Читать книгу: «Dr Crime und die Meister der bösen Träume», страница 5

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Die Träume sind zum Teil ganz schön heftig. Liegt wahrscheinlich am Schlafzwang. Eins der Mädels war nach so einem Albtraum total aufgelöst. Hat Rotz und Wasser gelassen, als wäre ihr das, was ihr da in ihrem Köpfchen zugestoßen ist, realiter passiert. Sie ist dann auch aus dem Projekt ausgestiegen, obwohl ihr Frau Professor eindringlich zugeredet hat, in ihrem Zustand nicht alleine zu bleiben. „Im Institut sind wir auf derartige Ereignisse vorbereitet und können Ihnen helfen!“

Ich erwähnte es schon mal, Meltendoncks Stimme ist so laut, dass ich sie durch die geschlossene Bürotür hören konnte. Das Geheule der Kleinen aber auch. Ich hab sie abgepasst, weil ich der perfekte Tröster der Witwen und Waisen bin.

„Hi, Michaela“, sagte ich.

„Ich bin Marianne“, erwiderte sie zwischen zwei Schniefern.

„Oh, pardon! – Äh, hier …“ Ich hielt ihr ein Tempo hin, das sie, ohne mich anzusehen, nahm und sich kräftig schnäuzte.

„Wollen wir irgendwo noch einen Kaffee trinken?“, fragte ich sie.

Sie schüttelte stumm, aber eindeutig verneinend den Kopf. Inzwischen standen wir vor dem Institut.

„Um die Ecke ist …“

„Nein. Ich will jetzt nur noch nach Hause. Sonst nichts.“ Bisher klang sie verheult. Doch jetzt schlich sich ein anderer Ton in ihre Worte. War sie etwa genervt? Nein, das konnte nicht sein, wo ich mich doch so um sie bemühte.

„Okay, gehen wir ein Stück. Ich hab‘ denselben Weg.“

„Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne, verdammt noch mal.“

„Ich lerne schnell.“

„Das sehe ich völlig anders.“

Sie war auf Armlänge von mir entfernt (ideal, um sie beim kleinsten Signal tröstend an meine Brust zu ziehen!) und blickte mich zum ersten Mal direkt an.

Wird sie jetzt doch weich?, überlegte ich. Soll ich die Gelegenheit nutzen und sie küssen? Schnell, hart, das lieben sie doch alle! Oder soll ich erst noch ihre blendende Figur loben, die tollen Klamotten, ihren unbestechlich guten Geschmack? Mit anderen Worten noch eine Ladung Schleim absondern? Kann Sie sehen, wie mein Walter stramm steht und aus seinem Gefängnis will? Wie er pocht und darum bettelt, dass ihn jemand aus dieser engen Hose befreit?

Sie senkte ihre Stimme.

„Du bleibst hier und ich gehe – und zwar allein!“ Sie machte eine Pause. Wenn ich von dem absah, was sie gerade gesagt hatte, klang ihre Stimme mit diesem tiefergelegtem, rauchigen Timbre einfach geil.

„Und wenn du noch einen einzigen Schritt näher kommst, fange ich an zu brüllen und zwar so laut, dass man es noch im Institut hört!“

Diesen Satz sprach sie mit einem Ausrufezeichen hinter jedem einzelnen Wort.

„Wie du willst“, murmelte ich. Du hast ja keine Ahnung, was dir entgeht, schickte ich ihr unausgesprochen hinterher.

Schade, aber den Versuch war‘s wert gewesen.

Gutes Zuhören, das totale Verständnis heucheln, haben mich schon mehr als einmal ans Ziel gebracht. Und den Mädels hat es dann im Endeffekt auch immer gefallen.

Okay, das dumme Huhn wollte nicht. Dabei hätte mich schon interessiert, was sie denn geträumt hatte und natürlich auch, wie sich das Mäuschen auf dem Laken gemacht hätte, sobald sie Leons Säusel- und Trosteinflüsterungen erlegen wäre.

Aber ich habe genug Fantasie, um zu wissen, wie böse Träume aussehen. Und ich weiß definitiv, dass böse Träume im Institut weder selten noch unerwünscht sind.

Als ich den Scheiß mit dem Daumennagel geträumt habe, hat mir Meltendoncks Lieblings-Assi, ein schnöseliger Schönling namens Dr. Jörg Evers, am Bildschirm die Hirn-Scans gezeigt und auf einen tiefgrünen Fleck hingewiesen.

„Dieses Aktivitätsprofil“, so geschwollen drücken die sich hier aus, „ist typisch für Albträume im Verlauf des Helter Skelter-Programms.“

In meinem Traumprotokoll hatte ich kurz zuvor notiert: „Ich bin in einem feuchten Kellerraum, dessen Wände im Halbdunkel liegen. Irgendwer hat mich auf einen Stuhl gesetzt und meine Arme an spezielle Lehnen gefesselt, sodass ich sie nicht mehr bewegen kann. Eine Lampe blendet mich. Es ist offensichtlich eine Verhörsituation. Doch was wollen sie von mir hören? Und vor allem, wer will hier etwas erfahren? Ich sehe auf meine linke Hand. Mein Folterer umklammert sie und presst die Finger auseinander. Er fixiert den Daumen noch zusätzlich mit einem dunkelblauen Klebeband aus Textil. Dann zieht er langsam mit einer Zange den Daumennagel hoch und schält ihn im Zeitlupentempo vom Nagelbett. Ich starre auf die fleischig-blutige Stelle, wo eben noch der Nagel gewesen ist. Ich weiß in diesem Moment, dass ich schreien und dass es höllisch wehtun müsste, aber nichts dergleichen. Als der Folterer den Zeigefinger mit dem Klebeband umwickelt, wache ich auf.“

Ich muss gestehen, als ich aufwachte, riss ich als erstes meine linke Hand hoch, um nachzusehen, ob noch alle Nägel dran sind.

Dr Crime:

Es ist vermutlich diese Passage in Leons Aufzeichnungen, die mir den Vorfall aus dem Jahr 1974 mit Roberto in Erinnerung gerufen hat.

Was ich an Leons Traum spannend finde, ist die Stelle mit dem dunkelblauen Textilklebeband. Nur hier wird er in seiner Beschreibung präzise. So funktionieren Träume. Einzelne, letztlich völlig nebensächliche Details werden genau erinnert, während ansonsten nur ein dumpfer Brei aus vagen Eindrücken und Bildern haften bleibt.

Ich halte es deshalb für wahrscheinlich, dass seine Schilderung tatsächlich einen Traum wiedergibt, den er gehabt hat. Es ist in dieser Anfangsphase des Projekts nicht leicht einzuschätzen, was er sich aus welchen Gründen auch immer einfach aus den Fingern saugt und was echte Traumprotokolle sind.

Zum traurigen Rest des Geschreibsels, das Leon in seinen Anfällen ungehemmter, ungebremster Logorrhoe in die Tasten hämmert, habe ich schon an früherer Stelle angemerkt, dass er ein hoffnungsloser Fall ist. Leon gehört zu den Persönlichkeiten, die sich nicht scheuen, ihr charakterliches Versagen immer wieder aufs Neue unter Beweis zu stellen. Ich neige nicht zu dem Betroffenheitskitsch, der als Fremdschämen bezeichnet wird. Wegen mir darf sich jeder selbst zum Trottel machen, als unverbesserliche Dumpfbacke präsentieren und mit eiserner Penetranz die Rolle des Hampelmanns zum Besten geben. Deshalb kümmert mich auch sein pubertär-anmaßendes Verhalten nicht wirklich. Ich spreche – unschwer zu erraten – von seiner nicht zu unterbietenden Art, Frauen anzumachen und freue mich über die wohl verdiente Abfuhr, die er dabei erhält. Nur schwant mir allmählich, warum der Meister, als ich ihm die ersten Probanden der Testreihe virtuell vorstellte, antwortete: „Leon is propably the best choice of all.“

Leider ist immer noch unbeantwortet, welche Ziele bei der Versuchsreihe im Institut für Traumforschung verfolgt werden …

FOLGE 7
WAS BISHER GESCHAH

Leon scheint die ideale Testperson zu sein.

Leon:

Mittlerweile gehe ich drei- bis viermal die Woche ins Institut. Entweder um ein paar Stunden zu ratzen oder um den Hiwis bei den anderen Probanden zu assistieren. Professionelles Träumen ist nun rund um die Uhr und an sieben Tagen die Woche möglich. Die Meltendonck hat überaus ergiebige Geldquellen angezapft, die ihr diesen Vollzeit-Einsatz ermöglichen. Ständig laufen mir neue Mitarbeiter über den Weg. Ich glaube, dass die anderen Einrichtungen unserer altehrwürdigen Alma Mater zunehmend grüner vor Neid werden und das Institut für Traumforschung immer misstrauischer beäugen.

Selbst mein Papa Dottore betrachtet das Treiben in der Villa Morpheus, wie der hässliche Zweckbau aus Beton und Glas im Süden Erlangens genannt wird, von Tag zu Tag irritierter.

Als ich zweimal hintereinander einen Termin bei ihm verschoben habe, drohte er offen damit, die schützende Hand, die er über mich hält, lieber für was anderes einzusetzen, als dafür, einen Nichtsnutz wie mich weiter zu unterstützen. Ich gebe zu, diese lasche Formulierung ist eine milde Umschreibung.

Wörtlich sagte er: „Wenn du nicht auf der Stelle bei mir antanzt, dann holt sich die Hand, die bisher allen Ärger von dir abgewehrt hat, lieber einen runter, als dir noch weiter in deiner lausigen akademischen Karriere den Rücken freizuhalten! Du weißt, die Zeit drängt …“

Er hat mit seiner Verärgerung ja nicht völlig Unrecht. Vor allem aber auch mit seiner Feststellung, dass die Zeit läuft – und zwar gegen mich. Ich muss meine Diss fertigbekommen. Und zwar bevor sie bei ihm den Stecker ziehen. Ist er erst mal emeritiert, wird’s haarig. In spätestens zwei Jahren ist Schicht im Schacht. Und ich gestehe, ohne Professor G-Punkt hätte man mich wahrscheinlich längst von der Uni geschmissen, was sage ich, mit Schimpf und Schande aus der Stadt, der Region, dem Land gejagt. Er hat mir vor Jahren mal ein schauriges Schwarzweißbildchen ausgedruckt, das – wie er mir sagte – kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg entstanden ist und das im Territorial Enterprise, einem Käseblatt aus Virgina City, abgedruckt wurde, für das auch Mark Twain unter dem Alias Josh seine Tinte verspritzt hat. Der gleiche Name wie der meines Kollegen im Institut. Dieses Bild aus der Frühzeit der Fotografie zeigt jedenfalls, folgt man des Professors Interpretation, einen ähnlich armen Teufel wie mich.

Der Kerl, der unerlaubterweise einem Hühnchen die Gurgel umgedreht hatte, war dummerweise just in dem Augenblick dabei erwischt worden, als er das gerupfte Tier über einem munteren Feuerchen schön knusprig braten wollte. Angeblich hatte die Farmerin anhand der noch herumliegenden Federn ihren Besitz eindeutig identifizieren können. „Nur Berta hatte so einen weichen Flaum!“ Das Ende vom Lied hielt dann das Bild fest: Der Hühnerdieb wurde geteert und gefedert. Und ich hatte bis dahin gedacht, so was gäbe es nur bei Lucky Luke …

Sebastian G. Rotenbaum, Professor G-Punkt, gehört neben Lucia Meltendonck zu den Stars der Sigmund-Freud-Universität. Wenn man‘s genau nimmt, dann sind die beiden die prominentesten Aushängeschilder der Uni. Sie sind die Wissenschaftler, die im akademischen Betrieb national und international die klangvollsten Namen haben.

Während sich die Meltendonck vor allem in der inzestuösen Szene ihres Fachs, das heißt unter ihresgleichen, durch unermüdliches Jetten von einem Kongress zum nächsten, durch zahllose Gastvorträge, unzählige Auftritte im Rahmen von Symposien und die dadurch befruchtete Flut von Veröffentlichungen mit nicht zu bremsendem Ehrgeiz an die Spitze der Traumtänzer, … äh -forscher emporgearbeitet hat, zehrt G-Punkt vom unsterblichen Ruhm eines einzigen, noch dazu schmalen Büchleins. Mit ihm schaffte er es in jungen Jahren auf einen Schlag weit über die Literaturwissenschaft hinaus berühmt und nicht zuletzt auch reich zu werden. Dem Vernehmen nach wurde Dantes Höllentrip in mehr Sprachen übersetzt als Der kleine Prinz und wird wohl noch in hundert Jahren in Stückzahlen verkauft, von denen selbst mancher Bestsellerautor nur träumen kann.

Allerdings konnte keines der Bücher, die er folgen ließ, auch nur ansatzweise wieder für derartige Furore sorgen, worüber er – wie er nicht müde wird zu betonen – sehr, sehr, sehr froh ist. Denn sie verschafften ihm im Gegensatz zu seinem Erstling, in dem seine Doktorarbeit über die italienische Frührenaissance eingeflossen war, die Professur, die er noch heute innehat und nicht zuletzt auch die wenngleich oft zähneknirschende Anerkennung seiner Kollegen.

Der Anfang seiner Karriere als Wissenschaftler – nach dem Überraschungserfolg beim gemeinen, mithin nur durchschnittlich gebildeten Leser – war nicht ohne herbe Niederlagen gewesen. Je dynamischer sich das Büchlein international verkaufte, umso vergrätzter reagierten viele Kollegen.

Häme, sowie der platte Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ohne diese Behauptung auf Nachfrage belegen zu können, bildeten nur eine Front der Angriffe, denen sich Rotenbaum ausgesetzt sah. Hinzu kam allen Ernstes der Einwand, dass ein Text, den jeder versteht und der nicht über tausend Fußnoten verfügt, für eine akademische Debatte nicht qualifiziert sei. Der dezente Hinweis, dass genau diese Belege für die Fachwelt Punkt für Punkt überprüfbar in der Dissertation selbst zu finden seien, wurde stillschweigend übergangen. Nach solchen Attacken wäre eine universitäre Karriere in der Regel zu Ende gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Doch Rotenbaum besaß auch einige wenige Fürsprecher – nicht zuletzt in der SFU –, die ihm den Rücken stärkten und ihn ermunterten, seine Arbeit fortzusetzen.

Anders als die agile, dynamische, wieselflinke Frau Professor Meltendonck, hat sich Sebastian G. Rotenbaum – kaum war er in Amt und Würden und soweit es ihm das durch das enge Korsett des akademischen Betriebs möglich war – Schritt für Schritt zwar nicht aus der Forschung, wohl aber aus der Lehre zurückgezogen. Von den für andere Professoren üblichen akademischen Verpflichtungen, Sitzungen, Komitees, Prüfungsausschüssen etc. war er befreit. Und die studentischen Ergüsse landeten auch nicht zur Korrektur auf seinem Schreibtisch, sondern wurden direkt an seine HiWis und Assistenten verteilt. Deppen wie mich. Eine normal agierende Universitätsleitung hätte jeden anderen, der derartige Sonderwege für sich in Anspruch genommen hätte, in die Schranken gewiesen oder kurzerhand vor die Tür gesetzt.

Doch Rotenbaum wusste schon früh, wie weit er gehen konnte und er war stark genug, einmal eroberte Privilegien nicht mehr herzugeben. Und ich behaupte, es gibt weltweit keine Uni, die ihm diese Freiräume heute nicht einräumen würde, nur um sich im Glanz seines Namens sonnen zu dürfen, nachdem es heute auch unter Fachkollegen kaum noch jemand wagt, ernsthaft an seiner Reputation zu kratzen.

Inzwischen wissen die meisten Universitäten der Welt nämlich, dass es ihnen umso besser geht, je prominenter die Köpfe sind, die sich für sie aus dem Fenster lehnen. Da braucht es nicht einmal einen Nobelpreis, den es in unserer Disziplin – wie auch in vielen anderen – ohnehin nicht gibt.

Wer immer in der SFU das Zepter in die Hand bekam und Präsident oder Fakultätsleiter wurde, kam bereits wenige Tage nach der Ernennung persönlich bei Rotenbaum vorbei, nur um die Beibehaltung des Sonderstatus seiner Durchlaucht, Professor G-Punkt zu bestätigen.

Und ich gehöre zu den wenigen Menschen, die ihn duzen dürfen!

Sebastian!

Sebbel – wir befinden uns schließlich in Franken – wie ich ihn manchmal nennen darf, wenn wir einen im Tee haben. Sebbel sollte wohlgemerkt nicht mit dem vulgären bayerischen Seppel verwechselt werden. Für alle jenseits des Weißwurstäquators: Sepp kommt von Josef.

Es sieht so aus, als hätte der kleine Leon einmal in seinem traurigen Dasein Riesenschwein gehabt. Denn ich habe bei Rotenbaum einen Stein in Brett. Warum er ausgerechnet einen Loser wie mich überhaupt in seinen kleinen exklusiven Hofstaat aufgenommen hat – darüber kann ich nur Vermutungen anstellen.

Was aber noch unbedingt notwendig ist, um des Professors Bild zu vervollständigen, ist der Hinweis, dass sich seine akademischen Freiheiten keineswegs nur durch seine Berühmtheit erklären lassen. Oder um es drastischer zu sagen, sein Ruhm beruht nicht nur auf dem Erfolg von Dantes Höllentrip, dem Buch, mit dem er der Welt eine neue Sicht auf die Renaissance geschenkt hat. Er beruht auch nicht ausschließlich auf den anderen Publikationen, mit denen er die Versöhnung der Geschichte mit den Geschichten in der Literaturwissenschaft etabliert hat. Sondern er basiert nicht zuletzt auch auf gewissen physiologischen Besonderheiten, die ihn auszeichnen.

Kurz: Er ist ein Krüppel.

Das sind nicht meine Worte. So spricht er selbst von sich.

Leute, die nicht wissen, was mit ihm los ist, denken oft, er sei ein Zwerg. Aber das stimmt nicht. Die Sache ist komplizierter.

Im Netz ist von ihm oft als dem Stephen Hawking von Erlangen die Rede. Doch auch das trifft es nicht.

Er leidet unter einer speziellen Form der thanatophoren Dysplasie. Man muss es Glück im Unglück nennen, dass sich diese genetisch bedingte Krankheit bei ihm nicht, wie bei den meisten anderen, auf eine Degeneration der Wirbelsäule ausgewirkt hat. Arme, Rumpf und Kopf sind bei ihm weitestgehend normal entwickelt. Wobei er schon einen auffallend massigen Quadratschädel sein Eigen nennt.

Lediglich die Beine weisen eine extreme Verkürzung auf, die es ihm unmöglich macht, normal zu laufen.

„Ich bin der einzige Mensch, dessen Schwanz länger ist als seine Beine“, pflegt er in diesem Zusammenhang gerne zu sagen.

Seit Jahren bewegt er sich in der Öffentlichkeit hauptsächlich mit einem speziell für ihn konstruierten Rollstuhl vorwärts. Deshalb der Vergleich mit Hawking. Im Grunde aber versucht er es zu vermeiden, seine Burg überhaupt verlassen zu müssen. So hält er beispielsweise die Pflichtvorlesung und das Seminar, die er pro Semester gibt, dank moderner Technik und einer Sondergenehmigung der Uni-Leitung von zu Hause aus ab.

Die Studenten, die sich einen der streng limitierten Plätze erobern konnten, dürfen ihren Professor G-Punkt live auf einem Monitor bewundern, während er in seiner Bude hockt und seinen Text abspult. Nicht, dass sich der lernwillige Nachwuchs zu Hause oder im Café oder wo auch immer aufhalten und ihm auf dem Tablet oder gar einem Smartphone zuhören dürfte. Nein, so fortschrittlich wollen wir an der SFU nun doch nicht sein. Schließlich könnte sich ja möglicherweise Wer-weiß-wer in das wertvolle, höchst exklusive Wissensgut hacken, unerlaubt mithören oder sogar den Redefluss sabotieren. Wo kämen wir da hin? Nein, das Ganze läuft natürlich ausschließlich über den Server der Universität und wird nur in den Vortragssaal oder den Seminarraum übertragen.

Dr Crıme:

Tut mir leid, wenn ich schon wieder dazwischenfunken muss. Aber zum einen kommt es mir so vor, als würde unser junger Proband seine Aufzeichnungen für irgendwelche Aliens verfassen.

Wer bitte kennt Sebastian G. Rotenbaum nicht?

Und wem zum Teufel muss man seine Behinderung erklären?

Dass die Rotzlöffel ihn Professor G-Punkt nennen, ich vermute, Leon ist da nicht der einzige, war mir allerdings neu. Zum anderen: Auf die Idee, dass auch der Server der SFU selbst für minderbegabte Hacker nur eine bescheidene Herausforderung darstellt, darauf kommt der neunmalkluge Chronist natürlich nicht. Doch was soll‘s. Ich halte zugute, dass mein eigener Einwurf an dieser Stelle – um mal eine Floskel zu benutzen, die dem kleinen Schwätzer gefallen würde – auch nicht gerade zielführend ist.

Leon:

Ich wollte also gerade im Institut meine Sachen zusammenpacken, um mich schleunigst zu Rotenbaums Klause zu begeben, da quatschte mich Fräulein Menke von der Seite an und beorderte mich stattdessen ins Allerheiligste. In das Büro von Frau Professor Meltendonck. Fräulein Menke ist das Geschöpf mit der tollen Stimme.

Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu kapieren, warum die Stimme von allen – und das auch in ihrem Beisein – Fräulein Menke genannt wird. Ich war anfänglich etwas verunsichert. Nicht dass ich was dagegen hätte, wenn diese altmodische, aber hübsche Form, mit der früher unverheiratetes und deshalb oft auch knackiges Gemüse angesprochen wurde, wieder salonfähig werden würde.

Doch nicht jeder kapiert den Witz. Wer zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle noch zu jung oder gar nicht auf der Welt war, das soll – wie ich mir habe sagen lassen – die Mehrheit der Weltbevölkerung sein, wird mit dem Namen nur dann was anfangen können, wenn man pop-historische Interessen hat oder schon mal mit einem Tretboot in Seenot war. Kurz, die Stimme heißt mit Nachnamen Menke und das Frollein ist ein Witz für Insider (harhar).

Hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Pflicht, arbeitete ich das Naheliegende zuerst ab. Meltendoncks Bürotür öffnete sich, als ich gerade in den Gang bog und Jörg Evers kam heraus.

„Walter“, sagte er und lief mit einem knappen Nicken an mir vorbei. Das war seine Art der Begrüßung und erinnerte mich unangenehm an alte Gymnasialzeiten. Evers gehört zu den Typen, die selbst in einem schlabberigen weißen Laborkittel eine gute Figur abgeben. Kein Wunder, dass die Chefin ihn mag. Er ist etwas kleiner als ich, aber das sind viele, und hat Straßenköter-blonde halblange Haare, in die er sich zu allem Überfluss noch ein paar hellere Strähnchen gefärbt hat, so dass er auch problemlos beim Christopher Street Day mit marschieren könnte. Aber er ist – nach allem, was ich mitbekommen habe – stock-hetero und lässt beim weiblichen Personal nix anbrennen. Also ein Rivale.

Ich klopfte an Frau Professors Tür und trat ein.

„Moment noch, Walter“, sagte sie und kritzelte irgendetwas, das wie sumerische Keilschrift aussah, in einen Block. Evers schien ansteckend auf sie gewirkt zu haben.

Ich sah mich um.

Ihr Büro wirkt erstaunlich unprätentiös und vor allem ziemlich beengt. Das verwundert umso mehr, wenn man weiß, dass sie privat in einem Landschlösschen residiert. Es kursieren unter den Studenten heimlich aufgenommene Fotos von den privaten Behausungen des Lehrkörpers. Meltendoncks Schloss und Rotenbaums Villa rangieren in den Charts ganz oben. Rechts neben ihrer Bürotür stand eine Vitrine, in der sie eine Auswahl ihrer Bücher in allen möglichen Sprachen zur Schau stellte, dazu Urkunden, Auszeichnungen und andere Devotionalien. Neben der Vitrine hing in einem hübschen Rahmen ein altes, fast vergilbtes Plakat, das auch auf den zweiten Blick wie ein Steckbrief aussah:

GESUCHT

das Unbewusste

stand darauf. Zwischen den beiden Zeilen prangte das Konterfei von Sigmund Freud.

„Meines Wissens existieren noch ganze drei Exemplare von diesem Plakat. Weltweit“, sagte sie stolz. Sie war neben mich getreten. „Eins ist in Wien in Privatbesitz, eins in New York bei der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft und das hier.“

Ich las den in Fraktur verfassten Text, der das Plakat unten abschloss.

„Gastvortrag von Dr. Sigmund Freud am 13. September 1925 in der Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen. Beginn 4 Uhr nachmittags, ct.“

„Der Vortrag wäre auch ohne diese vielleicht etwas fragwürdige ‚Reklame‘ sehr gut besucht worden. Wie es heißt, musste die Fakultät auf den größten Saal ausweichen, der damals in der Uni so kurzfristig zur Verfügung stand, die Aula im Schloss …“

„Friedrich-Alexander-Universität …?“, fragte ich.

„So hieß unsere Uni nach ihren Gründern bis 1968. Freud musste in hohem Alter auf sehr demütigende Weise mit seiner Familie nach dem Anschluss Österreichs durch Nazi-Deutschland emigrieren.“ Sie malte beim Wort Anschluss mit den Fingern Gänsefüßchen in die Büro-Luft. „Bekanntermaßen verbrachte er seine letzten Jahre in England. Nach dem Krieg kam eine der engsten Gefolgsfrauen seiner Tochter Anna Freud, die für die Psychoanalyse ähnlich viel getan hat wie ihr Vater, nach Erlangen. Das war Christa Schwarzer, die als junges Mädchen in England noch beim alten Freud persönlich eine Analyse gemacht hat, die Anna Jahre später kurzerhand zur Lehranalyse deklariert hat. Anna hat die Sitzungen mit Christa im Nachhinein akribisch aufgearbeitet. Die Tochter hat sich damit zu einer Art Supervisorin ihres Vaters erklärt. Ob Freud damit einverstanden gewesen wäre?“

Sie sah mich fragend an. – Woher soll ich das wissen, dachte ich, sagte aber nichts und zuckte nur mit den Schultern. So ist das mit den Psycho-Aktivisten. Jedes winzige Detail geht über die vordergründige Aussage hinaus, was mich an bestimmte Methoden meines eigenen Fachgebiets erinnert. Nix kann so stehen bleiben, wie es mal geschrieben wurde.

„Man sagt jedenfalls, dass Christa Schwarzer Freuds Tochter dazu inspiriert hat, sich auf die Analyse von Kindern zu spezialisieren. Trotz des Altersunterschieds blieben sie lebenslang Freundinnen. Angesichts der vielen Eifersüchteleien innerhalb der psychoanalytischen Forschung ist bereits das ein kleines Wunder! Christa jedenfalls warf sich ganz auf die Traumforschung und machte sie zu ihrem Lebensinhalt. Sie hat unser Institut ins Leben gerufen. Sie war, was sage ich, sie lebt ja noch … Sie ist eine Frau, die es trotz der vielfältigen Widerstände, denen Frauen damals im akademischen Leben ausgesetzt waren, ausgezeichnet verstanden hat, Einfluss zu bekommen und auszubauen. Und letztlich ist es ihr zu verdanken, dass sich die Universität in den späten 60er-Jahren dazu durchrang, die alten Fürsten auf den Müll der Geschichte zu werfen und sich umzubenennen …“

„Wegen dieses einen Vortrags?“ Ich tippte unter dem missbilligenden Blick der Meltendonck auf das Glas, unter dem das obskure Fahndungsplakat, das keines war, an der Wand hing.

„Nicht nur. Ohne die Energie, die unsere Institutsgründerin investiert hat, wäre es nie dazu gekommen. Vor allem aber kam die Wahl des neuen Namens zu einer Zeit, als die Deutschen endlich anfingen, sich ihrer historischen Verantwortung angesichts des Holocaust bewusst zu werden. Trotzdem gab es viele Widerstände, und glauben Sie mir, noch heute gibt es Kollegen, die nichts dagegen einzuwenden hätten, die Markgrafen wieder in Amt und Würden zu setzen. Ohne diesen Herrschern ihr historisches Verdienst um die Gründung unserer Alma Mater absprechen zu wollen, so wie es jetzt ist, finde ich es besser.“

„Trotzdem – das Plakat wirkt wie ein Steckbrief.“

„Damals konnte keiner wissen, dass Freud vierzehn Jahre nach seinem Gastvortrag verfolgt und aus dem Land gejagt werden würde. Aber Sie haben auch aus heutiger Sicht nur zum Teil Recht.“

Ich starrte sie fragend an. Ich lasse mir gerne etwas beibringen, besonders von schönen, starken Frauen.

„Genau darum ging es damals. Und genau darum geht es auch heute. Gesucht: Das Unbewusste! Wir suchen das Unbewusste. Es ist der Schlüssel zu unserer Existenz. Ich rede gar nicht von der Seele. Das hat man früher gesagt. Mir ist das zu esoterisch. Unser Handeln, Denken und Fühlen wird zu einem großen, wenn nicht sogar zum größten Teil vom Unbewussten gesteuert, beeinflusst. Der freie Wille – manche sagen ja, den gäbe es überhaupt nicht. So weit gehe ich nicht, aber dennoch, der freie Wille ist nur ein kleines, zierliches, oft kaum lebensfähiges Pflänzchen im undurchdringlichen Dschungel jener Prägungen und Impulse, die uns wirklich bestimmen. Nicht zuletzt bildete dieser Gastvortrag das Ausgangsmaterial für eines der berühmtesten Spätwerke Freuds.“

„Auf der Suche nach dem Unbewussten“, ergänzte ich. Schließlich wollte ich nicht als ungebildeter Wilder vor ihr stehen. Sie sah mich mit einem Blick an, der mir vorkam, als habe sie Röntgenaugen. Ich fühlte mich von ihr bis in die hintersten Winkel meiner schmutzigen Fantasien durchleuchtet und würde mich nicht wundern, wenn mein Gesicht in diesem Augenblick knallrot geworden ist.

„Setzen Sie sich, Walter.“ Sie wies auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

„Sie sind Literaturwissenschaftler, schreiben an Ihrer Dissertation für Professor Rotenbaum. Glückwunsch. Sie gehören zum kleinen Kreis der Auserwählten. Ist Ihnen dieses Glück eigentlich bewusst?“

„A-aber na-natürlich“, stammelte ich.

„Ich werde Ihr Glück noch vollkommener machen.“

Zum ersten Mal schlich sich so etwas wie ein spöttisches Lächeln in ihre Mundwinkel.

„Mein kleiner Vortrag eben hat mir gezeigt, dass die Zusammenarbeit mit einer literarischen Kapazität – sagen wir es so – durchaus befruchtend sein kann.“ Jetzt lächelte sie etwas ausdauernder – und noch eine Spur maliziöser. Es schien ihr tierischen Spaß zu machen, junge Männer, die in ihre Fänge geraten waren, auf eine kaum greifbare Weise zu verunsichern. Wen meinte sie mit der literarischen Kapazität? Doch nicht mich – oder? Doch dann schweiften meine Gedanken ab und ich fragte mich, ob sie auch im Bett gerne die Domina gab. Oder war sie dort lieber devot und unterwürfig? Wie auch immer, unterm Strich verstand ich einfach nicht, was sie mir sagen wollte und dieser Erklärungsnotstand schien mir deutlich anzusehen zu sein.

„Kommen Sie, ich beiße nicht. Schauen Sie nicht so ernst. Ich meinte das so, wie ich es sagte. Sie haben mich eben bei meinem kleinen Spontan-Vortrag durch ihre pure Anwesenheit inspiriert. Natürlich würde ich nicht so weit gehen, von poetischen Formulierungen zu sprechen …“ Sie sah mich mit großen Augen an. Ich schwieg – angemessen beeindruckt.

„Ich bitte Sie! Jetzt sagen Sie nicht, dass ich mit meiner Einschätzung komplett falsch liege. Bitte verderben Sie mir nicht den Tag!“

„Ganz und gar nicht“, warf ich hastig ein. „Aus jedem Ihrer Sätze höre ich nicht nur Ihre Kompetenz, Ihre Professionalität, sondern auch, dass sie äußerst geschickt mit Sprache umgehen können.“ Wenn es eins gibt, das ich gut kann, dann jemanden vollsülzen, der vollgesülzt werden will.

„Gut. Kommen wir zum Geschäftlichen. Ich habe Sie schließlich nicht hergebeten, um vor Ihnen eine Vorlesung für Erstsemester zu halten.“

Sie blätterte in ihren Unterlagen. Offensichtlich war sie nicht im Entferntesten daran interessiert zu sehen, wie ich auf ihren plötzlichen Stimmungswechsel reagierte.

„Ihre Protokolle für Helter Skelter sind zumindest insoweit interessant, dass ich Sie ausgewählt habe, Ihre Träume zu jeder Gelegenheit – also auch bei Ihnen zuhause – festzuhalten. Wir können natürlich keine Geräte in Ihrer Wohnung aufbauen, das wäre zu viel verlangt. Aber Sie sollen noch mehr protokollieren, als Sie es bisher getan haben. Natürlich werden Sie für diesen zusätzlichen Aufwand gesondert honoriert.“

Sie sah auf und nannte eine Zahl, bei der es mir für Sekunden den Atem verschlug. Ich nickte.

„Prima“, fuhr sie fort. „Sie haben sicher ein Smartphone?“

Ich bejahte mit einem stummen Nicken.

„Ich habe hier einen QR-Code – äh …“ Sie blätterte hastig durch die Papiere. „Ich sollte hier eigentlich einen QR-Code für eine App haben, die Sie sich aufs Handy laden. Sie legen es dann ab sofort, wenn Sie schlafen, neben Ihr Bett auf Ihr Nachttischchen.“

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22 декабря 2023
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9783964260161
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