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Illegitim geboren

Heidi Herzig ist 27 Jahre alt, als sie im März 1948 die kleine Diana, ihr erstes Kind, in Bern zur Welt bringt. Die Schwangerschaft war ungeplant, das Kind entstammt der Liebe mit dem jüdischen Flüchtling Kurt Goldmann aus Wien, der jedoch aus dem Zürcher Transit in die USA weiteremigriert. Der staatenlose Vulkaniseur wird sich nie um sein Töchterchen kümmern, auch wenn er von seiner Vaterschaft weiss; da helfen die Forderungen des Berner Appellationshofs, ins ferne New York ausgeschickt, auch nicht weiter. Doch nicht nur der Vater fällt aus, auch Dianas Mutter ist überfordert. Sie, eine Tochter aus einst wohlhabendem Haus, ist selbst von der Schlagkraft einer in sich zersprengten Familie geschädigt. Früh brach das Unglück in die erfolgreiche St. Galler Industriellenfamilie ein. Zuerst mit dem Börsencrash und der Wirtschaftskrise, die ihnen den Konkurs aufzwang, später mit dem Tod des kleinen Stammhalters, der an einer Blinddarmentzündung starb. Der Vater rettete sich mit einer Scheidung, suchte Trost in neuen Liebschaften, die Trauer um seinen Sohn aber nahm er mit, auch seine Asche in der Urne, die er mit sich trug, bis kurz vor seinem Tod, weiss Diana von ihrem Grossvater zu erzählen. Die kleine Heidi aber, seine überlebende Tochter, musste schnell erfahren, dass sie als Mädchen den Bruder nie würde ersetzen können. Vielleicht war dies mit ein Grund, dass sie nicht wirklich Tritt fassen konnte im Leben, dass sie sich früh zu einer unsteten Person entwickelte, die es nirgends lange aushielt, die sich, so schreibt Dianas Vormund, «auf der Suche nach dem Vater herumtreibe», sie sei «eine neurotische Frau, die im Grunde genommen einer spezialärztlichen Behandlung bedürfe». Später werden die behördlichen Zuschreibungen um einiges schroffer, die Kindsmutter habe «psychopathische Züge, sei arbeitsscheu, hemmungslos, liederlich und lügenhaft». Heidi Herzig taucht regelmässig unter, manchmal findet man sie in einem Gartenhaus, wo sie sich von Schnecken, Gräsern und Spinat ernährt und sich «wie ein Tier verhält», wie eine Verwandte dem Vormund schreibt. Dieser schickt sie zur Abklärung in die Psychiatrie, man droht ihr mit administrativer Versorgung, stellt sie unter Schutzhaft, schafft sie zurück an ihren Heimatort, platziert sie bei einem Bauern.

Bei der Grossmutter

Nach der Geburt der kleinen Diana sucht Heidi Herzig einen Pflegeplatz für das Baby und bringt es in die Hausmutterschule für Bäuerinnen auf den Möschberg im Emmental. Dort kümmern sich die Frauen, allen voran die Schulleiterin, engagiert um das Kind. Nach zwei Jahren entscheidet Mutter Heidi, ihr blond gelocktes Mädchen zu sich zu holen und mit ihm nach Zürich zu ziehen, zu ihrer Mutter, die in bescheidenen Verhältnissen am Rand eines Arbeiterquartiers wohnt. Mit dem Umzug wechselt auch die zuständige Vormundschaft, Diana wird künftig von der Zürcher «Selnau» aus behördlich begleitet. Der erste Blick des neuen Vormunds ist optimistisch: «Diana ist ein munteres, natürlich wirkendes Kind, das seinem Namen Ehre macht, wirklich ein herziges Kind. An der Intelligenz ist nicht zu zweifeln.»

Jedoch gerät der Dreigenerationenhaushalt in der kleinen Dachwohnung am Stauffacher schnell aus dem Lot. Kindsmutter Heidi behält ihr unstetes Leben bei, ist beruflich ständig unterwegs, als Vorführdame von Waschmaschinen, in der Reklameakquisition für ein Reformhaus. Sie verschwindet für Tage, manchmal Wochen, zeigt sich in Betreuungs- und Finanzfragen unbeständig, bezahlt weder die alten Schulden noch ihrer verarmten Mutter das sich neu ansammelnde Kostgeld. Grossmutter Zeller ist überfordert. Liebevoll kümmert sie sich um ihre Enkelin, gibt dafür ihren Job in der Papierfabrik auf, gerät in finanzielle und psychische Not, zerstreitet sich mit ihrer Tochter, die Konflikte wachsen, es kommt gar zu Handgreiflichkeiten. Heidi traktiere sie «wie ein Stück Holz», «reisse sie an den Haaren», klagt Aline Zeller bei Herrn Bächi, dem Vormund, wenn sie bei ihm vorspricht, oder in den in feiner Handschrift verfassten Briefen an ihn. Fräulein Meyer, die Fürsorgerin, besucht die Familie und findet die desolate Situation bestätigt. Diana selbst erinnert sich nur mehr vage an die wüsten Streitereien. Der Zank liegt bei ihr im Dunkel des Vergessens, steht im Schatten der lichtvollen Gewissheit, dass sie damals, als kleines Mädchen, ein tiefes Zutrauen zu ihrer Grossmutter fand, erste Schritte in einer grossen Liebe.

Bei Pflegefamilien in Bülach

Schliesslich erwägt die Vormundschaft eine erneute Fremdplatzierung. Die Grossmutter schmerzts, aber sie ist auch erleichtert, denn das Kind wird «Zeuge von widerwärtigen Szenen», zudem muss sie wieder Geld verdienen gehen. Auch die Kindsmutter hat nichts gegen den Wechsel, da «diese ausschliessliche Beschäftigung der Grossmutter mit dem Kinde für dieses nicht unter allen Umständen gut sei». Und so kommt die dreijährige Diana nach einem Jahr mit der Grossmutter nach Bülach zu Familie Brunner. Dort geht es ihr offenbar gut. «Diana hat sich sehr gut entwickelt, sieht aus wie ein Rösli und ist recht munter, ein intelligentes und herziges Chröttli, keine besonderen Schwierigkeiten», notiert man auf der Vormundschaft. Die geliebte Grossmutter kommt regelmässig zu Besuch, Diana darf umgekehrt auch zu ihr in die Stadt fahren. Mutter Heidi taucht lange nicht auf, dann plötzlich jede Woche, die Berner Behörde weist sie in eine psychiatrische Klinik ein, man diskutiert erzieherische Zwangsmassnahmen. Tochter Diana bleibt vorerst ein unkompliziertes Mündel, «gut geartet, braucht aber ruhige Führung, damit es nicht in Trotz verfällt». Die Pflegemutter habe grosse Freude, und auch Diana hänge an ihr, notiert man in der «Selnau». Doch das kleine Glück hat keine Beständigkeit. Nach zweieinhalb Jahren bitten die Brunners um Umplatzierung, weil Diana die Schwester der Pflegemutter beim Lernen störe, diese sei nervös und reizbar und habe soeben eine KV-Lehre begonnen.

Ende Januar 1954, zeitgleich mit einem Wechsel des Vormunds, findet sich Diana in eine neue Familie umplatziert. Familie Winter wurde von Nachbarn und vom Jugendamt Bülach empfohlen. Der nun zuständige Vormund, Emil Murer, ist vom Wechsel «in das gepflegte Milieu eines Vorarbeiters unter Leitung einer verständigen Pflegemutter» überzeugt: «Dort kann Diana neben einem eigenen Töchterchen der Pflegefamilie wie ein Schwesterlein aufwachsen.» Die Beziehung mit der Pflegemutter gestaltet sich jedoch von Beginn an schwierig. Frau Winter begegnet dem Mädchen als harte Erzieherin, sie will das «milieugeschädigte» in ein «pflichtbewusstes Menschenkind» umformen, denn Diana sei nur «auf Umherstrielen erpicht, folge nicht und gebe freche Antworten», rapportiert der Vormund ihre Klagen. Dank ihrer «Geduld und «konsequenten Erziehung» liessen sich aber vorerst noch Erfolge verbuchen, Diana sei herzig, sie mache ihrem Familiennamen alle Ehre, notiert auch er in die Akte.

Doch das Erziehungsvorhaben ist längst in Schieflage. Und als kurz nach Dianas Ankunft noch Adriano, ihr Halbbruder, ebenfalls ausserehelich geboren, zur Familie stösst, wird alles noch schwieriger. Heidi Herzig, die Kindsmutter, ist sogleich einverstanden, auch ihren Sohn den Winters zur Erziehung «im harmonischen Milieu einer glücklichen Familie» zu überlassen. Adi, wie sie ihn nannten und von dessen Existenz Diana bis anhin keine Ahnung hatte, ist ein süsses Baby und wird schnell zum «Sonnenschein» der Familie. Diana jedoch, von der Pflegemutter zunehmend abgewiesen, wird zum «schwierigen Kind» erklärt, erblich belastet und von früher verwöhnt. «Frau Winter nimmt das Kind für kleinere Hilfeleistungen nach und arbeitet mit Liebe und Konsequenz an der Korrektur seiner vermutlich nicht nur leichten Veranlagung», notiert Vormund Murer. Auch beklagt er im Einklang mit Frau Winter des Mädchens Eifersucht auf den kleinen Bruder, der der Liebling aller sei und «schon heute ein bisschen Eigensinn entwickelt». Bei Adi, dem Buben, den die Pflegeeltern bereits zum künftigen Stammhalter erküren, wird Eigensinn wohlwollend als Vorbote männlicher Durchsetzungskraft verbucht, bei Diana dagegen, dem Mädchen, als Symptom einer krankhaften Entwicklung. Sie sei den ganzen Tag am «Täubele», beschwert sich Frau Winter beim Vormund, der ihre Klagen fraglos in die Akte übernimmt: «Diana übersteigert alles, brüllt bei der leisesten Gelegenheit wie am Messer, hört stundenlang nicht auf zu Weinen. Es bocket dann tagelang, gibt keine Antwort auf alles Fragen. Aus Trotz nässt und schmiert es extra, […] spukt Essen aus, Diana gefällt es darin, krank zu sein, dichtet Schmerzen wo keine sind.»

Diana selbst erinnert diese Zeit ganz anders. Die Korrektionsversuche erlebte sie als radikale Aggression gegen sich und ihr neugieriges, waches Wesen. Sie hat, denkt sie an ihre «Winter-Phase», nicht die Rebellion, sondern die Resignation in Erinnerung. Sie weiss, wie sehr sie sich hinter einen Vorhang von Tränen zurückzuziehen begann. Und wie schlimm der Verlust ihrer geliebten Grossmutter sie zusätzlich traf, dieser einzig konstanten Beziehungsperson, die langsam aus ihrem Leben zu verschwinden drohte. Für die frustrierte Pflegemutter ist Frau Zeller nur ärgerliche Konkurrenz. Sie hält denn auch mit Vorwürfen nicht zurück, Grossmutter Zeller mache ihre Erziehung zunichte, das Kind werde verwöhnt, mit unnötigen Besuchen im Zoo und ebensolchen Geschenken. Und sie stellt fest, dass Diana nach Besuchen stets noch mehr «Tänze aufführe». Vormund Murer aber, bis anhin lobend angetan von der alten Frau, die «in rührender Weise» für Diana sorge, mit ihren regelmässigen Besuchen, mit der Ausstattung von Kleidern, übernimmt nun die Sicht von Frau Winter, lässt sich in die Intrige einspannen. «Diana kam schon 2 mal von Besuchen bei Grossmutter verwöhnt und herrschsüchtig zurück, es kann sich dort wohl zu sehr ausleben. Frau Winter wird ihm darum in meinem Einverständnis keine Osterferien erlauben», hält er fest. Auch verliert er zunehmend seine Skepsis gegenüber den üblen Denunziationen innerhalb der Familie Zeller: «Ob wohl doch ein wenig wahr sei an der schlechten Beurteilung von Frau Zeller durch ihren geschiedenen Mann und ihre Töchter», fragt er plötzlich in einem seiner Berichte. Dieses schrittweise Ausschalten der Grossmutter, die Zerstörung dieser von Zuneigung geprägten Beziehung zu ihr bleibt für Diana bis heute die schlimmste Verletzung in ihrem Leben. Das Wissen, dass da jemand gewesen war, der sie aufrichtig liebte, sich um sie kümmerte, und dass man genau dieses Band willkürlich zerschnitt, sitzt als Stachel fest in Kopf und Herz.

Nebst der Grossmutter wird künftig, so verraten die Akten, die biologische Erblast als Ursache vieler Übel herangezogen. Schliesslich ist Diana ja das Kind einer «Psychopatin». Frau Winter verweist regelmässig auf die «vererbten Eigenschaften», die zu «allem andern noch obendrauf» kämen. Und der Vormund stimmt mit ihr überein: «Es [das Kind] neigt zur Hysterie und zeigt darin starke Züge, die es wohl von der Kindsmutter geerbt hat.» Auch die zuständige Fürsorgerin, Fräulein Meyer, die die Winters regelmässig besucht, unterstützt diese Interpretationen: «Diana wird im Bett besucht, weil es über sogenanntes Bauchweh klagt […] Dem Kind fehlt kaum etwas […] Es sieht gesund aus und scherzt gern und findet sich dabei wohl interessant […] eine schlimme Abstammung, daher sei bei Diana alle Vorsicht am Platz.» Einzig in der Schule kann sich Diana dem von eugenischer Denkart beeinflussten Fluch entziehen. Hier bekommt sie statt kranker Gene eine Menge Lorbeeren zugesprochen: «Diana sei intelligent, arbeite flink und sauber, interessiere sich an allem», weiss die Lehrerin zu berichten. Und sorgt sich gleichzeitig über eine unerklärliche Entwicklung in jüngster Zeit, dass nämlich die bis anhin unauffällige Schülerin neuerdings am Morgen zu spät und verweint im Klassenzimmer eintreffe. Diana, die Erwachsene, weiss sehr wohl, warum. Frau Winter zwang sie, nebst dem frühmorgendlichen Schuhputzen, jeweils ihre Milch auszutrinken, samt der ekligen Fetthaut obenauf, dies führte bei ihr regelmässig zu Erbrechen – gefolgt von der Order, die Kotze aufzuputzen – und zu schlimmen Weinkrämpfen. Eine stille Rache der Pflegemutter an ihrem Pflegekind, das mit seiner schulischen Brillanz ihre eigene Tochter in den Schatten stellte, davon ist Diana Bach im Rückblick überzeugt.

Schliesslich entscheidet sich Vormund Murer zu handeln und kompetente Hilfe beizuziehen. Er meldet Diana im April 1955 in der psychiatrischen Poliklinik für Kinder und Jugendliche zur ambulanten Behandlung an. Im Antwortschreiben wird er vertröstet, der zuständige Arzt sei für drei Monate im Militärdienst, schliesslich geht das Ansinnen unbemerkt vergessen. Und Diana bleibt weiterhin unglücklich verkeilt an ihrem ungeliebten Pflegeplatz. Nur Grossmutter Zeller, trotz ihrer 71 Jahre noch immer wehrhaft, kämpft gegen neuerliche Besuchs- und Ferienverbote, sucht Hilfe bei der Direktion des Zürcher Fürsorgewesens, schreibt lange Briefe an Fräulein Meyer, beklagt die Entwicklung und hält fest, dass das Kind Liebe benötige, die es offensichtlich entbehre. Doch ihr Bemühen verkehrt sich ins Gegenteil. Frau Winter bietet grossmütig an, es mit Diana noch einmal zu probieren, aber nur, wenn die Grossmutter total ausgeschaltet werde: «Es wäre schade, wenn mir Frau Zeller das Kind über die Feiertage verderben würde, es kann bei uns Weihnachten feiern.»

Im selben Jahr meldet sich eine neue Stimme bei Vormund Murer in der «Selnau». Elsa Zürcher aus Oberrieden, eine Cousine von Dianas Mutter, lässt dem Beamten in einem eloquenten Brief ihre Analyse der familiären Situation zukommen, intrigiert dabei schamlos gegen die Grossmutter und schlägt sich auf die Seite von Mutter Heidi. Sie lobt ihre Cousine, die soeben wieder «illegitim» geboren hat – was weder Diana noch die Winters wissen sollen –, weil diese immerhin Kinder gebäre, nicht wie gewisse moderne Damen, die davon nun gar nichts mehr wissen wollten. Fürsorgerin Meyer und der Vormund sehen sich durch den Brief bestätigt: Der Kontakt zu Frau Zeller muss unterbunden werden. Sie weisen ihr Gesuch um Besuch umgehend ab, die betagte Frau sitzt unfallverletzt in ihrer Dachwohnung und hofft vergeblich auf ihre Enkelin. Die Fürsorgerin lässt sie schriftlich wissen, dass es mit Diana besser gehe, seit sie, die Grossmutter, nur noch selten erscheine. Diana weiss nichts von einer solchen Besserung. Ihre Erinnerungen sind präzise, erzählen von den morgendlichen Kämpfen, vom Herunterwürgen der fettigen Milch, von den Schlägen und vom Zuspätkommen in der geliebten Schule. Alles wurde immer schlimmer. Und die Gefühle des schutzlosen Kindes versanken zunehmend in psychosomatische Leiden. Und in ein grosses Schweigen.

Über ein Jahr nach der gescheiterten Anmeldung bei den psychiatrischen Diensten, im September 1956, trifft in der «Selnau» ein brisantes Schreiben des Jugendsekretariats Bülach ein: «Es gehen Klagen zu Familie Winter ein, dass Frau Winter dem Kind Diana nicht mehr ganz gewachsen scheine. Das Kind werde fast alle Morgen übermässig geschlagen, vermutlich weil es das Frühstück nicht zu sich nehmen wolle; ferner schimpfe Frau Winter sehr viel bei Bekannten über das Kind und wisse eigentlich nur Schlechtes über es zu berichten. Von Liebe sei nichts zu verspüren. Das Kind habe sich Kamerädlein gegenüber schon dahin geäussert, dass bei ihnen zuhause nur das Kind Lydia etwas gelte.» Der Brief löst in der «Selnau» Unruhe aus. Man bespricht mit der Pflegemutter den Vorschlag, Diana für ein paar Monate ins kantonale Beobachtungsheim Brüschhalde in Männedorf zur Abklärung zu geben. Frau Winter stimmt zu, stellt ein entsprechendes Gesuch um Umplatzierung, schreibt darin selbstgerecht und verzweifelt zugleich, dass ihr Mann und sie das «Menschenmöglichste» getan hätten, um Diana Vater und Mutter zu ersetzen, aber dass das Kind einfach nicht einsehen wolle, «dass wir nur das Gute mit ihm wollen», und hält, wie immer, abschliessend fest: «Und dann kommen da noch die vererbten Eigenschaften dazu.»

Das offizielle Überweisungsschreiben des Vormunds lässt keine Zweifel offen, dass aus dem «sehr gut aufgehobenen Mündel» ein «ausgesprochener Trotzkopf» geworden ist, ein Mädchen, das «die Nerven ihrer Pflegeeltern auf eine harte Probe stellt», das «Schmerzen erdichte, wozu sie die Anlagen offenbar ererbt» hat. Bemerkenswert ist auch der Fokus des Schreibens, rund zur Hälfte beschäftigt es sich nicht mit Diana selbst, sondern mit der sozialen Herkunft des Kindes, der «pathologischen» Mutter und dem staatenlosen Vater, der «angeblich» in Amerika lebe. Zudem gehen in der Anamnese die zwei Babyjahre auf dem Bigler Möschberg schlicht vergessen. Die Verlängerung der Betreuungszeit bei der Grossmutter von einem auf drei Jahre erleichtert dem Vormund die Schuldzuweisungen: Diana habe bei Mutter und Grossmutter von «zweierlei Verwöhnungen» profitiert, schreibt er. Zudem geht in der fehlerfixierten Wahrnehmung seines Mündels auch die positive Schulentwicklung des Mädchens fast vergessen: «Früher störte Diana auch in Kindergarten und Schule trotz guter Intelligenz auch durch ihr Benehmen, zur Zeit hat die Lehrerin der 2. Klasse, Frl. Lehmann, keine Mühe mit ihr.»

Diana Bach hat dieses belastende, aber auch entlarvende Schreiben gleich drei Mal kopiert und in verschiedenen Themendossiers abgelegt. Es ist für sie ein empörender Tatbeweis, wie aus ihr, dem achtjährigen, zutiefst verstörten und verlassenen Kind, ein genetisch determiniertes, krankes Mädchen mit Charaktermängeln gemacht wurde. Was immer sich ihre verletzte Seele als Ausweg aus der bedrohlichen Kälte suchte, ob Beharren und Schweigen, ob Bauchschmerzen und Erbrechen, ob Weinen oder Versteinern, immer wurden die Symptome in Belege für ihre erblich und milieubedingte Schädigung verkehrt.

In der Kinderpsychiatrie

Am 29. Januar 1957, nach drei leidvollen Jahren, liefert Frau Winter Diana persönlich in der Kinderpsychiatrie in Männedorf ab. Nun wird sie während vierer Monate von geschultem Personal auf ihre behaupteten Mängel hin untersucht. Der Abschlussbericht der beiden zuständigen Ärzte dokumentiert einen fachlich qualifizierten Blick auf Diana und ihre Lebenswelt. Ihre «neurotischen Reaktionen» werden auf die vielen Wechsel in den entscheidenden frühen Jahren zurückgeführt, auf die verschiedenen Mutterfiguren und auf eine ungeeignete Pflegemutter. Man erkennt in dieser «eine nervöse, überempfindliche Frau, welche erzieherisch ungeschickt und überfordernd dem Kinde gegenüber stand und ihm keine richtige Geborgenheit geben konnte», und sieht in Dianas Eifersucht auf deren Tochter eine durchaus verständliche Reaktion, überdies verschärft durch den überraschend platzierten Halbbruder. «Das Mädchen fühlte sich immer mehr vereinsamt», schreibt die eine Ärztin, seine Reaktionen wie Bettnässen, Trotzen, Nägelbeissen werden als «Aggressionen auf kleinkindlicher Stufe» erkannt und treten überdies während ihres Klinikaufenthalts gar nicht mehr auf. Auffällig sei ihr Bestreben, «eine Mutterfigur für sich alleine zu haben», zudem beschäftige das Kind die Frage nach ihrer Herkunft, nach ihrem Vater, und sie vermisse die Grossmutter. «Einzig zu seiner Grossmutter scheint Diana eine tiefere Beziehung zu haben», notiert die Psychiaterin und hält abschliessend fest: «Angst, Vereinsamung sowie Beunruhigung durch die Familienverhältnisse sind die hauptsächlichsten Themen.» Prognostisch zeigen sich die Ärzte vorsichtig mit Blick «auf den frühen Beginn und die lange Dauer der Schädigung», betonen aber «die gute Intelligenz, das kräftige Reaktionsvermögen und die aktive Auseinandersetzungsmöglichkeit des Kindes mit den Problemen», zudem «seine ansprechbare äussere Erscheinung» und die «Lockerung», die Diana in der Brüschhalde nach der anfänglichen Verschlossenheit schon bald einmal zeigt. Auf eine genetisch abgestützte Diagnose lassen sich die Psychiater gar nicht erst ein: «Wie weit bei der pathologischen Persönlichkeit der Mutter und des Vaters die Sensibilität des Mädchens, seine zur Zeit erschwerte Kontakt- und Bindungsfähigkeit teilweise konstitutionell bedingt sind, ist heute nicht sicher zu entscheiden.» Von einer Rückkehr in die alte Pflegefamilie aber raten sie kategorisch ab: «Das Mädchen sollte nun zuerst die Möglichkeit bekommen, eine tiefe Beziehung zu einer Muttererscheinung aufzubauen», erst dann liessen sich «erzieherische Forderungen» stellen, meinen die beiden Gutachter und empfehlen dazu eine «sehr kleine qualifizierte, heilpädagogisch begabte Pflegefamilie oder «ein kleineres, familiär geführtes Heim», nach Möglichkeit ergänzt mit einer Spieltherapie.

Das Gutachten aus der Brüschhalde hat überraschende Momente. Denn bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb die Psychiatrie mit rassenhygienischen und eugenischen Theorien verstrickt, hier aber zeigt sich eine junge Kinderpsychiatrie mit neuem Gesicht, ihre Deutungsmuster sind vor allem entwicklungs- und tiefenpsychologischen Konzepten verpflichtet. Doch diese modernen Interpretationen und Empfehlungen aus Männedorf werden in der armenfürsorgerischen Realpolitik in Bern und Zürich sogleich wieder aufgerieben. Bereits im vormundschaftlichen Bericht zur Schlussbesprechung gewinnt die gen- und defizitorientierte Fixierung wieder Oberhand. Mängel und Fehler von Diana werden – bar jeder Kontextualisierung – breit ausgefaltet: ihr «infantiles Wesen», das «äusserst eifersüchtige Verhalten», ihr «unselbstständiges Wesen». Das Dokument spiegelt eindrücklich den Deutungsradius behördlichen Handelns von damals, die Zuständigen agieren gefangen in der alten, biologistisch verankerten Milieutheorie. Das Wissen der Fachärzte wird dabei übergangen, sozusagen überschrieben, die dezidierte Kritik am pädagogischen Stil der Pflegemutter unterschlagen. Und so kommt der Vormund denn auch zu ganz anderen Schlüssen als die Psychiaterin in der Brüschhalde: «Die neurotischen Reaktionen Dianas machen bei ihrer Abstammung von pathologischen Eltern eine differenzierte Erziehung notwendig», schreibt Herr Murer einleitend im Gesuch um Finanzierung von Dianas neuem Pflegeplatz.

Dabei gehen die praktischen Vorschläge zu Dianas Neuplatzierung – samt der empfohlenen Spieltherapie – nicht vergessen. Allerdings erfahren sie ein nicht unbedeutendes Korrigendum. Die Forderung nach Förderung einer tiefen Mutterbeziehung wird patriarchal ein wenig zugeschliffen. Plötzlich spricht man nicht mehr von einer Mutter, sondern von «Pflegeeltern», aus den «erzieherischen Forderungen» werden «Erziehungsschrauben». Und bereits im nächsten Schreiben wird aus den Eltern prioritär ein Vater. Das hat für die Heimauswahl seine Konsequenzen. Die namentlich empfohlenen Kleinheime kippen aus der Liste, trotz sehr guten Eindrucks beim einen, trotz Führung durch ausgebildete Fachkräfte im anderen Fall, denn leider sind die Heimleiterinnen weiblich, «es fehlt in der Erziehung ein Hausvater». Ausserdem sind die monatlichen Kosten von knapp 200 Franken für Diana «unerschwinglich hoch». Und so kommt es, dass Vormund Murer den finanziell zuständigen Berner Behörden das Kinderheim Villa Wiesengrund in der Ostschweiz vorschlägt. Die rund 170 Franken Kostgeld schrecken die Berner zwar noch immer – in ihrem Kanton sind Heimplätze nur halb so teuer –, aber schliesslich willigen sie mangels Alternativen ein. Zumal im Wiesengrund grossen Wert auf die bei «Dianas Abstammung» so wichtige «Mitwirkung eines Hausvaters» gelegt wird.

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