennungszeichen ein halbierter Schilling vereinbart worden. Schlag neun Uhr abends sollte er meiner Bediensteten die Informationen übergeben. Der Agent erschien auch – um dann vor den Augen meiner Zofe erschlagen zu werden. Erwarten wir von ihr keine verlässlichen Informationen! Halb verrückt vor Angst lief sie durch die Stadt. Erst gegen Mitternacht ist sie heimgekommen.

Uns bleibt nur eine undeutliche Spur – der Unteroffizier. Auch wenn ich seinen erschlagenen Kameraden nicht auf meiner Liste der Verdächtigen führe, machen mich die zehn Reichstaler doch stutzig. Wie kommt ein Soldat zu einem Monatssold? Vielleicht gelingt es uns, die getrennten Fäden zu einem Bild zu verknüpfen.

Ich schlage Ihnen somit vor: In einer Woche veranstalte ich die nächste Soiree. Verschaffen Sie dem Unteroffizier eine Einladung – er wird sie nicht abschlagen. Alle Welt möchte ja mit den Mächten der Unterwelt einen Blick in die Zukunft werfen. Außerdem werden höchste Persönlichkeiten anwesend sein – das sollten Sie ruhig durchblicken lassen. Nehmen Sie die Sache ernst, mich plagen böse Visionen!

Weisung des Polizeiministers ­Sivers an ­Polizeihauptmann Lundquist

Sie haben bis auf Widerruf strengstes Stillschweigen über die Mordfälle zu wahren. Der Artillerieunteroffizier ist als Angehöriger der siegreichen königlichen Armee unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der Landstreicher Peterson kommt als einzig Verdächtiger in strenge Einzelhaft. Weitere Verhöre dieser Person erfolgen erst auf meine persönliche Anordnung hin. Dem Post-Tidningar soll eine Notiz über die Verhaftung Petersons übermittelt werden. Es wäre schön, könnte die Nachricht schon in der morgigen Ausgabe erscheinen.

Aus verlässlicher Quelle habe ich Nachrichten, dass sich in einer Schauspielertruppe auf dem Weg nach Göteborg verdächtige Elemente mit jakobinischer Gesinnung befinden. Ich erwarte Nachrichten über die Reisestationen der Kompagnie. Sie werden die Polizeidiener anweisen, die Ausreise zu beschleunigen und nur im äußersten Notfall Verhaftungen vorzunehmen. Chef der Kompagnie ist Monvel, der Lieblingsschauspieler Seiner Majestät, an dessen Loyalität kein Zweifel besteht. Bringen Sie etwas über eine Tanzveranstaltung im Solnaer Holz in Erfahrung, bei der es einen Affront gegen Damen und Herren der Gesellschaft gegeben haben soll.

6

Auf dem Flechtzaun vor dem Landhaus plusterte eine Krähe ihre Federn auf, hüpfte an das Ende des Gatters und erhob sich mit müdem Gekrächze in den Morgenhimmel. Sie vertraute sich dem Nordwind an, der sie in Richtung Stockholm davontrug. Der Schneefall hatte aufgehört, unter einem klaren Himmel schleuderte die aufgehende Sonne ihre purpurnen Lichtpfeile in den Solnaer Forst. Lilljehorn lehnte am Zaun. Hinter ihm dampften die Rösser aus schwarzen Nüstern. Knechte zwangen sie ins Geschirr. Auf den Wipfeln der Baumriesen vor ihm sammelten flaumige Matten aus Schnee das Glutfeuer des ersten Lichts und warfen es auf rissige Stämme und den schweigenden Waldgrund, unter dem die Fährten des Wildes und die Wege der wenigen Menschen nur zu erahnen waren.

Klarheit und Frische durchdrangen den Oberstleutnant Lilljehorn. Carlotta hatte ihr Spiel mit ihm getrieben. Ribbings Arm um ihre Taille, die schroffe Zurückweisung seiner Orange, das Stampfen ihrer Füße auf den Holzbrettern, als sie mit ihm durch die Reihen tanzte. Qual und Beklemmung für seinen seichten Schlaf. Wie ihn ihr süßes Lächeln verfolgte. Schloss er die Augen, verschwand der Wald, verstummten die Rufe der Rossknechte. Nur ihre grünen Augen ruhten auf ihm, rätselhaft und grausam.

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, den leichten Schlag eines Kameraden. »Mon cher Colonel, sind Sie nicht wohl? Natürlich sind Sie krank. Sie versinken im Leiden.« Vor ihm stand Monvel, kleiner als am Abend auf der Bühne, ohne Rouge auf den Wangen, ernster und gealtert. »Wissen Sie, die Liebe hat schon Städte zerstört und glückliche Könige. Denken Sie an Troja, an Lucretia – formidable Stoffe übrigens. Gestern beim Tanz haben Sie sich an die Unendlichkeit verloren, ich habe es wohl gesehen, heute verfinstert Verdruss Ihre Stirn – kann man das auf Schwedisch so sagen?«

»Herr Monvel, ich bitte Sie …!«

»Natürlich, pardonnez-moi ma témérité. Würden Sie mir wohl die Ehre erweisen, an meinem Frühstückstisch Platz zu nehmen?«

Monvel schob und zog Lilljehorn in den Gasthof, der kleine Schauspieler den hünenhaften Leibgardisten, und der wappnete sich gegen allzu viel Vertraulichkeit. Der Theaterprinzipal bediente selbst mit der Leichtigkeit eines Höflings aus Versailles. Der Speisesaal war noch leer, vom Obergeschoss hörte man die Dienstboten mit ihren Waschschüsseln und vorgewärmten Handtüchern. »Keine Sorge, mon Colonel, Madame de Geer wird für ihre Toilette noch recht viel Zeit brauchen. Sie sind Soldat, erlauben Sie mir also ein offenes Wort, auch wenn Sie mich dafür hassen mögen. Madame de Geer verdient Sie nicht. Bitte springen Sie nicht gleich auf! Jetzt möchten Sie tot sein, empfindungslos im hintersten Winkel eines Friedhofs begraben liegen. Aber diese Tragödien sollen sich nur auf der Bühne oder in Erzählungen deutscher Poeten ereignen. Halten wir das kurze Leben frei davon!«

Lilljehorn bemühte sich um Haltung. Konnte man das fassen? Lebensmaximen eines Komödianten? Aber die Bitterkeit in der Stimme des Fremden hielt ihn am Tisch fest. »Herr Monvel, die Situation, in der ich mich befinde, denke ich, ist nur mir allein offenbar. Was den Charakter von Madame de Geer anbelangt …«

»Über alle Zweifel erhaben, wollten Sie sagen? Wechseln wir das Thema. Wissen Sie, warum meine Kompagnie und ich Schweden verlassen? Das hat mit Ihrem König, Madame de Geer und auch mit Ihnen selbst zu tun, ohne dass es Ihnen bewusst ist. Ja, Ihr geliebter Landesherr erpresst von seinen Untertanen den letzten Taler, um Kriege zu führen und um zu spielen. Ein schwedisches Nationaltheater, so rein und vollkommen, das sich mit unserem, verzeihen Sie die kleine, wie sagt man, Schmeichelei, messen kann. Ein herrlicher, erhabener Plan, der mich von Paris hierhergelockt hat. Ach, Paris, wenn wir von Paris sprechen, dann sprechen wir von einem Traum, nicht von einer Stadt. Wenn Sie es nur jemals im Frühling erlebt hätten. Das Geflüster der Paare abends in den Lauben, die Jasmindüfte, die wir so liebten, weil wir von ihrer Vergänglichkeit wussten, das flirrende Licht aus den großen Palais. Überall eine Ahnung von Spiel und Liebe. Wir waren große Kinder damals, und unsere Perücken nahmen uns das Alter, zeitlos verlebten wir unsere Tage. Auf all das habe ich verzichtet, um in ein Land zu kommen, in dem man gerade die ersten Opern zusammenflickte, vor dessen Hauptstadt noch Wölfe streunten. Einerlei – ich habe es nicht bereut, solang der Esprit Ihres Königs dieses Eiland der Finsternis erhellt hat. Seine Stücke waren geistreich, mit Verstand ordnete er den Stoff des Lebens. Die drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung, wie sie unser großer ­Corneille forderte, gaben dem Leben Ordnung und machten aus Ordnung Kunst. Dass da jemand war, der das Chaos des Lebens durch die kristallene Schönheit der Form sah, ließ mich die elende Bühnenmaschinerie, die stotternden Schauspieler und die Misstöne eines Orchesters vergessen, dessen beste Mitglieder man aus Militärmusikkapellen rekrutiert hatte. Dieser kurze Lichtstrahl war die Mühe wert. Der König, Madame de Geer und ich gehören dieser alten Zeit an. Das Sentiment ist für uns Teil einer Szene in einem Stück, das den höheren Gesetzen der Schönheit und Vernunft dient.«

Der Schauspieler führte seine Tasse an den Mund, streckte dabei seinen kleinen Finger grazil nach oben. »Sie hingegen sind Bürger einer neuen Welt, in der Empfindsamkeit über die Form siegt. Sie werden es noch erleben, dass man die Qualität eines Stücks nach der Gunst des Pöbels misst, nach dem, was dieses Untier fühlt. In Ihrer neuen Zeit ersetzt man das Lächeln durch das Geheul, man glaubt auf einmal an hohe Begriffe. In Ihrer neuen, schönen Zeit wird man sich einbilden, Ehen aus dem Gefühl heraus schließen zu müssen. In den Baumhütten der Wilden erkennt man jetzt eher den Bauplan des göttlichen Willens als im Kosmos des Gartens von Versailles. Ja, Versailles. Dort haben wir einen Brunnen, der Göttin Latona geweiht. Sie steht in der Mitte, rings um sie recken sich ihr Mischwesen entgegen, teilweise noch Mensch, dann schon Kröte. Doch sie werden das erhabene Podest der Göttin nie erreichen können. Die Sage weiß, dass es einst Bauern gewesen waren, die aus purem Neid der Göttin und Mutter Wasser verwehrten. Sie wurden zur Strafe in niedriges Getier verwandelt. Geblieben ist ihnen ihr schmähsüchtiges Gequake – das Leben müssen sie nun im Morast verbringen. Doch der Bann der Göttin ist gebrochen. Diese Frösche steigen nun unaufhaltsam aus dem Dickicht des Schilfs ans Licht, ein unzählbares, gleichförmig kriechendes Scheusal. Einzeln schwächlich, als Masse unbezwingbar. Ich fürchte, lieber Lilljehorn, Ihr König ist ebenso wenig wie meiner imstande, diese Ausgeburten zurückzudrängen. Der Zorn von Königen ist zu schwach gegenüber dem Gezeter von Freiheit, Gleichheit und Nation.

Ich war Theaterprinzipal, König der Bühne. Jeder Seufzer, jeder Schritt, jede Verbeugung meine Creation. Aber meine Kompagnie existiert nicht mehr. Sie ist ebenso zerrissen zwischen alter und neuer Zeit wie unsere ganze Welt. Gestern habe ich einen unserer »Modernen«, im Übrigen ein unbedeutender Statist, geohrfeigt. Noch hat die Mehrheit gelacht und stand auf meiner Seite. Aber es werden sich andere erheben und seine Stelle einnehmen. Deswegen danke ich ab, führe meine Truppe aus Schweden und löse sie auf. Ab jetzt werden sich die Tragödien im Leben ereignen, unser Versuch als Künstler, sie aus dem Leben auf die Bühne zu verbannen, ist gründlich fehlgeschlagen. Sie sind ein Mann von Charakter, vielleicht gelingt es Ihnen, mit Ihren Tugenden, die ich nicht mehr verstehe, größeres Unheil unter diesen neuen Helden zu bannen. Aber vergessen Sie Madame de Geer und seien Sie ihr nicht gram!«

Monvel erhob sich unvermittelt und verbeugte sich vor Ribbing und Carlotta. Arm in Arm, er stolz, sie glockenhell lachend, standen sie vor Lilljehorn. »Lieber Oberstleutnant, können Sie mir verzeihen, dass ich mich gestern Abend nicht von Ihnen verabschiedet habe? Aber die aufregenden Szenen beim Tanz brachten mich wohl ein wenig aus dem Takt.«

Lilljehorn blickte Monvel an und hatte verstanden.

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