Читать книгу: «Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen», страница 3

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Kapitel 5

Am nächsten Morgen wachte Großvater sehr früh auf. Er faltete die von Elses Vater geborgte Kleidung zusammen und legte sie auf einen Stuhl. Dann zog er seinen getrockneten Anzug an, packte die Bombe wieder in den Koffer und schlich sich zur Tür hinaus. Jetzt, am Morgen, saßen dort, wo am Abend die Frau die Schwäne gefüttert hatte, einige Angler. Es war ein kalter Morgen und am Wasser war es noch um einiges kälter als auf dem Weg zwischen den Wohnhäusern. Die Angler hockten wie angefroren auf ihren Klappstühlen und auch ihre Angeln bewegten sich keinen Zentimeter. Aber die Schwäne waren noch da, und das Wasser spiegelte ihre weißen Hälse und roten Schnäbel, und kleine Federn schaukelten um sie herum auf den leichten Wellen des Baches. Großvater ging leise an ihnen vorbei. Extrem leise. Nahezu geräuschlos. Großvater ging die Straße entlang, als existiere er überhaupt nicht. Wie niemand. Weil er beim Deponieren der Bombe nicht gestört werden wollte. Saboteure gab es überall. So stand es jedenfalls in Genosse Franks Traktat. In Großbuchstaben. So deutlich, dass man nicht darüber hinweglesen konnte. Man musste aufpassen. Immer. Das war klar, und noch eines war extrem wichtig: Man musste ständig das Bild Genosse Lenins vor Augen haben.

»Ohne Lenin geht nichts«, schrieb Genosse Frank. »Mit dem Bild des großen Lenin steht und fällt die ganze Sache!«

Lenin, dachte Großvater, wer zum Teufel ist Lenin? Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer Lenin war, und schon gar nicht, wie Lenin aussah. Vielleicht hat er ja Ähnlichkeit mit Genosse Frank, dachte Großvater. Vielleicht sieht auch dieser Lenin aus wie ein zum Sprint ansetzender Radfahrer.

Aber natürlich konnte er auch ganz anders aussehen. Wie jemand, der sich nach dem Händewaschen die Hände noch einmal wusch, weil er befürchtete, sich beim ersten Händewaschen schmutzig gemacht zu haben, oder wie jemand, der die Angewohnheit hatte, sich im Verlauf längerer Gespräche mehrmals mit seinem linken Fuß den rechten Oberschenkel zu kratzen. Vielleicht war er auch, obwohl Genosse Frank ihn als groß bezeichnete, überhaupt nicht groß, sondern ex­trem klein? So etwas gab es ja. Dass Leute, die dumm waren, klug genannt wurden oder Dicke dünn oder Hässliche schön. Bei jemandem, der Lenin hieß, konnte man sich da nicht so sicher sein. Möglicherweise trug dieser Lenin auch einen Bart oder besaß eine Glatze. Wer wusste das schon? Großvater jedenfalls nicht.

Das fängt ja gut an, dachte Großvater. Es wird zwar schwer, aber so wie es aussieht, werde ich es wohl ohne Lenin hinkriegen müssen.

Er ging über die Holzbrücke, die hinüber zum Rathausplatz führte, und während er vorsichtig über die Bretter stieg, bemerkte er, wie unglaublich laut sein Herz schlug. Es klopfte in einer ungeheuer hohen Frequenz und seltsamerweise auch nicht dort, wo es eigentlich hätte schlagen sollen, sondern in seinem Kopf, seinen Füßen und irgendwo weit unten am Wasser, wo die Angler saßen. Großvater fuhr sich, weil er mit der rechten Hand den Koffer mit der Bombe hielt, mit der linken Hand über sein Gesicht. Er schwitzte, und mehrmals fiel ihm, aus Angst, sie fallen zu lassen, die Bombe herunter. Er hob sie wieder auf, und immer schien sie dann ein paar Kilo mehr zu wiegen als vorher. Großvater wurde langsam nervös. Die Weltrevolution war wesentlich schwerer, als er gedacht hatte. Er fragte sich, warum davon in Genosse Franks Traktat nichts stand.

Großvater konnte schließlich nicht wissen, dass Genosse Frank über keinerlei praktische Erfahrungen im Klassenkampf verfügte. Genosse Frank befasste sich ausschließlich theoretisch mit der Veränderung der Gesellschaft. Er besaß eine fundierte Sicht auf die Welt, wie sie nicht war. Außerdem vertrat er die romantische Vorstellung, dass sich alles, aber auch wirklich alles mit Geld regeln ließe. »Wenn die Armen das Geld bekommen, das jetzt die Reichen besitzen«, schrieb er, »wird die Welt gerechter sein.«

Aber stimmte das? Wenn den Armen das Geld der Reichen gegeben wurde, dann waren eben die Armen reich und die Reichen arm, na und? Was sollte denn daran gerecht sein? War es etwa gerecht, wenn die Gesunden die Gebrechen der Kranken bekamen und danach die Gesunden krank und die Kranken gesund waren? Und konnte man von Gerechtigkeit sprechen, wenn die Glücklichen mit den Unglücklichen tauschen mussten, nur weil die Unglücklichen das Glück der Glücklichen nicht ertrugen? Irgendwie hatte Großvater das Gefühl, dass Gerechtigkeit etwas anderes war, aber weil er nicht wusste was, hielt er es für das Sinnvollste, erst einmal die Bombe zu zünden. Er befand sich jetzt in unmittelbarer Nähe des Rathauses, und sein Herz schlug laut, und sein Atem war kurz, und die Tauben, die vor ihm auf dem Boden hockten, flogen nicht einmal auf, als er zwischen ihnen hindurchging.

Blöde Viecher!, dachte er. Elendes Dreckszeug!

Es war einer dieser Frühlingstage, an denen es scheint, die Welt drehe sich rückwärts und der Winter kehre zurück. Aus den Schornsteinen stieg schwarzer Rauch in einen blassen, tiefhängenden Himmel voller Frost. Außerdem war es ungewöhnlich still, und in der kalten, unbeweglichen Luft nahm man jedes Geräusch sehr klar und deutlich wahr. Das Schlagen der Rathausuhr zum Beispiel. Erst sechs und nun schon sieben Mal. Eigentlich wollte Großvater um diese Zeit die Bombe schon längst gezündet haben, aber irgendwie ging es nicht voran, irgendwie kam er nicht zur Sache. Vielleicht lag es ja daran, dass er das Verbot von Dummheit noch immer für den besseren Weg hielt, eine gerechtere Welt zu errichten, und vielleicht hoffte er in letzter Minute auf den rettenden Einfall, es subtiler lösen zu können, ohne Gewalt. Aber dann dachte er an Herberts Fahrrad, und da begriff er, dass er jetzt keine Wahl mehr hatte, dass es, wenn er sein Versprechen einlösen wollte, im Augenblick tatsächlich nur diesen einen Weg gab.

»Nun reiß dich bloß zusammen!«, sagte er zu sich selber. »Jetzt zieh es durch, und dann ist es gut!«

Er sagte es so, als ob es Herbert zu ihm sagte, und weil Großvater daran gewöhnt war, das, was Herbert ihm sagte, auch zu tun, zog er es jetzt durch. Er zischte noch einmal »elendes Dreckszeug!«, und dann geschah etwas überaus Seltsames, Eigenartiges: Großvaters Blick wurde starr, seine Pupillen zogen sich zusammen und die Muskeln seiner Wangen verhärteten sich. Er stieß, was er sonst nie getan hätte, ein paar Tauben mit dem Fuß zur Seite und rannte zwischen ihnen hindurch bis zum Eingang des Rathauses.

»Zieh es durch!«, hörte er Herbert immer wieder sagen. »Zieh es durch!«

Da nahm Großvater die Bombe aus dem Koffer, legte sie auf die Treppe, befestigte das eine Ende der Zündschnur dort, wo er es auch bei der Bombe im Schuppen hinter Herberts Haus befestigt hatte, rollte die Schnur ab und lief mit ihrem anderen Ende in der einen und dem Koffer in der anderen Hand zu einer Mauer, die irgendwann einmal zwischen dem Rathaus und dem Ufer des Baches errichtet worden war.

Großvater befand sich in einer Art Trance. Die Dinge taten sich von selbst. Er funktionierte wie eine Maschine und unterbrach seine Arbeit nicht einmal, als zwei der Angler an ihm vorbeigingen und ihm einen guten Morgen wünschten. Da hatte er schon die Streichhölzer in der Hand, und nur ein paar Minuten später fraß sich eine kleine Flamme entlang der Zündschnur in Richtung der vor dem Rathaus deponierten Bombe.

Völker, hört die Signale!, dachte Großvater.

Er war hinter der Mauer in Deckung gegangen, hatte den Kopf eingezogen und wartete auf den großen Knall. Das war der Kreislauf der Welt. Dinge wurden gebaut und zerstört und danach wiederaufgebaut. Immer wurde die Zukunft mit etwas Neuem, Besserem verbunden, immer. Und immer musste dafür das Alte, Schlechte zerstört werden, und Zerstörung bedeutete Gewalt. So war das eben. Und gleich würde es wieder so weit sein, gleich würde die Welt einen großen Schritt nach vorn machen, dorthin, wo es gerechter zuging, gütiger, menschlicher. Und das seinetwegen. Weil er die Bombe dorthin gebracht hatte, wo sie jetzt lag.

Gar nicht schlecht, dachte Großvater, im Gegenteil. Das ist sogar ziemlich gut für jemanden, der noch nie sein Dorf verlassen hat!

Die Stille war für einen Moment zurückgekehrt, nur das Knistern der Flamme an der Zündschnur war zu hören, und es war fast ein wenig unheimlich, wenn man wusste, welches Inferno dieses Geräusch ankündigte. Aber dann, plötzlich, hörte Großvater noch etwas. Etwas, das ihn aus der Trance erwachen und sofort in die Realität zurückkehren ließ. Es waren Schritte. Sich extrem schnell nähernde Schritte.

Saboteure, dachte Großvater. Das darf doch nicht wahr sein! Das gibt’s doch gar nicht! Wenn die mich finden, na, dann gute Nacht!

Genosse Frank hatte mit seiner in Großbuchstaben geschriebenen Warnung offensichtlich recht gehabt. Nirgends, absolut nirgends konnte man vor den Konterrevolutionären sicher sein. Sie kämpften für vorrevolutionäre Verhältnisse, noch bevor die Revolution überhaupt stattgefunden hatte. Sie waren fanatisch. Ihnen machte man nichts vor. Die sahen einem den Revolutionär schon von weitem an, egal, wie sehr man sich um Unauffälligkeit bemühte.

Na ja, dachte Großvater, das war es dann wohl.

Wahrscheinlich würden sie jetzt die Zündschnur austreten oder ihn erschießen, vielleicht auch beides. Das Risiko hatte von Anfang an bestanden. Neben all den anderen Risiken wie im Dorfbach zu ertrinken, keine Machtzentrale zu finden, von einer Seuche dahingerafft zu werden, einen Fahrradunfall zu haben. Nein, das letzte wohl nicht.

Wenn ich doch wenigstens wüsste, wie Lenin aussieht!, dachte Großvater.

Er richtete sich ein wenig auf, um über die Mauer hinwegsehen zu können, nur so weit, dass seine Augen nicht mehr von den Steinen verdeckt waren, und wurde augenblicklich von einer grenzenlosen Panik erfasst. Vor dem Eingang des Rathauses, dort, wo auf den Treppenstufen die Bombe lag, stand Else.

»Else!«, schrie Großvater. »Weg da!«

Else drehte ihren Kopf in seine Richtung, aber bewegte sich keinen Schritt.

»Else!«, schrie Großvater noch einmal. »Lauf weg, schnell!«

In allen Fenstern des Rathauses ging das Licht an, aber Else stand da und schien nicht zu wissen wohin. Natürlich begriff Großvater sofort, weswegen sie dort, vor dem Rathaus, stand. Um ihn vom Zünden der Bombe abzuhalten. Als sie bemerkt hatte, dass er sich nicht mehr in der Wohnung befand, war sie zum Rathaus gelaufen. Was denn sonst. Sie wollte ja von Anfang an, dass er die Bombe wegwarf.

»Wirf sie weg!«, hatte Else gesagt. Immer wieder: »Wirf sie weg!«

»Um Himmels Willen!«, schrie Großvater. »Nein!«

Er sprang hinter der Mauer hervor, rannte auf Else zu. Die Zündschnur war schon fast abgebrannt, die Flamme kroch bereits entlang der Treppenstufen nach oben.

»Komm jetzt!«, rief er, packte Else am Arm, riss sie mit sich nach unten, und dann begann er zu rennen, mit ihr an der Hand zu rennen, er rannte, so schnell er nur konnte, und ließ sie nicht wieder los.

Hinter ihnen explodierte die Bombe. Mit einem Knall, der sich anhörte, als würde der Himmel zerplatzen. Ziegelsteine, Stücke des eisernen Geländers, Glassplitter, Holzleisten und Zementbrocken schossen nach allen Seiten durch die Luft und stürzten viele Meter entfernt wieder zu Boden. Großvater und Else spürten die Druckwelle im Rücken. Wie eine physische Berührung, wie einen harten Stoß oder Schlag, der sie mit ungeheurer Kraft nach vorn schob. An den umliegenden Häusern begannen die Fassaden zu vibrieren. Grauer Putz fiel auf den Bordstein. Fensterscheiben klirrten. Und Großvater und Else rannten und rannten, während sich hinter ihnen eine riesige Staubwolke auszubreiten begann.

Was habe ich nur getan?, dachte Großvater. Was habe ich nur getan?

Und dann tauchten die ersten Polizisten aus der Staubwolke auf. Mehrere Kommandos wurden gerufen. Und etwas, das sich wie ein Schuss anhörte, donnerte über sie hinweg. Völlig sicher, dass nun tatsächlich alles aus war, blieb Großvater stehen.

»Rotfront!«, rief er voller Verzweiflung, drehte sich um und schwenkte aus der Bewegung heraus seinen Koffer.

»Du Idiot!«, keuchte Else. »Hör auf damit!«

»Warum denn?« Großvater stellte den Koffer resigniert neben sich ab. »Das ist doch nun eh alles egal!«

»Ich will aber nicht ins Gefängnis!« Else schnappte noch immer nach Luft. »Dann bin ich lieber illegal.«

»Was?«, rief Großvater, und dieses Mal war es Else, die wieder zu laufen begann und Großvater mit sich zog.

»Illegal!«, schrie Else. »Illegal heißt, es gibt keinen Platz mehr für uns, verstehst du das? Sie werden uns überall suchen! Überall, hörst du? Und jetzt wirf endlich den Koffer weg!«

Da warf Großvater den Koffer weg und Else zerrte ihn an seinem Arm immer weiter und weiter.

»Hier lang!«, rief sie.

Und dann rannten sie an der Mauer entlang, und hinter ihnen waren die Schritte der Polizisten, und in der Ferne fielen einige Steine zu Boden und rollten noch ein Stück über den Rathausplatz, bevor sie schließlich weit verstreut im Staub liegen blieben.

Die Mauer ist ja länger als die Welt!, dachte Großvater, während er mit großen Schritten Else folgte, sich mit der freien Hand sein Zwerchfell hielt und keuchend nach Luft schnappte. Wahrscheinlich hört sie nie wieder auf!

Aber dann war die Mauer doch zu Ende, und Else und er liefen hinunter in die Stadt, dorthin, wo Else sich auskannte und einen Platz fand, an dem sie kurz verschnaufen konnten. Beide standen nach vorn gebeugt, hatten die Hände auf ihre Oberschenkel gestützt und holten tief Luft.

»Du hättest sie wegwerfen sollen!«, sagte Else.

»Ich weiß«, schnaufte Großvater.

»Versprich mir, dass du nie wieder nicht auf mich hörst!«, verlangte Else.

»Ich verspreche es«, sagte Großvater, und dann rannten sie wieder los. Dort entlang, wo es so dunkel war, dass selbst die Polizei sich nie sehen ließ, durch enge Gassen zwischen finsteren Häuserfluchten, auf schmalen Wegen entlang schmutziger Hinterhöfe und lärmender Fabrikhallen. Zum Glück wusste Else, wo sie sich befanden. Großvater nahm außer der Bewegung seiner Beine nichts mehr wahr. Nicht einmal das keuchende Geräusch, das er beim Atmen erzeugte. Die Welt hatte ihre Gestalt verloren. Ihm schien es, als liefe er durch das eine Nichts in das nächste Nichts. Und plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke.

Vielleicht, dachte er, vielleicht ist ja das Nichts die Gerechtigkeit. Vielleicht ist das Nichts das, wonach wir suchen. Das Nichts macht alles gleich. Es gibt kein gutes oder schlechtes Nichts. Niemand streitet sich um nichts. Wegen nichts müssen keine Bomben gezündet werden. Für nichts benötigt man keine Revolution. Alles, was wir brauchen, ist nichts. Kein anders verteilter Besitz, sondern überhaupt kein Besitz. Einfach nichts. Das wäre gerecht.

Für einen Moment hielt Großvater das Nichts für die Lösung. Aber natürlich war es nicht die Lösung, weil sich kein Mensch mit nichts zufriedengeben würde. Keiner.

Wie wir sehen, arbeitete es in Großvaters Kopf selbst in beinahe ausweglosen Situationen wie dieser, an einem kalten Morgen in einer fremden Stadt auf der Flucht vor der Polizei, an der Hand einer hübschen jungen Frau, die Else hieß, und Else zog Großvater noch immer hinter sich her, und er folgte ihr durch die ganze Stadt bis dorthin, wo die Schrebergärten aufhörten und der Bahndamm begann. Von da an liefen sie nur noch die Schienen entlang. Über Holzbohlen und Schottersteine und Disteln und Brennnesseln bis zu den langen Baracken des Güterbahnhofs und dann weiter in die Bahnhofshalle, und auf einem der Gleise stand ein Zug, und die Lokomotive stieß weißen Dampf aus ihren Kesseln, und die Schienen bebten leicht unter der Kraft der bereits arbeitenden Motoren und der Last der schweren Waggons.

»Schnell«, rief Else, »schnell steig ein!«

»Hier?«, fragte Großvater, während er die Waggontür aufriss.

»Ja«, schrie Else, »mach jetzt!«

Da sprang Großvater die Stufen nach oben, drehte sich um und hielt Else seine Hand entgegen. Else nahm sie und Großvater rief »Festhalten!« und zog Else zu sich in den Waggon.

»Das war ja ganz schön knapp!«, konstatierte er, noch immer außer Atem.

»War?«, fragte Else und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurz geschnittenes Haar. »Mach dir bloß keine Illu­sio­nen. Das ist noch nicht vorbei. Noch lange nicht. Darauf kannst du dich verlassen!«

Und dann schlug sie die Tür hinter sich zu und ließ sich auf einen der gepolsterten Sitze fallen. Im selben Moment fuhr der Zug an, und die Polizei kam und umstellte den Bahnhof, aber sie waren nur zu fünft, und außerdem war es zu spät, und der Zug hatte die Halle schon verlassen.

Kapitel 6

Genosse Frank bremste sein Motorrad genauso, wie er es vor einem Jahr mit dem Fahrrad getan hatte, nur dass dieses Mal die Staubwolke um einiges gewaltiger ausfiel. So gewaltig, dass sogar Anita es sofort bemerkte.

»Na?«, fragte Genosse Frank. »Alles in Ordnung?«

»Wie man es nimmt«, antwortete Herbert und umkreiste Genosse Franks Motorrad. »Heißer Ofen!«, sagte er dann. »Hat denn die Revolution schon stattgefunden?«

»Zuerst müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Die Motorisierung der KP gehört dazu.« Genosse Frank löste die Schnalle des Gurtes unter seinem Kinn und nahm die Lederkappe vom Kopf. »Und? Wie ist die Lage vor Ort?«

»Ich halte die Stellung und schlachte Hühner«, sagte Herbert.

»Na ja«, sagte Genosse Frank und bockte sein Motorrad auf, »nicht die schlechteste Art der Vorbereitung. Ohne Blutvergießen wird sich der gesellschaftliche Wandel nicht vollziehen lassen.«

»Aber ein Fahrrad habe ich immer noch nicht!«, beschwerte sich Herbert.

»Fahrräder gibt es erst nach der Revolution!«, entgegnete Genosse Frank. Es klang ein wenig mürrisch.

»Das hat sich aber vor einem Jahr noch ganz anders angehört!«, protestierte Herbert.

»Vor einem Jahr!« Genosse Frank schraubte den Tankverschluss seines Motorrades auf, um nachzusehen, ob das Benzin noch reichte. »Da hast du bestimmt etwas falsch verstanden. Kein Wunder, du warst schließlich neu in der Partei. Aber inzwischen solltest du dir schon im Klaren darüber sein, dass es in der KP nicht in erster Linie um Fahrräder geht!«

»Ja, aber …«, versuchte es Herbert noch einmal, wurde aber sofort von Genosse Frank unterbrochen.

»Jetzt ist es aber genug! Denkst du wirklich, du hättest Anspruch auf irgendetwas? Wie kommst du denn darauf? Du hast für die Partei da zu sein und nicht die Partei für dich! Besitz ist nun wirklich das Letzte, worum es geht. Lies dir mal mein Traktat durch. Was darin über Idealismus steht und über persönlichen Verzicht und über die große Sache im Allgemeinen!«

Genosse Frank hatte sich in Rage geredet. Seine Stimme war immer lauter geworden, am Ende so laut, dass Anita es vor Neugier nicht mehr ausgehalten und mit weit nach oben geschürztem Rock über die Wiese zu ihnen hingelaufen war.

»Also hast du mich belogen!«, brüllte Herbert.

»Überlege dir, was du sagst!«, brüllte Genosse Frank zurück. »Leg es nicht auf ein Disziplinarverfahren an, hörst du? Du bist Parteimitglied, vergiss das nicht!«

»Was?«, rief Herbert.

»Ja, was!«, rief Genosse Frank.

»Hört auf!«, kreischte Anita und drängte sich, indem sie einmal die linke und dann wieder die rechte Schulter nach vorn schob, zwischen die beiden. Dabei geriet ihre Oberweite derartig in Bewegung, dass Herbert und Genosse Frank kurzzeitig die Fassung verloren.

Genosse Frank kriegte sich als erster wieder ein. »Wer ist denn das?«, fragte er.

»Anita«, sagte Herbert.

»Ach so«, sagte Genosse Frank.

»Ja, aber trotzdem!«, fing Herbert wieder an.

»Schluss jetzt!«, bestimmte Anita. »Jetzt beruhigt ihr euch mal wieder!«

Genosse Frank sah Anita an und wischte ein wenig verunsichert mit der gesamten Fläche seiner rechten Hand über den verchromten Lenker seines Motorrades. »Wie auch immer«, sagte er dann, »was macht denn eigentlich der andere von euch beiden?«

»Welcher andere?«, fragte Herbert.

»Der andere Genosse. Genosse …?«

»Bruno«, sagte Anita.

»Ach, Bruno«, sagte Herbert.

»Ja, Bruno«, blaffte Genosse Frank.

»Bruno zündet Bomben in den Machtzentralen der herrschenden Klasse«, sagte Herbert.

»Ach nee!«, sagte Genosse Frank.

»Aber wenn ich es doch sage!«, bekräftigte Herbert. »Hör dich bei deinen Leuten mal ein bisschen um. Der Knall hat sich bestimmt schon herumgesprochen!«

»Na, so was!«, freute sich Genosse Frank. »Der Bruno legt Bomben! So ein verrückter Hund!« Seine Laune verbesserte sich zusehends. »Der wird es den Bonzen schon zeigen, was?«

Herbert nickte. »Aber hallo!« Und dann trat er einen Schritt hin zu Genosse Frank und sagte: »Nur, damit das klar ist: Die Bombe haben wir zusammen gebaut!«

»Soso«, sagte Genosse Frank.

»Doch, das mit der Bombe ist wirklich wahr«, mischte sich Anita ein. »Im Januar ist ihnen dabei der Schuppen abgebrannt!«

»Sagen Sie bloß!«, sagte Genosse Frank.

»Den Rums hat hier jeder gehört!«, begeisterte sich Anita. Obwohl ihr Kleid längst wieder richtig saß, zog sie es immer wieder nach unten.

»Können Sie mal damit aufhören?«, fragte Genosse Frank.

»Womit soll ich aufhören?«, fragte Anita.

»Na, hier, Sie wissen schon!«, sagte Genosse Frank.

»Ach so«, sagte Anita und zog ihr Kleid noch ein Stück weiter nach unten.

»An dem Tag habe ich die Weltrevolution gesehen!«, schwärmte Herbert.

»So, wie ich sie in meinem Traktat beschrieben habe?«, fragte Genosse Frank.

»Eins zu eins. Wie denn sonst?«, fragte Herbert zurück.

»Tatsächlich? Ich habe das vorhin übrigens nicht so gemeint«, lenkte Genosse Frank ein. »Du kriegst dein Fahrrad, verlass dich drauf!«

»Ich verlasse mich auf gar nichts mehr!«, maulte Herbert.

»Na, dann eben nicht«, sagte Genosse Frank. »Ist ja auch egal, ich muss jetzt erst einmal in die KP-Zentrale, Meldung machen!«

Er setzte die Lederkappe wieder auf und schwang sich auf sein Motorrad. Es war eine wirklich schwere Maschine, aber Genosse Frank hatte sie im Griff. Auf dem Motorrad sah er fantastisch aus, und seine Augen glänzten wie die eines Filmstars, wie die Augen von Hans Albers oder Fritz Kortner.

»Kann ich ein Stück mitfahren?«, fragte Anita.

»Sind Sie in der Partei?«, fragte Genosse Frank.

»Nein«, antwortete Anita.

»Dann nicht«, sagte Genosse Frank, startete den Motor und bretterte los. Das Motorrad röhrte und dröhnte und die Staubwolke hinter ihm verhüllte das Sägewerk und den Wald dahinter gleich mit.

»Sie müssen doch nicht Sie zu mir sagen!«, rief ihm Anita hinterher.

Aber das hörte Genosse Frank schon nicht mehr, denn in seinen Gedanken war er schon ganz woanders, in seinen Gedanken chauffierte er bereits ein Automobil.

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
212 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783943709865
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