Читать книгу: «Angsttier», страница 2

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Am besten war immer der Moment des Eintauchens in das kalte Wasser. Auf einmal ist alles anders. Die Temperatur, das Licht, die Töne, der Druck auf der Haut. Als Einzelwesen da oben zu schwimmen, auf dem tiefen dunklen See, in dem sich noch Tausende anderer Wesen tummelten, von denen er keine Ahnung hatte.

Beim Abtrocknen bemerkte er, dass es vollkommen still geworden war. Der Wind hatte sich gelegt und auch die Frösche und Vögel gaben keinen Laut mehr von sich. Jakob bewegte sich etwas, um wenigstens selbst Geräusche zu verursachen, aber auch das Abreiben mit dem Handtuch und das Aufsetzen der Füße auf den Boden wurden seltsam verschluckt. Rufen wollte er nicht, das kam ihm übertrieben vor. Lautlos zuckte ein Blitz über den See. Jakob hatte ihn wahrgenommen, aber nicht darüber nachgedacht, was dann passieren würde, und so traf ihn der Donnerknall, eine Sekunde später, vollkommen unvorbereitet. Vor Schreck blieb ihm der Atem stehen. Der Blitz musste recht nah eingeschlagen sein, er meinte sogar, dass sich der Erdboden ein bisschen bewegt hatte. Jetzt kam er sich ganz mickrig vor, wie er hier stand, mit dem Handtuch um die Hüften, umringt von riesigen Bäumen.

Der Wind frischte auf und brachte den ersten Regen. Erst fielen nur wenige, aber dicke, schwere Tropfen, die auf das Wasser platschten. Jakob löste vorsichtig das Kreppband, sodass der kleine Kater es am besten gar nicht mitbekam, setzte den Schuhkarton aufs Wasser und gab ihm einen leichten Stups. Der Karton schaukelte auf dem Wasser und die Tropfen schlugen auf den Deckel. Bald schon würde die Pappe durchweicht sein. Dann ging alles ganz schnell, der Wind war zum Sturm geworden und der Regen prasselte hinunter. Jakob riß sich los und flüchtete ins Auto.

Der Garten des Nachbarn war jetzt leer, und durch das Fenster der Plastiktür sah man das blaue Leuchten des Fernsehers. Eigentlich, dachte Jakob, wäre es schön, gleich für immer hier zu bleiben, und als er an einem Gasthof zum Rappen vorbeifuhr, entschloss er sich, dort einzukehren, bis das schlimmste Unwetter vorbei wäre. Als er durch den Flur auf die Gaststube zulief, hörte er von drinnen lautes Lachen. Wollte er da wirklich reingehen, noch könnte er einfach umdrehen und sich in die Stadt kämpfen.

Als er die Tür öffnete, war er erstaunt, dass nur der Wirt und noch zwei andere an der Theke standen. Im Fernsehen lief eine Gerichtssendung ohne Ton und auch von draußen drang durch das Isolierglas kaum etwas von den Geräuschen des Sturms herein. Der präparierte Pferdekopf gegenüber dem Eingang wirkte überraschend echt, und wenn er nicht so angestaubt gewesen wäre, hätte man glauben können, dass ein Pferd den Kopf durch die Wand gesteckt hatte. Jakob entschied sich für einen Tisch am Rand, von dem aus er den Raum gut überblicken konnte. Der Stuhl, den er vom Tisch zog, war schwer und ratterte laut über den Boden. Erst jetzt nahmen die Männer Notiz von ihm, verstummten augenblicklich und schauten zu ihm rüber.

»Nachtigall, ick hör dir trapsen«, rief einer an der Theke, was die anderen in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. Jakob erkannte, dass sie gefüllte Bier- und Schnapsgläser zu einer Pyramide aufgestapelt hatten. Der Wirt kam zu ihm an den Tisch und Jakob bestellte ein kleines Bier und eine Frikadelle. Die Speisekarte behielt er, um noch die Sage zu lesen, die auf der ersten Seite abgedruckt war.

In einem Dorf lebte einmal eine Sippe, in der alle einen Kopf größer waren als die anderen Menschen in der Umgebung. Ihre Körper waren über und über mit Haaren bewachsen. Die behaarten Menschen hatten sich einen Turm gebaut und darin hing ein Pferdekopf. Wenn die behaarten Menschen nicht weiterwussten, fragten sie einfach den Pferdekopf, und der wusste dann, was zu tun war. Eigentlich interessierte Jakob viel mehr, was die Gruppe an der Theke anstellte, aber er wollte auch nicht so genau hinschauen und war froh, dass er etwas zu lesen hatte.

Die Dorfleute und die behaarten Menschen lebten lange in Frieden, bis eines Tages neue Siedler in das Dorf kamen. Schon bald gab es einen unter ihnen, der unbedingt wissen wollte, was es mit dem Pferdekopf auf sich hatte. In einer kalten stürmischen Nacht schlich der Siedler in den Turm und nahm den Pferdekopf von seinem Platz. In diesem Moment fing der Kopf zu sprechen an und prophezeite ihm, dass er nun auf ewig blind sein würde. Wenig später krachte der Turm in sich zusammen und begrub den Siedler mitsamt dem Pferdekopf. Die behaarten Ureinwohner des Dorfes verschwanden in den umliegenden Wäldern und wurden nie wieder gesehen. Warum das Blindwerden noch wichtig war, wenn man doch von Steinen erschlagen wurde, erschloss sich Jakob nicht. Er schaute zu dem schwarzen Pferdekopf an der Wand, der jetzt etwas meschugge zu ihm herunterschielte. Bei solchen mündlichen Überlieferungen, dachte er, blieben oft nur die sonderbaren Details und überflüssigen Grausamkeiten übrig, während Inhalt und Dramaturgie verkümmerten. Einer der Männer würfelte, anscheinend ein guter Wurf, und musste oder durfte dann den obersten Schnaps von der Pyramide trinken. Jakob spürte, dass sie ihn aus den Augenwinkeln ganz genau observierten. Er machte eine Geste zu den Männern, hob sein Glas, ein kleines Nicken, verbunden mit einem Lächeln, aber keiner von ihnen reagierte. Sie wussten, dass er aus der Stadt kam, dass er vermutlich ein Haus suchte oder jemanden besuchte, der schon ein Haus hatte. Wahrscheinlich wussten sie sogar, um welches Haus es ging.

Auf dem Rückweg stellte er sich vor, beim Bezahlen an der Theke mit den Männern noch ganz locker ins Gespräch gekommen zu sein. Sie hätten gesagt, dass sie Maurice hießen und Schatzmeister, wobei Schatzmeister natürlich ein Spitzname war. Er hätte gefragt, woher der Name käme, und sie hätten erzählt, dass Schatzmeister auch auflegt und dass das sein DJ-Name sei, und dann hätten sie ihn gefragt, wo er denn jetzt noch hinfahre, und er hätte ihnen noch zwei Bier ausgegeben und wäre dann los, nicht ohne schnell noch einen Schnaps mit ihnen zu trinken, den er nicht hätte abschlagen können.

Natürlich hatte Friedel die Zeit genutzt, in der er nicht da war, und mit Wolfram gesprochen. Vielleicht hatte sie ihn sogar genau deswegen losgeschickt. Wolfram hatte dann mit dem Makler gesprochen und anschließend wieder mit Friedel, und es war ihnen gelungen, einen Termin zu vereinbaren. Und wenn es ein Treffen gab, dann gab es auch eine Chance, strahlte sie. Das war ja im Grunde eine tolle Nachricht, aber so richtig glücklich machte Jakob die Sache nicht. Er hielt Friedels kampfeslustige Energie an diesem Abend kaum aus und verzog sich bald ins Bett. Dass »Paps« ihr Projekt Landleben in die Hand nehmen sollte, gefiel ihm überhaupt nicht, er zog es aber vor, jetzt besser nicht damit anzufangen.

Jakob hatte Friedel vor gut vier Jahren in der Bibliothek zum ersten Mal gesehen. Sie stand im Gang der Soziologie, und nachdem er sie dort entdeckt, aber nicht angesprochen hatte, ging sie ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Woran genau er damals dachte, wenn seine Gedanken um sie kreisten, war jetzt nur noch schwer zu sagen. Er wusste nichts von ihr, hatte nur ihre Erscheinung bewundert, wie sie so konzentriert ganz bei sich selbst war, zur gleichen Zeit aber auch locker und entspannt wirkte. Ihr graziler Körper und die etwas nachlässige Kleidung, die sehr bewusst ausgesucht war, taten ihr Übriges. Na ja, irgendwie war sie auch ganz normal und gar nicht so besonders, aber sogar das fand er in dem Moment toll. Dann kam sie lange nicht wieder, Jakob aber war von nun an fast jeden Tag in der Bibliothek und setzte sich immer so, dass er den Gang mit der Soziologie gut im Blick hatte. Wie blöd er gewesen war, sie nicht gleich anzusprechen, ärgerte er sich. Er versuchte weiter an seinem Buch zu schreiben, aber eigentlich hätte er das gleich lassen können. Und dann stand sie irgendwann wieder da, genau im selben Gang wie beim ersten Mal. Jetzt durfte er keine Minute warten. Er raffte sich auf und lief zu ihr hin. Es waren eigentlich nur ein paar Meter, trotzdem war er ganz kurzatmig, als er bei ihr ankam. Erst jetzt bemerkte er, dass sie ein paar Zentimeter größer war als er, das hatte er aus der Entfernung gar nicht vermutet. Er wusste nicht, wie er es anstellen sollte, aber das musste er gar nicht, sie sagte, dass sie Friedel sei, und lächelte. Auf seltsame Art wusste Jakob vom ersten Moment an, dass diese Frau genau das hatte, was ihm fehlte. Dass er sie brauchte und sie ihn.

Sie hatten sich direkt am Haus des Maklers verabredet. Das weiße Angeberauto von Friedels Eltern parkte direkt neben dem schwarzen Angeberauto des Maklers. Über den Parkbuchten war ein etwas zu großes Transparent gespannt, auf dem »Immobilienmakler R. Blaschke« stand, und dann gab es darauf noch ein verblichenes Bild, auf dem das Haus des Maklers zu sehen war, vor dem sie jetzt standen. Friedels Mutter war draußen geblieben, um zu rauchen. Vermutlich kannte sie das Stück, das gleich aufgeführt werden würde, schon zur Genüge.

Der Makler war ein windiger dünner Kerl mit Jeans und gestreiftem Hemd, der eindeutig zu viel Parfüm aufgetragen hatte. Die weißen Haare hatte er mit Dauerwelle oder Minipli irgendwie nach oben arrangiert, wahrscheinlich, um ein bisschen größer zu wirken. Betont energisch ging er auf die Familie zu und streckte jedem die Hand hin, erst Friedel, dann Wolfram und schließlich Jakob. Sein Händedruck war fest und entschieden, trotzdem spürte man eine leichte Unsicherheit, und vielleicht bildete Jakob sich das nur ein, aber er hatte etwas feuchte Hände. Während die Männer anfingen, sich gegenseitig auszutesten, wohlbedacht ihre Potenz als Geschäftsmänner herauszustreichen, stellte Jakob sich ans Fenster, das sich über den gesamten Giebel der ausgebauten Scheune erstreckte, und schaute auf den Innenhof. Auch wenn er potenzieller Nutznießer des Geschachers war, hielt er das Getue kaum aus. Er würde freundlich sein und sich nichts anmerken lassen, aber ihren Wohlstand und ihre Selbstgefälligkeit würde er immer hassen. Friedels Mutter besah sich draußen mit der Zigarette in der Hand die Hortensien und den Hibiskus. Wie herablassend sie jedes im Hof zur Schau gestellte Dekoelement taxierte, er konnte ihren Hochmut bis hier oben spüren. Ein älteres blaues Auto kam angefahren und parkte quer hinter den anderen Autos auf dem Kiesweg. Ein junger Mann in fleckig gebleichten Jeans stieg aus der Tür, Jakob erkannte den Nachbarn, den Mann mit den grünen Augen und dem Gartenschlauch. Er spürte eine Anspannung bis an die Kopfhaut, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Am liebsten wäre er verschwunden, unsichtbar geworden. Er hörte Wolfram und den Makler hinter sich, konnte sie aber nicht genau verstehen, irgendetwas wurde beschlossen. Und Friedel, dieses saubere, perfekte und untadelige Wesen schaute zu, wie die alten Männer das Schicksal in ihrem Auftrag verbogen. Es ist ja nur zu ihrem Besten, wird sie denken. Auf einmal stand sie neben ihm und nahm seine Hand. Der Mann in den fleckig gebleichten Jeans registrierte das weiße Auto mit dem westdeutschen Kennzeichen und natürlich auch Jakobs Volvo, mit dem er letztes Mal vor ihm geflüchtet war. Er blickte zu Friedels Mutter und dann zu ihnen herauf, und Friedel drückte Jakobs Hand etwas fester.

Auf was genau sich schließlich geeinigt worden war, blieb nicht ohne Absicht im Verborgenen, aber jetzt wollte Wolfram endlich mal »die Hütte« sehen, das »Objekt der Begierde«. Jakob schmerzte seine profane Ausdrucksweise zutiefst, der dysphemistische Soziolekt des Kapitalisten, er spürte es geradezu körperlich. Wenigstens hatte er nicht schon vorher alles inspizieren wollen, wofür er überhaupt kämpfen sollte, dann wäre es richtig peinlich geworden.

Der Makler versuchte, sie bei der alten Frau anzukündigen, aber sie ging nicht ans Telefon. Trotzdem fuhren sie los, vorneweg der Makler, dann Friedels Eltern und als letzte Friedel und er.

Jakob erinnerte das ganze Rollkommando an die Jungsbanden, die sich in dem Brachland um das überteuerte Appartementhaus gebildet hatten, in das er mit seiner Mutter gezogen war. So ein Wohn- und Geschäftshaus, das eine Versicherungsgesellschaft an einer Ausfallstraße gebaut hatte, war zu dieser Zeit in kleineren Städten noch durchaus unüblich. Für seine Mutter war es die Gelegenheit, sich irgendwie abzusetzen von den »gewöhnlichen« Leuten, auch wenn sie sich die teure Miete und die Fernwärmeversorgung und den Videorekorder und das alles kaum leisten konnte. Marinus Bönickes Mutter hatte sich in deren Wohnung, die zwei Stockwerke über ihrer lag, ein Frisierstudio eingerichtet. Jedes Mal, wenn Marinus ihn mit in seine Zentrale nahm, wie er sein Kinderzimmer nannte, roch es dort extrem nach Haarspray und Zigarettenrauch, sodass Jakob im ersten Moment die Luft wegblieb. Aus irgendeinem Grund hatte Marinus ihn als seinen Adjutanten ausgewählt, obwohl Jakob als Jungsbandenkrieger eher ungeeignet war. Entweder hatte sich kein anderer finden lassen, oder Marinus hatte tatsächlich Fähigkeiten in Jakob erkannt, die ihm selbst abgingen. Die Jahre im Neubau waren in Jakobs Erinnerung eigentlich die schlimmste Periode seiner Kindheit. Wahrscheinlich war es die Zeit, in der seine Mutter sich endgültig von dem Gedanken verabschiedete, eine junge Frau zu sein, und diesen Abschied wollte sie gebührend feiern. Oft war er abends und auch nachts allein in der Wohnung. Er stellte sich ein tiefgefrorenes Fertiggericht in die Mikrowelle und aß vor dem Fernseher, wo er dann auch kurz einschlief, um später im Bett wachzuliegen und zu warten, bis jemand seine Mutter nach Hause brachte. Manchmal war es ein Mann allein, manchmal auch eine Gruppe. Entweder kannten sie seine Mutter schon oder hatten sie in irgendwelchen Kneipen aufgegabelt und auf veloursbezogenen Rücksitzen der Reihe nach durchgebumst, bis sie sie zu ihm in die Wohnung schubsten. Jakob stand dann meistens auf und achtete darauf, dass seine derangierte Mutter auch ins Bett ging und nicht auf noch mehr dumme Gedanken kam.

Der Makler drückte auf den Klingelknopf, bei dem sich Jakob mittlerweile fast sicher war, dass es sich um eine Attrappe handelte. Dann öffnete er einfach das Törchen und sie alle drängten in den Garten, der jetzt, mit den vielen Personen, erstaunlich eng wirkte. Bestimmt war die Frau zu Hause und beobachtete sie, wie sie von außen auf das Haus zeigten. Da, nach Süden, müsste natürlich ein großer Durchbruch hin, mit Terrasse davor und oben ins Dach eine Gaube, erklärte Friedel ihren Eltern im Flüsterton, die sichtlich schockiert vom schlechten Zustand der Immobilie waren. Es war kaum auszuhalten, wie sie gedanklich Löcher in den Schutzraum der Alten rissen und ihre Festung zerstörten, während sie drinnen ausharrte und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Der Makler gab Anekdoten aus seiner Zeit als LPG-Vorsitzender zum Besten und Wolfram zog über die marode Bausubstanz her. Friedel komplettierte die Unterhaltung, indem sie über die Ostdeutschen wie eine Kindergärtnerin redete, wie erfindungsreich sie doch wären und dass sie auch aus ganz wenig etwas machen konnten. Jakob verzog sich unbemerkt unter den Kirschbaum. Die ausladenden Äste hingen so weit herab, dass man fast ganz darunter verschwinden konnte. Diesmal hatte er etwas Spaß an den sauren Früchten, die die Schleimhäute pelzig machten, und steckte sich immer drei oder vier davon in den Mund. Er hörte ein Klacken aus der Richtung des Nachbarhauses und schaute reflexartig rüber. Eine füllige Frau hatte die Terrassentür aufgezogen und kam die Holzstiege in den Garten herunter, immer mit dem linken Bein zuerst. Die Stretchleggings mit der Tunika in Oversize darüber waren ganz offensichtlich dazu gedacht, ihre Polster zu kaschieren. Jakob war irgendwie berührt, wie sie versuchte, ein halbwegs passables Bild von sich zu vermitteln, wo doch schon alle Kontrolle verloren war. So wie sie kampfeslustig herüberschaute, war klar, dass sie zu ihnen wollte. Der Rasen des Nachbargrundstücks war wirklich erstaunlich gepflegt, sehr kurz und sehr grün, sogar unter dem neu aufgestellten Industriezaun und außen herum war das Gras exakt einen Rasenmäher breit sauber geschnitten worden. Die anderen hatten das Klacken der Plastiktür gar nicht bemerkt, und als Jakob zu seiner Gruppe zurückkam, schien sich ein gewisser Konsens eingestellt zu haben, der Makler hatte seine DDR-Ehre behalten, Wolfram konnte stolz auf seine Tochter sein, und Irene saugte selig an ihrer Slimzigarette. Jakob genoß es, die Nachbarin in seinem Rücken näherkommen zu spüren. Auf einmal unterbrach der Makler seinen Redefluss und guckte an ihm vorbei.

»Ramona!« Er schien ziemlich aus seinem Konzept gebracht. Jetzt schauten auch Friedel und ihre Eltern zu der Frau. Was aus der Nähe sofort ins Auge stach, war ihr Damenbart, der nicht, wie Damenbärte sonst, aus einer haarigen Oberlippe bestand, sondern auch die Wangen und den Hals mit einem Flaum bedeckte. Das Gesicht bildete mit dem Hals mehr eine Fläche und ging nahtlos in die Tunika beziehungsweise direkt in den Körper über. Jakob hatte ein kleines Vergnügen an dem Schrecken, den seine Freundin und deren Eltern im ersten Moment hatten, bevor der Makler noch ein zweites Mal »Ramona« und dann »Wir haben gerade einen Termin« sagte. Jakob fielen ihre sanften grünen Augen auf, die in einem fremden Körper zu stecken schienen. Es war schwer zu sagen, ob ihre üppigen Rundungen weich oder eher recht fest waren, und er hätte sie gerne, nur so zum Test, einmal angefasst.

Was denn jetzt mit Denny sei, wollte sie wissen. Der Makler meinte, Denny könne ja auch einen Termin machen, genau wie jeder andere. So einfach wollte sie aber nicht klein beigeben, sie griff ihn am Hemdkragen, drängte ihn ein paar Meter zur Seite und zischte ihm etwas ins Ohr, das nur er verstehen konnte. Der Makler ließ mit Absicht die Hände einfach nach unten hängen, versuchte nicht, sich aus ihrem Griff zu befreien oder sie sonst irgendwie abzuschütteln. »Verkauft ist, wenn verkauft ist«, hörte man den Makler sagen.

Das muss der Moment gewesen sein, als der Nachbarin klar wurde, dass Denny, offensichtlich ihr Sohn, der Gartenschlauchmann mit dem blauen Auto, das Haus niemals bekommen würde. Der Makler würde ihre Abmachung, die vielleicht schon vor langer Zeit getroffen worden war, brechen und lieber den Weg des Geldes gehen. Und Jakob wurde zum ersten Mal klar, dass die Unterschrift unter einem Kaufvertrag nur ein Teil des Sieges sein würde, dass ein neues Leben auf dem Land noch ganz andere Probleme für sie bereithalten würde. Zum ersten Mal stieg ein kleiner Zweifel in ihm auf, ob er diese neuen Probleme, mit neuen Menschen, neuen Geschichten und Konstellationen überhaupt haben wollte.

»Du Dreckschwein, Ronny Blaschke! Besser, sie hätten dich damals nicht gefunden«, schubste die Nachbarin den Makler mit aller Kraft weg. Er taumelte, konnte sich aber gerade noch abfangen, bevor er ins Gras stolperte. Die alte Frau, die vorgab, nicht da zu sein, spitzte wieder hinter den Gardinen hervor, tat aber einen Teufel, sich jetzt herauszuwagen.

Friedels Eltern blieben noch einen Tag in der Stadt, es wäre ja auch komisch gewesen, wenn sie gleich wieder zurückgefahren wären. Die seltenen Male, die sie sonst zu Besuch waren, hatte Jakob als Quälerei in Erinnerung, aber diesmal fühlte es sich zu seiner Überraschung irgendwie o. k. an. Oder hatte er einfach schon aufgegeben? Friedel hatte Karten für eine nichtspeziesistische Theaterperformance besorgt. Anscheinend wollte sie ihren Eltern ganz arglos ihre Welt zeigen, oder zumindest das, was sie sich unter ihrer Welt so vorstellte. Jakob konnte das nicht nachvollziehen, er hätte sie eher in irgendeine Boulevardkomödie mit einem Altstar geführt oder in ein Varieté. Immerhin fand er selbst die Sache nicht uninteressant. Es war eigentlich kein richtiges Stück, sondern eine Dauerperformance, die im Foyer eines Theaters stattfand. Es gab vier menschliche Performer und ein festes Ensemble von sechs nichtmenschlichen, das aus Tauben bestand. Die Performer, also alle zehn, gingen im Grunde irgendwelchen normalen Beschäftigungen nach, wobei die Beschäftigungen der Sapiens auch teilweise ausgedacht oder aufgesetzt wirkten. Die Nichtmenschlichen verhielten sich entweder natürlicher oder waren bessere Schauspieler, auf jeden Fall brachten sie auch noch andere Freunde von der Straße mit in die Performance. Zum Leidwesen der Sapiensperformer, denn die Straßentauben waren sehr ungehobelt, machten sich am Essen zu schaffen und kackten alles voll. Friedels Eltern fanden das Stück reichlich abstrus, konnten sich aber gut darüber lustig machen. Am Ende waren sie alle ganz schön geplättet von den Ereignissen, auf dem Land und in der Stadt. Dummerweise war mit der Reservierung in dem israelisch-palästinensischen Restaurant, in das Friedel sie noch ausführen wollte, etwas schiefgelaufen, und sie entschieden, einfach nur zu dem Falafelladen bei ihnen um die Ecke zu gehen.

Als sie endlich mit ihren Sandwiches auf den selbstgezimmerten Bänken saßen, die auf einem der letzten unbebauten Grundstücke im Innenstadtbezirk aufgestellt waren, gelang es ihnen zum ersten Mal, recht entspannt über Geld zu reden. Es wäre natürlich Unsinn, wenn Friedel herumlaufen müsste und versuchen, einen Kredit zu bekommen. Wolfram wollte lieber einen Teil seines Depots auflösen und dann sei das Geld ja schon da. Jakob spürte eine Erleichterung, die er aber lieber verbarg. Es war ihm durchaus klar, dass es für ihn extrem schwer werden würde, Geld von einer Bank zu bekommen, und so war es genau genommen eine Riesenerleichterung. Er versprach seinen Anteil umgehend, allerspätestens wenn sein neues Buch erscheinen würde, an Friedels Eltern zurückzuzahlen. Die beiden gingen aber gar nicht weiter darauf ein, was ihn ein bisschen überraschte. Ob es daran lag, dass Jakob vielleicht schon bald der Vater ihres Enkelkinds sein würde und damit quasi zur Familie gehörte? Auf jeden Fall war er mehr intergriert als früher, und das fühlte sich gut an. Leider musste er so dringend pinkeln, und als Irene wieder anfing zu erzählen, wie sie sich damals hochgearbeitet und dann noch das größere Möbelhaus und die Villa gebaut hatten, konnte er sich endlich mal in den hinteren Teil der Brachfläche verziehen. Zwischen dem Gestrüpp lag einiges an Müll und Essensresten und eine Taube hinkte dazwischen herum. Er machte die Hose auf und pinkelte an einen Strauch, als er noch eine zweite Taube entdeckte, die neben ein paar Taschentüchern mit Kotresten lag und sich ruckartig bewegte. Als seine Augen sich mehr an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass es nicht die Taube war, die sich bewegte, sondern eine Ratte, die daran herumzerrte. Wie ekelhaft, ob das welche von den Tauben waren, die auch bei der Perfomance mit dabei waren? Am liebsten wäre er schnell verschwunden, aber wenn man einmal angefangen hatte zu pinkeln … Es raschelte im Laub, und wie ein Pfeil schoss ein grauer Schatten aus dem Dunkeln hervor und direkt auf ihn zu. Jakob sprang zurück, aber die Alpharatte hatte sich schon an seinen Turnschuh gekrallt. Jakob schrie auf und versuchte hysterisch das Tier abzuschütteln, das sich in sein Hosenbein vorzuarbeiten versuchte. Er hob den Fuß hoch und packte die Ratte am Leib. Mit viel Kraft wand sich der feste Körper und riss mit Pfeifgeräuschen das Maul auf, um ihn irgendwie doch noch zu beißen. Er warf das Biest weg, aber nicht weit genug, und die Ratte flitzte gleich wieder auf ihn zu. Jakob rannte nach vorne ins Licht, zurück ins Stadtleben und machte sich die Hose zu.

Liebe Mutter,

wir haben unser Domizil gefunden! Wir halten es auch langsam wirklich nicht mehr aus in der Stadt und warten nur noch auf die Zusage. Der Makler hat versprochen, sich sehr für uns einzusetzen. Er findet es gut, wenn eine junge Familie diesen Schritt wagen will. Ja, Du hast richtig gehört: Familie. Wir werden bald ein Kind bekommen, und wer weiß, dann auch zwei oder drei …? Auf jeden Fall nutzen wir die fruchtbaren Tage. Friedels Eltern waren zu Besuch und haben ganz schön gestaunt, wie wir das alles anpacken. Sie bestehen darauf, dass sie uns das Geld geben, dann müssen wir nicht langwierig bei einer Bank herumtun, aber ich weiß noch nicht. Ich freue mich nur darauf, wenn ich im Garten stehe und die Pflanzen gieße, und am Samstag werde ich vor der Garage das Auto waschen, ja, das werde ich.

Übrigens, ist Dir mal ein übler Geruch aufgefallen, von Sperma in Zusammenhang mit der Scheidenflora?

Ich mein ja nur.

Dein Jakob

Am nächsten Tag kam der Anruf vom Makler, die Zusage. Sie waren natürlich hocherfreut und wollten, sobald es ging, zum Haus fahren, um es etwas genauer und auch von innen zu besichtigen, aber das war genau der heikle Punkt: Die alte Frau wollte auf keinen Fall eine weitere Besichtigung. Wenn ihnen das nicht passte, verkaufe sie lieber an Denny, der kenne das Haus ja. Friedel und Jakob willigten ohne zu zögern ein, was sollten sie auch groß von der Besichtigung des Hauses erwarten? Es war eines dieser kleinen Landarbeiterhäuser, die damals, in der jungen DDR alle nach dem gleichen Schema gebaut worden waren. Die Räume waren klein, und sie würden ohnehin fast alles neu machen müssen.

Die Wartezeit bis zum Notartermin war dann doch schwer auszuhalten. Sie konnten kaum einen anderen Gedanken fassen als an das Haus und das Land und schleppten sich wie Zombies durch die Tage. Dazu immer die Anspannung, schließlich konnte ja jederzeit jemand mit einem noch größeren »Paps« daherkommen. Zum Glück gelang es ihnen, in den Kaufvertrag mit aufzunehmen, dass der Kaufpreis auf ein sogenanntes Treuhandkonto hinterlegt werden sollte und sie im Gegenzug, sobald unterschrieben war, gleich in das Haus konnten. So würden sie wenigstens noch vor dem Winter ein paar schöne Wochen auf dem Land haben.

Und dann war es endlich so weit, der Tag der Beurkundung. Überraschenderweise waren auch Friedels Eltern angereist. Jakob war nicht ganz klar, warum eigentlich, aber er hielt sich zurück, um nichts in der Welt wollte er die Unterschrift jetzt noch gefährden.

Sie setzten sich alle um einen großen ovalen Tisch mit einer unangenehmen Glasplatte, der parfümierte Makler, Friedels Eltern, die alte Frau, der Notar, Friedel und er. In der Mitte standen eine Thermoskanne mit Kaffee, Sprudelwasser, kleine Saftfläschchen, Tassen und Gläser und ein Schälchen mit Kaubonbons. Jakob nahm sich ein Minifläschen mit Pfirsichnektar, als sich aber niemand sonst bediente, war es ihm ein bisschen peinlich. Der Makler hatte allerbeste Laune, der Notar wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen, und alle anderen waren einfach nur erleichtert, als es endlich losging. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Roswita Anni Koch, geboren 4. September 1942 in Königsberg, im folgenden ›Verkäufer‹ genannt«, fing der Notar zu lesen an. Frau Koch nickte und der Notar fuhr fort: »Friedel Agneta Richter, geboren am 26. Februar 1986 in Göttingen, im Folgenden ›Käufer‹ genannt«, und Friedel nickte. »Verkauft wird ein Grundstück …« Jakob räusperte sich und unterbrach: »Stopp, stopp, stopp. Ich bin ja auch Käufer.«

»Ach, dann doch?« Der Notar blickte in die Runde. »Das kann man alles noch ändern.«

Im Entwurf hatten ganz eindeutig ihre beiden Namen gestanden, da musste sich ein Fehler eingeschlichen haben.

»Wenn wir das Geld da reingeben, dann muss es auch Friedels Haus sein«, statuierte Wolfram. Jakob sah Friedel an, das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Er forderte sie auf, das umgehend richtigzustellen. Sie hatte etwas feuchte Augen und schaute auf die Tischplatte. Dann sagte sie, dass es doch trotzdem ihr gemeinsames Haus sei, auch wenn nur ihr Name im Grundbuch stünde. Das glaubte er jetzt nicht, so leichtfertig würde sie nicht alles kaputtmachen. Das konnte nur ein Missverständnis sein. Jakob war fassungslos. Friedel wusste Bescheid und hatte ihm nichts davon gesagt. Sie sollte ihm bitte mal erklären, was das zu bedeuten hatte, aber sie schüttelte nur den Kopf. »Das Haus gehört dir doch trotzdem mit.« Unfassbar, erst wurde der Nachbar verarscht und jetzt war er an der Reihe. Sogar die Alte schaute betreten auf den Tisch. Jakob entschuldigte sich und verließ den Raum.

Auf der Toilette wurde ihm erst das ganze Ausmaß des Verrats bewusst, und der Ärger nahm ihn vollends in Beschlag. So schnell kann sich alles drehen. Er hörte, dass wohl auch Friedel das Besprechungszimmer verlassen hatte und vermutlich vor der Toilette auf ihn wartete. Das war’s, Endstation, in diesem miesen gefliesten Toilettencarrée, wo es nach chemischem Raumerfrischer roch. Er war in die Enge getrieben, seine Panik trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er öffnete das milchige Fenster, es war gar nicht so tief bis zur Straße, und wenn man sich an der Regenrinne festhielt …

Ein Kind spürt sehr genau, wenn es nicht gewollt ist. Es kann sogar sein, dass es das so stark spürt, dass es versucht, seine Existenz zu verschleiern. Jakob hatte sich stets bemüht, für seine Mutter eher unsichtbar zu sein, auch wenn er dadurch natürlich nicht weniger ungelegen war. Gleichzeitig wollte er aber mit allen Mitteln vermeiden, dass sie wusste, dass er wusste, wie ungelegen er für sie war, sonst hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt und alles wäre noch schlimmer gewesen. Ob es überhaupt eine Chance gegeben hätte, dass es irgendwie anders gelaufen wäre und sie ein schönes Leben gelebt hätten, ist unklar und tut auch nichts zur Sache. Vielleicht, wenn sie tatsächlich mal eine richtige Familie geworden wären, mit einem lieben Mann und einem Haus und allem. Aber das passierte eben nicht. Oder sie hätten in einer kleinen coolen Wohnung ein Künstlerleben leben können, hätten nicht viel gehabt, aber wären glücklich gewesen. So war es aber nun mal nicht angelegt in ihnen. Wie hatte er nur so blöd sein können, zu denken, er könnte jemals irgendetwas daran ändern? Seinem Schicksal entkommt man nicht. Niemals. Und überhaupt, was für eine spießige Idee, als glückliche Kleinfamilie im eigenen Haus auf dem Land zu leben? Aus welchem noch so entfernten, absurden Grund hätte er Mitbesitzer einer solchen Immobilie sein sollen? Das Schlimmste war, dass er sich tatsächlich darauf hatte einlassen wollen. Er ärgerte sich fast mehr darüber, dass er so dumm gewesen war, als darüber, dass er verarscht und ausgebootet wurde. Aber er würde die Enttäuschung wegstecken, dafür hatte er Methoden, das hatte er gelernt. Er würde die Enttäuschung in sich begraben, irgendwo ganz tief drin, und nur wenn es gar nicht anders ging, um sich vor neuen dummen Ideen und neuen Enttäuschungen zu schützen, würde er den Grabstein der alten Enttäuschung etwas anheben, ein bisschen zur Seite schieben, nur ganz wenig und in den Abgrund schauen. Dann wäre sie wieder da, sie würde in ihm hochsteigen und ihm die Kehle zuschnüren. Sie würde sich auf seinen Brustkorb hocken und ihm das Atmen schwer machen und er wäre gewappnet.

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