Читать книгу: «Animant Crumbs Staubchronik», страница 7

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Das Siebte oder das, in dem ich in die Welt der Maschine eintauchte.


Als ich an diesem Morgen vor der Bibliothek stand, wunderte sich Mr Reed nicht mehr darüber. Und wenn doch, verbarg er es zumindest besser als am Morgen zuvor. Er grüßte undeutlich, sah mir nicht ins Gesicht und schien auch so sehr schlecht gelaunt zu sein.

Aber das war mir heute gleichgültig, da ich nicht besonders viel geschlafen hatte und schon seit dem Aufwachen von leichten Kopfschmerzen geplagt wurde. Ich konnte es in diesem Moment nicht gebrauchen, von Mr Reed irgendeinen Kommentar darüber zu hören.

Still folgte ich ihm die Treppen auf den Rundgang hinauf und sah ihn ohne ein weiteres Wort in seinem Büro verschwinden, dessen Tür er mit mehr Nachdruck schloss, als nötig gewesen wäre.

Ich legte meinen Mantel in dem kleinen Räumchen nebenan ab, fragte mich, was wohl vorgefallen war und ob es etwas mit dem Gentleman von gestern zu tun haben konnte. War er womöglich deshalb immer noch so verstimmt?

Ich begann mit den Zeitungen im Foyer, holte sie aus den Verspannungen, immer die Angst vor dem finsteren Archiv in der Magengrube. Doch diesmal wusste ich ja, was mich dort unten erwartete. Es würde also viel schneller gehen. Hoffte ich zumindest.

Der Junge mit der Zeitung war nicht mehr so verschreckt wie gestern, hielt aber Abstand und blieb übertrieben höflich. Ich gab ihm zwei Schilling und er verriet mir, dass sein Name Phillip Tams war.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihm noch mehr Geld zu geben, damit er für mich ins Archiv runterging. Doch das wäre ein zu großes Eingeständnis meiner Schwäche gewesen und so ließ ich Phillip wieder ziehen, machte meine Arbeit und stellte mich meinen Ängsten.

Jedenfalls redete ich mir das ein, denn meine Furcht vor diesem schummrigen Ort mit dem immerwährenden Luftzug, der nach meinem Nacken griff und mich immer wieder vor jedem Schatten zusammenzucken ließ, wurde nicht weniger.

Wieder rannte ich die Treppen nach oben und blieb mit klopfendem Herzen zwischen den Bücherregalen im Seitentrakt der Bibliothek stehen, an dessen Wand sich der Abgang zum Archiv befand.

Einunddreißig Tage in einem Monat, weniger zwei Tage, die bereits vergangen waren, weniger die vier Sonntage, die ich nicht arbeiten musste, ergab fünfundzwanzig mal hinunter ins grausige Archiv, rechnete ich im Kopf und bekam eine unangenehme Gänsehaut. Noch fünfundzwanzigmal musste ich in dort runter, und das kam mir im Moment wie eine viel zu große Anzahl vor.

Ich war froh, Cody zu begegnen, als ich zurück in den Lesesaal kam. Besser, als sich nach dem Schreck völlig allein in den großen Räumen aufzuhalten. Er sah mich erst verängstigt an, zog sich dann aber eilig die Mütze vom Kopf und verbeugte sich leicht zum Gruß. Immer noch, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Eigentlich hatte ich ihn noch nie sprechen hören.

»Guten Morgen, Cody«, erwiderte ich seine Verbeugung verbal und half ihm anschließend, die Bücher, die im Lesesaal auf den Tischen liegen geblieben waren, zusammenzusammeln und thematisch zu ordnen, damit er sie anschließend wegräumen konnte.

Ich verzog mich in meine Kammer, als die ersten Studenten ins Foyer getingelt kamen und mich mit großen Augen wie eine Zirkusattraktion beglotzten.

»Sie ist die neue Bibliothekarsassistentin«, hörte ich jemanden zu seinem Kollegen flüstern, strich mir flüchtig die Bluse zurecht und suchte das Weite.

Es gab noch einen ganzen Stapel neuer Bücher ohne Etiketten, die darauf warteten, dass ich mich ihrer annahm.

Gegen halb zehn klopfte es an meiner Tür, was mich überraschte. Es hatte mich noch niemand in der Kammer aufgesucht.

»Herein«, rief ich gepresst, während ich mich gegen den Hebel des Gerätes stemmte, das die metallenen Etiketten auf die Buchrücken nietete.

»Miss Crumb«, sprach mich Mr Reed an und ich erkannte ihn nur an der Stimme, weil ich gerade keine Möglichkeit hatte, hinzusehen.

Drei schnelle Schritte erklangen dumpf auf dem getäfelten Boden und dann griff ein Arm über meine Schulter hinweg. Eine kräftige Hand umschloss den Hebel, drückte mit und das Gerät schnappte ein.

Ich hatte kaum etwas tun müssen. Mr Reed hatte den Mechanismus, für den ich mein ganzes Körpergewicht einsetzen musste, mit nur einem Arm betätigt.

Den Atem anhaltend, ließ ich sofort den Griff los und drehte erschrocken den Kopf zu dem Mann, der dicht an meinem Rücken stand. Seine Augen waren ebenholzbraun.

Erst als er meinen verschreckten Gesichtsausdruck sah, schien Mr Reed bewusst zu werden, wie heikel die Situation war, die er geschaffen hatte, und er trat augenblicklich von mir zurück.

»Entschuldigen Sie, Miss Crumb«, sagte er schnell, als fühlte er sich gezwungen, es zu sagen, und fing sich dann wieder. Er holte kurz Luft. »Kommen Sie, der Mechaniker ist da«, teilte er mir mit, wandte sich um und war schon fast wieder aus der Tür raus, noch bevor ich reagieren konnte.

In mir sträubte sich alles bei seinen Worten und doch überwand ich mich selbst und folgte ihm. Wieso musste er mich so herumkommandieren, als hätte ich keinen eigenen Willen? ›Hätten Sie die Güte, mich zu begleiten?‹‚›Würde es Ihnen passen, Ihre Arbeit für einen Moment ruhen zu lassen und mir zu folgen?‹ Wie schwer konnte es denn sein, so etwas zu sagen? War es ihm so unmöglich, höflich zu sein?

Mein Herz schlug schon wieder viel zu schnell. Von dem vorherigen Schreck und vor Wut. Dieser Bibliothekar schaffte es immer wieder, mich mit nur einem Satz so zu verärgern, dass ich ihm am liebsten mit einem Schürhaken eins überziehen wollte. Und ich war für gewöhnlich kein gewalttätiger Mensch.

Ich folgte Mr Reed zurück in den Lesesaal und die Treppe nach oben auf den Rundgang und war sogar zu erbost, um zu fragen, wofür eine Bibliothek einen Mechaniker benötigte und warum ich ihn treffen sollte.

Natürlich wäre ich selbst darauf gekommen, wenn ich mir bewusst gemacht hätte, dass Mr Reed am Anfang erwähnt hatte, dass es sich bei der Suchmaschine um eine wirkliche Maschine handelte. Aber meine Gedanken waren zu sehr damit beschäftigt, dem Bibliothekar wüste Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, als dass ich eine klare Schlussfolgerung hätte ziehen können.

Erst als wir den kleinen Raum betraten, in dem ich meinen Mantel abgelegt hatte, öffnete sich auf einen Schlag mein Blick für andere Dinge, als ich durch die zweite Tür auf der anderen Seite sah, hinter der sich ein Wald aus Zahnrädern auftat.

Es klapperte weiter hinten, Metall traf auf Metall und dann fluchte jemand leise.

»Mr Lennox!«, rief Mr Reed durch die Tür und verschwand hinter einem wagenradgroßen Zahnrad, durch das man auf einige Riemen, eine riesenhafte Metallfeder und mehrere Kurbeln sehen konnte. Kupfer, Stahl und Messing glänzten um die Wette im Licht, das durch die schmalen Fenster an der einen Seite fiel, und ich war für einen Moment wie erstarrt.

»Jamie?«, hörte ich Mr Reed lauter werden und es schepperte weiter hinten.

»Ich bin hier«, ertönte eine Stimme aus der Maschine und dann sah ich kohlenschwarzes Haar zwischen einem Pendel und einer seltsamen Metallkonstruktion hindurchblitzen. »Die Übersetzungsstange zwischen M und L war nur im Lager verrutscht. Da muss sich ’ne Schraube gelockert haben«, erklärte die Stimme und dann sah ich ihn. Er kam zwischen den Teilen hervorgeklettert, hangelte sich an einer Stange, die über ihm hing, über eine Ansammlung von Zahnrädern und kam dann keine zwei Meter von mir entfernt mit seinen schweren Stiefeln auf dem Boden auf. Er war etwa so groß wie ich, vielleicht ein bisschen größer, das Gesicht und die lederne Weste ölverschmiert, die schwarze Hose verstaubt, einen breiten Werkzeuggürtel an der Hüfte. Er hatte breite Schultern, die schwarzen Haare zu einem Zopf im Nacken gebunden und einen markanten Dreitagebart. Sein Alter ließ sich durch all das schwarze Öl schwer bestimmen, aber er konnte kaum viel älter als ich sein.

»Mr Ree…«, begann er und blinzelte dann überrascht. »Oh, Miss. Äh, entschuldigen Sie mich«, stammelte er, machte ein verlegenes Gesicht und verschwand ebenfalls hinter dem riesigen Zahnrad. »Mr Reed?«, rief er und ich schnappte nach Luft.

Was war das nur für eine riesenhafte Maschine und warum baute man so etwas in einer Bibliothek? Neugierig setzte ich einen Schritt vor den anderen, erreichte den Türrahmen und dann war ich auf einmal mittendrin. Ich hielt meinen Rock zusammen, um nirgendwo hängen zu bleiben, schritt durch die schmalen Gänge zwischen den Teilen, las die Schilder und Markierungen, die mir nicht viel sagten, und konnte mich nicht sattsehen. Es roch nach Schmieröl und Metall, nach Hitze und Kraft, und obwohl ich nicht sehr viel Praktisches über Maschinen wusste, beeindruckte mich dieses Werk über alle Maßen.

»Da sind Sie ja. Sie können doch nicht einfach so hier herumspazieren!«, fuhr Mr Reed mich an und mir fiel auf, dass ich ganz vergessen hatte, wütend auf ihn zu sein. Selbst seine schroffen Worte konnten meine Begeisterung in diesem Moment nicht mindern.

»Es ist unglaublich«, brachte ich heraus und drehte mich einmal um meine eigene Achse, um die gesamte Pracht des Werkes zu erfassen. »Was macht sie?«, wollte ich wissen und Mr Reeds bittere Miene schmolz direkt vor meinen Augen dahin.

»Sie findet Bücher«, erklärte er milde und leider konnte ich nicht begreifen, was es bedeuten sollte. »Ich zeig’s Ihnen«, bot er etwas zu eifrig an und ein Lächeln versteckte sich in seinem Mundwinkel.

Ich folgte Mr Reed aus dem Zahnrädergewirr heraus, ein Weg, den ich allein nur schwer wiedergefunden hätte, und durchquerte den kleinen Raum, der die Maschine von dem Rundgang trennte.

Mr Reed lief ein paar Meter an der Wand entlang und wandte sich dann einem Verschlag zu, der zuvor meiner Aufmerksamkeit völlig entgangen war, da er die gleiche Holztäfelung wie der Rest der Wand aufwies. Der Bibliothekar zog einen Schlüsselbund hervor und schloss damit den Verschlag auf. Mit etwas Mühe stemmte er sich gegen die breiten Türen und schob sie zur Seite.

Vor mir erschien ein Podest, auf dem eine Schreibmaschinentastatur befestigt war. Dahinter war eine Reihe Plättchen angebracht und darüber ein paar metallene Schienen, die aus der Wand ragten.

»Nehmen wir an, Sie suchen ein Buch. Eines über Physik oder Gesellschaftsrecht«, begann Mr Reed seine Erklärung und zum ersten Mal an diesem Tag sah er mich wirklich an.

Und obwohl er immer noch der steife, geringschätzende Bibliothekar war, wirkte er nicht mehr ganz so unzugänglich wie zuvor. Diese Maschine begeisterte ihn und ich hörte ihm gespannt zu.

»Sie schreiben ein Wort mit den Tasten, das das Buch, welches Sie suchen, beschreibt und die Maschine sucht für Sie alle Bücher raus, die zuvor mit diesem Wort verbunden wurden«, führte er weiter aus und ich konnte nicht glauben, was er mir da erzählte. Das war wirklich spektakulär.

Ich starrte ihn zuerst nur fassungslos an, schaffte es aber schließlich, meinen Mund wieder zu schließen und fuhr mir dann mit der Zungenspitze über die Unterlippe, um sie etwas anzufeuchten, bevor ich sprach.

»Dürfte … ich das ausprobieren?«, fragte ich für meine Verhältnisse recht schüchtern und auf Mr Reeds Gesicht erschien ein Lächeln. Ein echtes, eines, das mich überraschte und gleichermaßen verwirrte.

»Aber natürlich, Miss Crumb«, gab er mir die Erlaubnis und wandte sich dann den Tasten zu. »Mr Lennox?«, rief er durch eine der Öffnungen, durch die die Schienen nach vorne führten und durch die man einen Blick auf die sich dahinter befindende Maschine werfen konnte.

»Bin gleich so weit!«, antwortete die Stimme des jungen Mannes aus den Tiefen des Raumes, gefolgt von einem lauten Knirschen. »Repariert und aufgezogen, Sir! Aber geben Sie mir einen Moment, damit ich hier wieder rauskomme, bevor Sie die Lady anwerfen.« Scheppern und polternde Schritte folgten, und dann tauchte der junge Mann mit dem ölverschmierten Gesicht auch schon in der Tür auf.

Mr Reed machte eine auffordernde Geste mit der Hand und ich riss meinen Blick von dem Mechaniker los, der mich ebenfalls anlächelte.

Zögerlich trat ich an das Podest, dachte einen Moment nach und legte dann meine Finger auf die Tasten. Sie ließen sich erstaunlich leicht drücken und jeder Buchstabe, den ich auswählte, erschien auf den Plättchen dahinter. Mit einem leisen Klackern kamen ein T, ein H, ein E und ein R zum Vorschein. Thermodynamik schrieb ich es aus und holte tief Luft, in der Erwartung, dass sofort etwas geschehen musste. Doch es passierte gar nichts.

»Habe ich was falsch gemacht?«, wollte ich wissen und der Mechaniker neben mir lachte. Er zog einen Lappen aus der Hosentasche und wischte sich das Gesicht sauber.

»Sie müssen nur bestätigen«, wies Mr Reed mich drauf hin und zeigte auf einen kleinen Hebel neben den Tasten.

Vorsichtig griff ich danach, zog ihn nach vorne und sofort begann die Maschine zu schnurren wie eine Katze, die gekrault werden wollte.

Zahnräder setzten sich in Bewegung, Federn spannten sich, Riemen drehten sich. Und ich konnte nicht anders, als mich vorzubeugen und durch die Öffnung in der Wand zu starren, wie ein Kind, das sich an der Fensterscheibe eines Süßwarengeschäftes die Nase platt drückte. Es war wie das erste Mal in die Sterne zu sehen, und ich hätte gerne laut gelacht wegen des überschäumenden Gefühls in meiner Brust.

Und dann kam etwas auf mich zu. Erschrocken wich ich zurück und drei schmale Holzkarten schossen aus der Öffnung hervor, stießen ans Ende der Schiene und blieben schwankend stehen. Diese Karten hatte ich auch in meiner Kammer gesehen. Die beiden Löcher am oberen Teil waren also die Aufhängung für diese Schiene.

Doch am erstaunlichsten war, dass all diese Karten die Titel von Büchern wiedergaben, in denen es um Thermodynamik ging. Die Thermodynamik chemischer Vorgänge von Helmholtz, Thermochemische Untersuchungen von Hermann Heinrich Hess und ein Lehrbuch der physikalischen Chemie.

»Umwerfend«, konnte ich nur sagen und Mr Reeds Lächeln verharrte auf seinen Lippen. Er sah recht ansehnlich aus, wenn er lächelte.

Doch dann verschwand es plötzlich, er straffte die Schultern, bekam wieder sein ernstes, verkniffenes Gesicht und räusperte sich dann dezent, während er eine silberne Taschenuhr hervorholte. »Gut. Nachdem Sie nun wissen, was es ist, überlasse ich Sie Mr Lennox«, klärte er mich auf, während er auf die Uhr spähte und sich dabei schon fast wieder abgewandt hatte. »Er hat dieses Monster gebaut und er wird Ihnen auch erklären, wie Sie in Zukunft die Karteikarten in die Schienen einhängen können.« Er nahm seine Brille von ihrem Platz an seiner Weste und setzte sie sich auf die Nase. »Aber passen Sie auf die vierte Stufe auf. Die ist locker«, sagte er, ließ die Uhr wieder in der Tasche verschwinden und ging.

Verwundert sah ich ihm nach, wie er in seinem Büro verschwand, und wusste nicht, was ich davon zu halten hatte. Wer war dieser Mann? Ein verklemmter, verstaubter Bibliothekar oder ein fortschrittsliebender Visionär? Und wie ließen sich diese zwei Seiten, die er mir bisher gezeigt hatte, in einer Person vereinbaren?

Wirklich kompliziert.

Das Achte oder das, in dem ich eine tollkühne Tat plante.


Es war nicht so einfach zu verstehen, wie die Karteikarten in die Maschine sortiert wurden, sodass sie auch korrekt wieder abgerufen werden konnten. Hinzu kam, dass Jamie Lennox zwar ein gesprächiger Bursche, aber ein miserabler Lehrer war. Und als ich das System endlich begriff, hatte ich unfreiwillig ebenfalls erfahren, dass Mr Lennox’ Familie aus Nordengland stammte, sie allesamt Uhrmacher waren, sein Vater die Maschine entworfen hatte und dass seine Mutter diese Arbeit mit den großen Teilen gar nicht schätzte.

Er war höflich und nett und aus irgendeinem Grund mochte ich ihn, ganz gleich, dass er viel zu viel redete. Er war nicht dumm, auch wenn er sich nicht so gewählt ausdrückte wie die feine Gesellschaft, und ich beantwortete ihm sogar seine Fragen zu meiner Person und wie es dazu gekommen war, dass ich jetzt hier arbeitete, obwohl es für gewöhnlich nicht meine Art war, fremden Männern so was auf die Nase zu binden. Er brachte mich dreimal zum Lachen und gegen Ende konnte ich mich des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass er versuchte, mich mit seinem Charme für sich zu gewinnen.

Der Klang von Big Ben ließ ihn nach einer vergangenen Stunde jedoch zusammenschrecken, er entschuldigte sich eilig und packte sein Werkzeug zusammen.

»Sagen Sie Mr Reed, wenn er zurück ist, dass ich mich nächste Woche um die Stufe kümmere. Ich muss jetzt los«, teilte er mir mit und ich runzelte die Stirn.

»Wenn Mr Reed wieder zurück ist? Wo ist er denn hin?«, fragte ich nach und Mr Lennox zuckte nur mit den Schultern.

»Was weiß ich. Ich weiß nur, dass er jeden Mittwoch gegen Mittag spurlos verschwindet«, behauptete er.

Ich sah ihm hinterher, wie er die Stufen nach unten lief, Cody grüßte und dann durch den Haupteingang verschwand.

Mich ließ die Aussage nicht los, Mr Reed würde einfach verschwinden, und ich ging die paar Schritte bis zu seinem Büro, um dort unauffällig an der Tür zu lauschen. Schon der erste Eindruck war, dass sich niemand darin befand und nach einigen Sekunden wurde es mir bestätigt. Ich hatte genug Erfahrung im Lauschen, dass ich sehr schnell wusste, ob ein Raum verlassen war oder nicht.

Also ging ich den Rundgang entlang, sortierte ein paar Bücher, die mir gerade ins Auge sprangen, und hielt Ausschau. Er war weder im Lesesaal noch im Foyer. Ich stieg die Treppen nach unten und sah kurz in den Seitenflügeln nach. Doch Mr Reed blieb verschwunden.

Der einzige Ort, an dem ich nicht nachsah, war das Archiv. Falls er dort war, befand sich das außerhalb meines Interessenbereiches, denn ich würde nicht nach ihm suchen gehen.

Schlendernd ging ich zurück in meine Kammer, nietete Metallplättchen auf Buchrücken, bis mir vor Anstrengung die Arme zitterten, und ging dann zurück ins Foyer, um die Rückgaben zu sortieren.

Ein Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, dass ich vergessen hatte, meine Mittagspause zu machen und ich ärgerte mich ein wenig über mich selbst.

»Cody, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, sprach ich den Jungen an, der gerade zurückkam, um den nächsten Schwung Bücher bei mir abzuholen.

Er sah verstohlen auf seine Hände und nickte zaghaft. Ich war mir nicht sicher, ob er mir antworten würde, schließlich hatte er bisher in meiner Gegenwart keinen Ton rausgebracht.

Da ich ihn nicht in eine für ihn unangenehme Lage bringen wollte, entschied ich mich, meine Fragen so zu formulieren, dass er sie mit einer Kopfbewegung beantworten konnte.

»Verschwindet Mr Reed jeden Mittwochmittag?«, erkundigte ich mich und Cody nickte. Schon mal ein kleiner Erfolg für meine Taktik.

»Kommt er denn wieder?«, fragte ich weiter und Cody schüttelte den Kopf.

Das war wirklich äußerst seltsam. Mr Reed ging zu Mittag und nahm sich den Nachmittag einfach frei? Das war schon wieder etwas, das zu seinem Wesen überhaupt nicht zu passen schien. Ich schätzte ihn als einen Mann ein, der eher länger blieb, als früher zu gehen, und er hatte mir bereits selbst gesagt, dass er seine Arbeit sehr ernst nahm.

Was gab es also, das wichtiger war als seine geliebte Bibliothek?

»Wissen Sie denn, wo er hingeht?«, erkundigte ich mich und Cody schüttelte wieder den Kopf, während er Bücher von dem Ständer vor mir auf einen Bücherwagen umlud.

Einerseits irritierte es mich, dass ich nun allein und ohne Aufsicht von Mr Reed in diesen Räumen war, andererseits ließ es mich in einer gewissen Weise aufatmen. Sein unsichtbarer Blick, der immer schwer auf mir gelastet hatte, war verschwunden und ich fühlte mich weit weniger beobachtet, auch wenn mir die skeptischen Blicke der Studenten immer noch überallhin folgten.

Eine arbeitende Frau war keinem von ihnen geheuer und oft flüsterten sie über mich. Doch solche Anfeindungen war ich gewöhnt. Zu Hause in unserem Städtchen sahen mich die meisten so an, Männer wie Frauen, und sie tuschelten über das seltsame Mädchen, das sich immer hinter seinen Büchern versteckte.

Sollten sie doch reden. Was wussten sie schon?

Ich ging und holte mir einen Tee und ein Stück Plundergebäck in der Cafeteria. Da Mr Reed ja nicht da war, hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, einfach außerhalb meiner Pausenzeiten zu verschwinden, schließlich hatte ich meine Mittagspause heute ausgelassen.

Während ich meine Tasse über den Hof und den unebenen Weg bis zur Bibliothek balancierte und stark darauf achten musste, mir dabei nicht den Handrücken zu verbrennen, dachte ich darüber nach, wie ich es anstellen könnte, mir meinen Tee künftig in der Bibliothek zuzubereiten, denn die gegenwärtige Methode war doch reichlich unzweckmäßig.

Als ich in dem Zimmerchen angekommen war, durch das man in das Innenleben der Maschine gelangte, setzte ich mich dort an den Tisch und packte mein Plundergebäck aus. Es war nicht im Geringsten gemütlich hier drinnen und ich nahm mir vor, die ganze hintere Wand von dem Gerümpel zu befreien, sobald ich Zeit dafür fand.

Meine Gedanken sprangen weiter und wieder zurück zu dem Bibliothekar. Was tat er gerade wohl?, stellte sich mir die Frage und ich sinnierte darüber, während ich einen Schluck Tee trank. Jetzt war er kalt.


Der Donnerstag begann wie der Tag davor. Ich war wieder ein paar Minuten vor Mr Reed an der Bibliothek und sein morgendlicher Gruß fiel erneut ein wenig freundlicher aus als am Tag zuvor. Ich sortierte die Zeitung, bezahlte Phillip Tams, brachte den Gang ins Archiv mit dem gleichen Schreck in den Gliedern hinter mich und verschwand dann in meiner Kammer, um die Karteikarten für die Maschine zu bedrucken.

Ich hatte gerade mal die Hälfte der neuen Bücher aus den Kisten geholt, in den Katalog aufgenommen, beschriftet, genietet und die Schlagwörter überflogen, aber es fühlte sich trotzdem nach unglaublich viel an, was ich in den vergangenen drei Tagen geschafft hatte. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass Mr Reed jemals stolz auf mich sein würde, aber ich war es und ich würde mir das sicher nicht nehmen lassen.

Höchstpersönlich lud ich die neuen Bücher auf einen Wagen und brachte sie an die Stellen, an denen sie in Zukunft stehen würden.

»Entschuldigen Sie, Miss, Sie haben hier nichts verloren«, hörte ich plötzlich ein paar Regalreihen vor mir Oscars Stimme, die ein wenig zu laut klang für die Stille, die in der Bibliothek vorherrschte.

»Ich muss nur ganz schnell was nachschlagen«, antwortete ihm eine weibliche Stimme, deren kratziger Nachhall mir sofort bekannt vorkam.

»Nein, Miss. Diese Bibliothek ist ausschließlich den Studenten der Royal University und ihren Gönnern vorbehalten. Sie …«, redete Oscar auf sie ein und wurde unterbrochen.

»Die alle männlich sind! Schon verstanden. Aber ich pfeif drauf!«, warf die Frau ihm an den Kopf und nun war ich mir sicher.

Es war Elisa Hemmilton.

Ich legte das Buch, das ich gerade einsortieren wollte, wieder zurück auf den Wagen und ging mit schnellen Schritten in ihre Richtung.

»Miss, geben Sie das Buch her!«, fauchte Oscar recht ungehalten und ich sah, wie er sich an das eine Ende eines dicken Wälzers klammerte. Elisa kam in mein Blickfeld, das Gesicht angestrengt verzogen, die Finger um den ledernen Einband geschlossen, an dem sie verzweifelt zog.

Ich stellte mich neben die Streithähne, die so komisch wirkten, dass man eigentlich über sie hätte lachen müssen. Elisa war einen halben Kopf größer als Oscar, doch er war sicher doppelt so breit wie ihre schmale Statur. Ihre Münder waren wutverzerrt und sie wirkten wie Karikaturen ihrer selbst.

Geräuschvoll räusperte ich mich.

Sie zuckten beide so erschrocken zusammen, als hätte ich sie geohrfeigt. Oscars Hände rutschen vom Buch ab. Elisa taumelte einen Schritt zurück.

»Geben Sie mir das Buch«, sagte ich streng und streckte fordernd die Hand danach aus. Elisa sah mich erst überrascht an, während ich ihren Blick erwiderte, als wäre sie eine Fremde, und dann musterte sie mich misstrauisch mit zusammengekniffenen Augen. Das Buch reichte sie mir widerstandslos.

Es war schwer und ich konnte mir den Titel nicht ansehen, da ich keinen aus den Augen verlieren wollte, um nicht an Autorität einzubüßen.

»Miss Crumb«, begann Oscar zu einer Erklärung anzusetzen, doch ich schnitt ihm das Wort ab.

»Ich kümmere mich darum«, gab ich mit fester Stimme zurück. »Danke, Oscar. Sie können jetzt gehen.« Mein Gesicht regte sich keinen Millimeter aus seiner erhabenen Starre.

Oscar sah mich mit großen Augen an, während ihm die Röte ins Gesicht schoss, nickte schließlich und nahm Reißaus.

Ich wartete ab, bis seine Schritte weit genug weg waren, und ließ das Lächeln auf meine Lippen gleiten, das dort schon die ganze Zeit über lauerte.

»Was machst du denn hier?«, wollte ich wissen und Elisa atmete erleichtert auf.

»Verdammt, hast du mir einen Schreck eingejagt«, flüsterte sie und wedelte sich mit einem dunkelroten Handschuh Luft zu. »Dasselbe könnte ich dich fragen. Warum in Teufels Namen hört dieser engstirnige Laufbursche auf dich?«

»Ich arbeite hier«, gestand ich und reichte ihr das Buch zurück. Es war ein Manifest über die Bürgerrechte der Rassen in Amerika. »Ich bin die neue Bibliothekarsassistentin.«

Es schien beinahe, als müssten Elisa jeden Moment die Augen aus dem Kopf fallen, so schockiert starrte sie mich an.

»Ach du meine Güte«, entfuhr es ihr und ich beschloss, dass es für uns wahrscheinlich besser wäre, uns an einem Ort zu unterhalten, an dem uns nicht jeder sehen konnte.

»Komm mit«, bedeutete ich ihr, ging ans Ende des Regals und sah den Gang nach unten. Es war niemand auf dem langen Flur und die Studenten im Lesesaal, die uns möglicherweise hätten sehen können, waren vertieft in ihre Lektüren.

Wir überquerten den Flur und ich öffnete Elisa die Tür zu der Kammer, in der es immer noch viel zu viel zu tun gab.

»Das ist doch unvorstellbar!«, platzte es aus Elisa heraus, sobald ich die Tür hinter uns geschlossen hatte. Amüsiert schüttelte ich den Kopf über ihr überschwängliches Gemüt. »Wenn ich das mal gewusst hätte! Unvorstellbar!«, wiederholte sie sich und begann, hin und her zu laufen.

»Du hast nicht gefragt«, erwiderte ich nüchtern und sie hielt kurz inne, legte das Buch ab und schritt dann weiter.

»Du hast absolut recht. Ich dachte, es wäre nicht so wichtig, und nun stellt sich heraus, dass du an der Quelle sitzt. Es war arrogant von mir, nicht nachzufragen. Ich hätte mir erspart, mir die Strümpfe an den Rosenbüschen kaputtzureißen, als ich zum Fenster eingestiegen bin«, faselte sie und ich bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. Sie hatte einen Hang zur Übertreibung und sicher auch einen zur Theatralik.

»Elisa, wieso steigst du in eine Bibliothek ein?«, stoppte ich ihren unsinnigen Redefluss und sie sah mich erstaunt an.

»Weil ich die Bücher brauche!«, sagte sie, als sei es selbstverständlich. »Unsere Bibliothek ist ein Witz gegen diese hier. Wir haben Hunderte Bücher über Haushaltsführung und Kunst. Aber Rechtswesen, Politik, Philosophie sind immer verliehen, weil es so wenige sind, oder sie fehlen gänzlich«, beschwerte Elisa sich und ich setzte mich auf einen Stuhl. Ich zog noch einen heran, den ich schräg neben mir postierte in der Hoffnung, Elisa würde ihren Lauf aufgeben und sich zu mir setzen.

Doch sie schien zu aufgebracht zu sein, um dieser stillen Aufforderung nachkommen zu wollen. »Sie werfen uns das Wissen häppchenweise hin, als ob wir zu dumm wären, mehr zu begreifen. Ich könnte mir die Haare raufen, aber dann würde meine Gönnerin mich wieder rügen, dass ich rumliefe wie eine Hübschlerin.«

Es war nicht zum Lachen und trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen. Diese originelle Art, mit der sie Wichtiges und Unwichtiges in einem Satz vereinte, war es, die sie in diesem Moment so witzig machte.

»Ach, lach doch nicht, Animant«, warf sie mir vor und hatte selbst schon das Lachen halb in der Stimme.

»Es tut mir leid«, versuchte ich mich zu entschuldigen und riss mich etwas zusammen. »Du bist also hier eingebrochen, um ein Buch zu lesen«, hielt ich fest und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ich war verrückt nach Büchern und trotzdem wäre mir nicht im Traum eingefallen, dafür durch das Fenster eines Gebäudes zu steigen, in das mir der Einlass verwehrt wurde.

Endlich ließ Elisa sich auf den Stuhl fallen, den ich ihr zurechtgeschoben hatte, und seufzte laut. Das Hin-und-her-Gelaufe hatte mich auch sehr irritiert.

»Ja, das bin ich«, gestand sie und sah sehnsüchtig zu dem Wälzer, der auf der Tischkante lag. »Ich wollte ein paar kleine Absätze lesen, obwohl ich eigentlich das ganze Buch brauchen könnte. Und dann hat mich dieser Kerl dabei erwischt«, schimpfte sie und obwohl sie sich gefasst gab, konnte ich sehen, wie verzweifelt sie hinter der ruhigen Fassade war. Es musste auch wirklich frustrierend sein, nicht das lesen zu können, was man wollte oder brauchte.

Und in mir entstand der Wunsch, ihr zu helfen. Es war so ungerecht, dass man ihr den Zutritt verwehrte, dass ich es einfach nicht zulassen konnte.

»Ich verleih es dir«, sagte ich und Elisas Blick schoss in meine Richtung.

»Das darfst du nicht«, erwiderte sie harsch und doch mit Hoffnung in den Augen.

»Na und. Wer soll es schon erfahren? Ich gebe es dir für eine Woche und dann gibst du es mir zurück«, schlug ich vor und Elisa blieb nicht lange bei ihrer Widerrede.

»Und was, wenn sie merken, dass es fehlt?«, fragte sie und ich zuckte mit den Schultern. Nichts leichter als das.

»Ich schreib es als entliehen auf eine Karte, dann wird es niemand suchen«, erklärte ich ihr, doch sie schien noch nicht ganz überzeugt.

»Und unter welchem Namen willst du es verbuchen?«, wollte sie wissen und streckte sich bereits nach dem Buch aus, um es wieder an sich zu nehmen.

399
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682 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783959913928
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Правообладатель:
Bookwire
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