Читать книгу: «Der Anarchist», страница 2

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Ist das nicht ,,Masochismus?!“

Habt ihr, die ihr über mich urteilen wollt, das kennen gelernt?

Nein! Wer will sich dann zum Richter über etwas aufwerfen, das er nicht kennt?!

0 rohe Psychologie, die da lehrt: aus einem unmenschlichen Triebe — ,,aus Grausamkeit“ — begingen wir „Verbrechen“ am Nächsten. Nur aus einem rein menschlichen Triebe — „aus Liebe“ — begehen wir das am Nächsten, was ihr ,,Verbrechen“ nennt: damit er jenes unnennbaren Glückes teilhabe, das wir fühlen. Uns bewegen somit reine ethische Momente.

Glaubt ihr, nur wir sind Masochisten? Oder glaubt ihr, nur jene sind es, die sich von der Dirne treten, ohrfeigen, geißeln, beschmutzen und in den Mund spucken lassen?!

0, ihr Idioten! Ich sage euch: Alle Liebe ist masochistisch, und alles, was zu ihr führt, mit ihr verbunden ist, oder daraus resultiert, trägt den Stempel „Lust und Leid“!

Die Natur fehlt nie. Wer glaubt also, daß es Laune, Zufall oder Ironie von ihr war, als sie die Liebe mit so viel Qual verband?! Wer denkt da nicht an alle die Tragödien der unglücklichen Liebe, mit ihren Morden und Selbstmorden; all ihrem körperlichen und seelischen Martyrium, die uns jeder Tag bringt?!

Wer denkt nicht an die Trauerspiele der geschlechtlichen Lust, die sich uns in den Krankenhäusern darbieten?! All der Hunderttausende, die der Ausschweifung erlegen sind, als Resultat der geschlechtlichen Lust?! All der Rückenmarksleidenden, Syphilitiker, Paralytiker usw.?!

Wer erinnert sich nicht der Foltern, die die geschlechtlich Perversen über sich und die Menschheit gebracht haben?! All der Lustmorde! Und aller Gegenmaßregeln. Der Lustmorde, die man beging, — die Lustmorde zu verhindern! —

Wer gedenkt nicht der Qualen der Schwangerschaft?! Ihres Risikos auf Leben und Tod!

Sollten das alles Fehlgriffe der Natur sein? Nein! Nein!! Die Begleitung der Lust durch den Schmerz muss durch irgend einen bestimmten Zweck begründet sein. Dieser Grund ist: Daß die Lust, ohne ihr Gegenteil, den Schmerz, überhaupt nicht fühlbar, nicht denkbar, nicht vorstellbar wäre: so wie uns Kälte ohne Wärme, Licht ohne Dunkel nicht zum Bewusstsein kommen könnte. Lust würde also bei Mangel des Schmerzes gar nicht als Lust empfunden. Ergo: Muss durch Steigerung des Schmerzes die Lust zu höherer Geltung kommen, denn je größer die Kontraste, desto leichter fühlen wir sie.

„Masochismus ist somit ein Naturgesetz.“

Je höher er bei einem Individuum ausgeprägt erscheint, desto höher, desto übermenschlicher ist dasselbe.

Θ

Ich erwachte mitten in der Nacht schweißnass. Die Aufzeichnung musste mir im Schlaf, der durch die Wirkung des Medikamentes plötzlich über mich gekommen war, aus den Händen entglitten sein. Von draußen vermeinte ich in der Ferne Schreie und vereinzelte Schüsse zu hören.

Ich schrak auf und versuchte mich im Dunkel des Raumes zu orientieren. Wo war ich? Verwirrt suchte ich nach dem Fenster, durch welches üblicherweise auch nachts ein feines Licht von der Straße hereinfiel. Doch nichts dergleichen konnte ich erkennen. Mehrfach schloss und öffnete ich die Augen, ohne an dem Eindruck etwas ändern zu können, dass es stockfinster um mich herum war. Mein Herz begann zu rasen.

Erschreckt tastete ich nach der Lampe auf dem Nachttischchen. Doch auch diese war nicht zu finden. Das Ticken einer Wanduhr drang an mein Ohr. Panik erfasste mich. Schnell richtete ich mich auf und suchte meine Hausschuhe zu finden. Meine nackten Füße ertasteten Boden. Doch es war nicht etwa das Holz des Dielenbodens, das ich spürte, es war kalter, rauer Stein! Ich beugte mich hinunter, um mich mit den Händen zu vergewissern, dass ich mich getäuscht hätte. Meine Fingerspitzen bestätigten jedoch den Eindruck. Mein Bett stand auf kaltem Steinboden! Auch wirkte es höher als gewohnt und ganz zweifellos war es nicht mehr aus Holz, sondern Metallrohren zusammengesetzt.

Das Ticken der Uhr begann unangenehm die Stille des Raumes zu durchdringen, hämmerte in meinen Gehörgang, wie ein innerer Pulsschlag. Plötzlich durchdrang ein grässlicher, gellender Schmerzensschrei das Dunkel. Es musste ganz in meiner Nähe sein! Schnelle hallende Schritte auf dem Gang vor der Tür, das Schlagen von metallenen Türen, ein schleifendes Geräusch, das Quietschen eines zurückgeschobenen Riegels. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Das grelle Licht des Flures blendete mich, so dass ich die Hände vor die Augen halten musste. Die Silhouette zweier Uniformierter, die eine leblose Gestalt zwischen sich an den Schultern gepackt hielten, welche sie mit einem Schwung in den Raum beförderten, in dem ich mich befand. Mit einem dumpfen Laut vernahm ich den Reglosen auf den Boden aufschlagen, bevor die Tür wieder metallisch quietschend geschlossen wurde und mich ins Dunkel zurückwarf.

Ich erwachte ein zweites Mal, als ein Lichtschimmer durch meine Lider fiel, der diesmal wirklich von einem Zimmerfenster herrührte, wie ich beruhigt feststellte. Ich schaute mich vorsichtig um. Nicht ohne Erleichterung fand ich mich in meinem Pensionszimmer wieder, fühlte mich jedoch zerschlagen und matt.

Schwerfällig erhob ich mich aus meinem Bett. Der Schmerz im Rücken hatte sich glücklicherweise bis auf einen dumpfen Rest gebessert. Ich sammelte die verstreuten Blätter der Aufzeichnung auf und wunderte mich nur über den dunklen krustigen Fleck nahe der Tür, der mir vorher nie aufgefallen war. Kopfschüttelnd vertiefte ich mich in meine Lektüre, nachdem ich mühsam die Reihenfolge der Blätter wiederhergestellt hatte.

VI

Durch die Erkenntnis des masochistischen Naturgesetzes geriet ich in einen eigenartigen Zustand. Individuelle Liebe und Leiden machten auf mich keinen sonderlichen Eindruck mehr. Ich begann den Masochismus im Leben und Wirken der Natur, in der Geschichte der Menschheit, im sozialen Leben und in der Kultur zu beobachten.

Gründet sich nicht das große Entwicklungsprinzip der Natur darauf, daß Existenz und Fortschritt einer Gattung abhängig sind von dem Druck des umgebenden Milieus?! Je schwieriger die Existenzbedingungen, je härter der Druck der Umgebung, je mehr Leiden eine Gattung zu erdulden hat, umso stärker muss die Reaktion hierauf bei derselben eintreten, um so stärker werden ihre Kräfte und Fähigkeiten angespannt und müssen rückwirkend die Gattung auf eine höhere Stufe erheben!

„Das Leiden also ist das treibende Moment in der Natur. Dieselbe ist somit — masochistisch.

Auch innerhalb der Gattung selbst gilt dieses Gesetz. Haben sich nicht in der Gattung „Mensch“ gerade jene Varietäten am höchsten entwickelt, die das härteste Milieu zu bewältigen hatten?! Die von der Natur am schwersten mit Nahrungssorgen geplagt wurden?! Die am meisten litten?!

Ist nicht die Existenz der Lebewesen abhängig vom ,,Kampf ums Dasein“, von der gegenseitigen Bekämpfung der Arten, gegenseitiger Vernichtung?!

Es ist ein charakteristisches Zeichen für die menschliche Natur, daß alle Religionen, die sie sich schuf, von dem Leitsatz erfüllt sind: „Nur durch Leiden kannst du selig werden!“

Ist es nicht erst recht Masochismus, wenn sich die Menschheit durch die moderne Wissenschaft, auch noch der Hoffnung aufs Jenseits, auf Ewigkeit und Seligkeit, beraubt und nichts an seine Stelle setzt?!

Betrachtet die Weltgeschichte!

War nicht die Geburt jeder großen Idee mit furchtbaren Wehen — mit dem Wirken von Feuer und Schwert, Blut und Tod — verknüpft?

Hat nicht die Menschheit ihre größten Wohltäter ans Kreuz geschlagen?! Ihnen mit Galgen, Folterkammer, Rad, Scheiterhaufen, Zucht- und Irrenhaus gedankt?!

Und alles aus Menschenliebe!

Alle die Christen- und Judenverfolgungen, Inquisition, Ketzerverbrennungen, Hexen- und andere Prozesse, die Religionskriege aller Zeiten waren Ausflüsse der — Menschenliebe. Sie bezweckten: die Menschheit vor dem Raube der Seligkeit, durch die Irrlehren, zu bewahren!

Die Menschenliebe gebar die Neros, Torquemadas, grausamen Iwans und Schdanows!

Warum plagten diese die Menschen? — Um deren Qualen sich vergegenwärtigen, sie mitfühlen, mitempfinden zu können. Um im Geiste selbst diese Martern durchzumachen; also sich zu quälen durch das Hineinversetzen in die Schmerzen anderer. — ,,Somit ist Sadismus in seinen Motiven nichts als — Masochismus“.

Die Menschenliebe errichtete das Kreuz Christi, entzündete die Scheiterhaufen des Huß, Bruno, Galilei, folterte Thomas Münzer, erdolchte Marat, enthauptete Hebert und zimmerte die Galgen von Arad, Petersburg, Chikago!

Die Menschenliebe baute die Bastille, den Tower, den Spielberg, Blackwells-Island und die Schlüsselburg, baute die Folterkammern der Inquisition, der mittelalterlichen Rechtspflege und jene von Montjuich, Alcalla del valle, Borissoglebsk u. a. m.!!

Merkwürdig! Daß gerade eure „Menschenliebe“ der grausamste Folterknecht, unerbittlichste Henker, blutdürstigste Menschenschlächter und größte aller Verbrecher war!

Erseht ihr nicht darinnen das weise Walten des masochistischen Prinzips?! Daß nur die Verfolgungen es waren, welche diese Ideen verbreiteten?! Jeder Fortschritt, den die Menschheit in der Kultur machte, musste mit unerhörten Opfern bezahlt werden. Die übermenschlichsten Leiden von Millionen Sklaven schufen die Kultur des Altertums, der Phönizier, Babylonier, Perser, Assyrier, Griechen und Römer! (Zu dieser so oft bestrittenen Tatsache siehe Mommsen: ,,Gegenüber dem Leiden der Sklaven im Altertum sind alle Negerleiden nur ein Tropfen!“)

Die indische Kultur ist das Produkt der entsetzlichsten Ausbeutung und Unterdrückung der niederen Kasten durch die höheren.

Der Boden der Südstaaten Amerikas wurde kultiviert — indem man ihn mit Schweiß, Blut und Knochen der Negersklaven düngte.

Den Boden Europas machten wiederum die Leiden der Sklaven und Leibeigenen urbar u. s. f.

In den entsetzlichsten Geburtswehen musste sich die Menschheit — in den Sklavenaufständen, Bauernkriegen und Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts — krümmen, um die Fruchthülle des Feudalsystems zu sprengen: damit der Kapitalismus geboren werde.

Diese neueste Kultur fußt wiederum auf der furchtbaren Ausbeutung, Unterdrückung und Verelendung der Millionen und Millionen von Proletariern.

Welche Verwüstungen in der Menschheit richten nicht die Kulturerrungenschaften der Technik an! — Jede Erfindung und Entdeckung fordert ihre Opfer! —

Wie oft werden Chemiker bei der Schaffung neuer Präparate durch deren Explosion zerschmettert oder durch Entwicklung giftiger Dämpfe getötet!

Zählt die Ingenieure, die Opfer ihres Berufes wurden, oder die Bakteriologen, die sich beim Studium durch Infizierung Siechtum und Tod holen!

Zählt alle die Opfer der Berufskrankheiten, der Tuberkulose, Phosphornekrose, Blei- und Quecksilbervergiftung usw.! — Zählt alle jene, die vom Gerüst stürzen, als Seeleute ertrinken, als Eisenbahner überfahren, in den Fabriken von den Maschinen zerrissen werden und in den Bergwerken durch Einsturz, schlagende Wetter u. a. umkommen!

Gedenket an Hunger und Elend von Witwen und Waisen dieser Opfer der Technik und Wissenschaft, an die Arbeitslosigkeit und andere soziale Schäden des Kapitalismus!

Die Rebellion der Opfer dieses Systems zeitigt wieder den ,.Klassenkampf“ mit neuen Qualen, neuen Leiden! — Um die Menschheit endlich durch Schaffung einer Zukunftsgesellschaft endgültig vom Leiden zu befreien?? — Man glaubt es! Aber das ist Unsinn!! Die Leiden nehmen nur eine andere Form an — und steigern sich!! -—

Glaubt ihr denn, alle bisherige Qual der Menschheit sei nur Zufall, nicht Vorsehung gewesen?!

0 nein! Die Leiden waren nur der Stimulus, welcher die Menschheit vorwärts trieb, zu neuem Schaffen, größeren Fortschritt, um den Leiden zu entfliehen! — Der Fortschritt brachte neue Leiden u. s. f.

„Das Leiden ist also der Kulturfaktor der Menschheit! — Sie von Leiden befreien, heißt: sie der Kultur berauben wollen!“

Kann man sich denn ein Leben vollkommener Befriedigung vorstellen?“

Nein! Ohne Qual müßten die Bedürfnisse erschlaffen, welche allein den Anreiz zum Fortschritt bilden! — Ohne Qual gibt es auch keine Genüsse. Denn alles kommt uns erst durch sein Gegenteil zum Bewußtsein.

„Uns von der Qual befreien, heißt: uns die Genüsse rauben. — Dann aber — haben wir kein Interesse mehr zu leben!“

„Kultur ist somit Vereinigung, Zwittergebilde von Lust und Schmerz, also: M a s o c h i s m u s!! — Der Fortschritt der Menschheit ist nur möglich durch das masochistische Kulturprinzip.“

0, grausam süße Philosophie Golgathas!! Ewig bleibst du das Moira und Kismet der Menschheit!!

Θ

Erschöpft ließ ich das Pamphlet sinken. Eine bleierne Schwere hatte sich bei den letzten Sätzen meiner bemächtigt. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen, ein Druck, als wolle mir die Schädeldecke platzen.

War ich bei den letzten Kapiteln noch der festen Ansicht, es handele sich bei dem Verfasser dieser Zeilen eindeutig um einen dem Wahnsinn Verfallenen, so musste ich doch nun eingestehen, einen Funken Wahrheit in dessen Ausführungen zu entdecken, freilich auf eine bizarre Weise verzerrt. Und doch! War nicht der Sadismus allenthalben um uns herum festzustellen? Und dessen Gegenteil, das willige Erleiden von Schmerz und Herabsetzung, Übervorteilung und Verletzung, ohne eine kraftvolle Motivation zur Gegenwehr ein charakteristischer Teil des braven angepassten Bürgers? Hinter dessen leidender Fassade die Bestie der Grausamkeit verborgen schlummerte?

Ich schrak auf, als ich glaubte, Stimmen vor meiner Zimmertür zu vernehmen. Flüstern und Raunen undeutlicher Worte. Ja, ich vermeinte sogar, meinen Namen ausgesprochen zu hören. Wer mochte dies sein und warum diese Heimlichkeit?

Zu meinem Schrecken bewegte sich plötzlich die Türklinke langsam nach unten. Mit einem Satz war ich auf und an der Tür.

„Wer da?“

Es blieb stille. Die Klinke schnappte wieder nach oben. Mit einem Ruck riss ich die Tür auf. Der Flur war leer! Mich schauderte. Unsicher wagte ich mich bis zum Treppenabsatz. Niemand war zu entdecken. Ich drehte mich um. Der abgetretene rote Läufer, welcher den Flur bedeckte, verlief knapp an meinem Zimmer sowie einer gegenüberliegenden Tür vorbei und endete wenige Meter später vor einer weiteren Tür an der Stirnseite des Flurs. Doch auch von dort war kein Laut zu vernehmen. Leise schlich ich mich zu dem gegenüberliegenden Raum und lauschte, das Ohr dicht an die Tür gepresst. Kein Laut. Die Tür erwies sich als verschlossen. Ebenso die Tür des rückwärtigen Zimmers. Kopfschüttelnd kehrte ich in meinen Raum zurück. War ich dem Wahn verfallen?

Da es von der hiesigen Kirche bereits neun schlug, beschloss ich, nun das Frühstück einzunehmen. Während ich mich fertig machte, betrachtete ich mich im nahezu blinden Spiegel, welcher über dem Waschtische angebracht, ein Zerrbild meiner Selbst zurückwarf. Tiefe Falten hatten sich in meine Stirn und meine Mundwinkel eingegraben. Mein Gott, welchen Anblick bot ich!

Eilig vollendete ich meine Morgentoilette, nicht ohne zu beschließen, mich heute neu einzukleiden. Meine Garderobe war durch die Beschränktheit meines Reisekoffers sehr dürftig. Für den Kongressbesuch, der Jahrestagung der hiesigen freudianischen Psychiatervereinigung, wäre eine weniger strapazierte Erscheinung vorteilhafter.

Ich fand den Speiseraum entgegen der Gewohnheit unvorbereitet. Mein Tisch war noch nicht eingedeckt, sogar der Stuhl befand sich verkehrt herum gedreht auf der Tischplatte abgestellt, so als habe die Wirtin gerade erst den Boden gereinigt.

Ich hüstelte vernehmlich, um mich bemerkbar zu machen. Als sich auch beim wiederholten Male nichts regte, rief ich nach der Wirtin. Die erschien plötzlich hinter mir und schlug sich vor Schreck an die Brust. „Sie hier? Mein Gott haben Sie mich erschrocken!“, erbleichte sie.

„Ich verstehe nicht“, stammelte ich. „Haben Sie mich denn nicht erwartet?“ Sie starrte mich kurz entgeistert an, dann fasste sie sich offenbar und beeilte sich meinen Tisch vorzubereiten.

„Doch, doch, natürlich. Ich dachte nur...“ Sie beendete ihren Satz nicht. „Weil doch der Herr meinte ....“ Wieder stockte sie, sichtlich erregt, derweil sich rote Flecken an ihrem Hals zeigten.

„Der Herr? Welcher Herr?“

Sie hantierte fahrig an der Tischdecke herum, so als wolle sie eine nicht vorhandene Falte glätten.

„Der Herr, der gestern Abend nach Ihnen fragte.“

„Wie ist das möglich?“, wunderte ich mich. „Ich meine hier niemanden Bekanntes getroffen und noch viel weniger jemanden meine Adresse gegeben zu haben.“

Sie schwieg, während sie mir mit einer Geste zu verstehen gab, mich zu setzen. „Das übliche Frühstück? Herr Herzberg?“

„Wie immer, natürlich, das Ei nicht zu hart. Wer war denn dieser Herr?“

Sie stockte in ihrer Bewegung. Scheinbar widerwillig antwortete sie mir. „Er fragte nach Ihnen. Ich sagte, sie seien soeben zu Bett gegangen. Da verabschiedete er sich.“

„Und er hat nichts hinterlassen? Keine Andeutung? Keine Nachricht?“

Sie schüttelte den Kopf und beäugte mich misstrauisch. „Wissen Sie, ich möchte keinen Ärger, wenn Sie verstehen.“

Nun begann ich langsam ungeduldig zu werden. „Nein, ich verstehe nicht. Würden Sie die Güte haben, mich ins Bild zu setzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir hier jemand aufwarten könnte, da ich bislang noch keine Bekanntschaften geschlossen habe. Der Fall ist mir höchst suspekt.“

„So, ja. Ja, sehr merkwürdig! Bitte entschuldigen Sie mich, ich werde Ihnen das Frühstück bereiten. Sie bleiben doch noch?“

„Wie verabredet, bis nach dem Kongress. Vielleicht ein zwei Tage länger“, bestätigte ich, misslaunig über die zähe Konversation. Mein Blick blieb am Kalenderblatt hängen. Es zeigte den 11. September 1927. Mich schwindelte. Hatte nicht gestern noch ein ganz anderes Datum dort gestanden?

Möglicherweise irrte ich mich auch, ich hatte schlecht geschlafen. Nach dem Kongress sollte ich einige Tage nach Bad Orb fahren, um ein wenig zu entspannen. Doch welches Jahr schrieben wir eigentlich? So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht besinnen. Unmöglich konnte ich die Wirtin nach dem hiesigen Jahr fragen, ohne mir eine Blöße geben zu müssen. Ich beschloss die unangenehme Situation durch Gleichgültigkeit zu überspielen. So beendete ich mein Frühstück schweigend, ohne das Thema nochmals aufzugreifen und bemängelte auch nicht das Fehlen des Eies und den Geschmack des offenbar wieder aufgewärmten Kaffees.

Entgegen meines Vorsatzes, sofort eine Droschke zu rufen, um mich in die Innenstadt bringen zu lassen, begab ich mich erschöpft wieder auf mein Zimmer, wo ich die Lektüre dieses merkwürdigen Berichtes wieder aufnahm, da mich die vergilbten Blätter magisch anzuziehen schienen.

VII

,,Immer mehr, immer Bessere eurer Art sollen

zugrunde gehen, denn ihr sollt es immer

schlimmer haben.

So allein, so allein wächst der Mensch in die Höhe.“

(Nietzsche: ,,Zarathustra“, II, p. 126.)

Herrlicher Nietzsche!

Jetzt erst erfasse ich deinen ,,Uebermenschen“! — Nun teile ich deinen Hass des Alltäglichen und Mittelmäßigen!

Hinweg mit der spießbürgerlichen Feigheit: ,,Nur ja nicht über die Schnur hauen! — Alles mit Maß und Ziel! — Ja nicht übertreiben und ins Extrem verfallen!“ —

Nein! — Nur mutig hinein ins Extreme! — Nur Faulheit, Bequemlichkeit und Feigheit scheut sich gelegentlich vor einem Dampfbad mit darauffolgender kalter Dusche!

Wie aber der Körper durch dieses „laisser faire et laisser passer“ verweichlicht, widerstandsunfähig wird, Stoffe ansammelt, die überflüssig und darum schädlich sind, so muss auch die Menschheit, welche dieser Devise folgt, durch die Spießbürgerkrankheit, genannt ,,Mittelmäßigkeit“, zugrunde gehen.

Nur hinein mit der Menschheit ins Dampfbad — und dann unter die kalte Dusche! Damit sie gestählt, verjüngt und gekräftigt werde! — Sich der überflüssigen Stoffe entledige!

,,Macht es den Menschen nur immer schlimmer und härter! Dann wird schon die Reaktion eintreten und sie vorwärts treiben!“

Nach dieser Devise begann ich von nun ab zu handeln. — Den Schmerz verstärken, damit die Lust größer sei!

Eine unendliche Liebe zur Menschheit ergriff mich, seitdem ich ihre Bestimmung erkannte, die mit meiner Individualität so seltsam harmonierte. — Ich wurde gleichsam die Menschheit selber; fühlte den Herzschlag von Millionen in mir. Die widerstrebendsten Gefühle vereinigten sich in meiner Person. Ich fühlte ebenso als Kapitalist, wie als Proletarier; als orthodoxer Christ und Katholik ebenso, wie als Jude oder Atheist; als Mann und Weib zugleich.

Alle Leiden und Freuden der Menschheit empfand ich in mir und vertiefte mich in dieselben.

Einmal noch wollte ich sie alle im Geiste durchkosten. — Ich studierte die Weltgeschichte; aber mit welchem Empfinden! — Ich blieb nicht bei den Tatsachen stehen, sondern versetzte mich in die Personen der Handelnden; vergegenwärtigte mir all das Massenelend und die Massenpsychosen.

Welch maniakalischen Schmerz bereitete mir das alles! Wie begann ich die herrliche Menschheit zu lieben, die all das erduldet!

Nun war der Augenblick gekommen! Jetzt nur rasch mitten hinein in die Extreme des Lebens! — Untertauchen in all den Leiden der Millionen und sie verzehn-, verhundert-, vertausendfachen! Das Wollustgefühl trinken, mit dem sie sich im Paroxismus der Raserei zerfleischen, und dann — so recht Mensch sein!!

Θ

Verärgert warf ich das Manuskript von mir. Welch perverser Geist sprach aus diesen Zeilen! Unfassbar! Ich hatte genug davon und verstaute es in meiner Nachttischschublade. Nun aber drängte es mich doch, meine tägliche Visite in der Stadt zu machen, verlangte es mich nach frischer Luft, nach Leben, da mir der abgestandene Geruch meiner Kammer unerträglich wurde. Ja, es schien, als habe sich der Verwesungsgeruch einer Grabkammer durch die Ritzen und Spalten meiner Zimmerecken seinen Weg hinein gesucht. Ich riss das Fenster auf, um mit einem tiefen Atemzug den Druck auf meiner Brust zu beseitigen, der schwer auf mir lastete. Doch auch von draußen kam keine Frische. Im Gegenteil. Die Luft roch modrig und feucht. Ich schauderte. Schnell schlüpfte ich in meine Beinkleider und meinen Rock, ergriff Gehstock und Hut und stürzte aus dem Zimmer, eilig die Treppe hinab und aus dem Haus.

Noch auf der Schwelle stockte ich. War das die Straße, in der ich wohnte? Bräunlich rauchige Luft erfüllte die Straßen und trug den Geruch von verbranntem Holz und Gummi mit sich. Weit und breit war keine Droschke oder Taxi zu entdecken. Selbst der Wendeplatz, an dem üblicherweise zwei oder drei der Gefährte auf Fahrgäste warteten, war verweist.

Unsicher blickte ich mich um, trat einen Schritt aus dem Haus und warf sogar einen Blick auf die Pension zurück, unsicher ob ich am richtigen Ort sei. Doch zweifellos träumte ich nicht, alles war so wie zuvor. Nun denn, ich entschloss mich, meine Verwirrung zu ignorieren und würde mich nun zu Fuß aufmachen müssen. Ein kleiner Spaziergang würde mir gut tun. Zweifellos war ich überreizt. Kaum war ich wenige Meter gegangen, da hörte ich hinter mir eilige Schritte. Erstaunt schaute ich mich um. Ein Mann, am rechten Arme blutend, hastete so nah an mir vorbei, dass ich nur durch einen schnellen Seitwärtsschritt einen Zusammenstoß vermeiden konnte. Kaum war er in einer Seitengasse vor mir verschwunden, da kamen auch bereits in höchster Eile einige Polizisten hinterher, die Pistolen schussbereit in den Händen.

Sie hielten unvermittelt neben mir an und betrachteten mich misstrauisch.

„Ihren Ausweis, mein Herr!“, forderte einer der Polizisten in barschen Ton.

„Entschuldigen Sie, meine Herren, was geht hier vor?“, erkundigte ich mich erstaunt.

„Ihren Ausweis, wenn ich bitten darf!“, wiederholte der Polizist, dessen stechender Blick mich frösteln ließen.

„Einen Moment sofort, wissen Sie, ich war gerade auf dem Weg zu Stadt.“

„Wird‘s bald?“ schnauzte der Mann mich an.

Angesichts der nun auf mich gerichteten Pistolenmündungen der drei anderen Polizisten beeilte ich mich, mit zitternden Händen meine Brieftasche aus der Manteltasche zu fabrizieren, was mir nur umständlich gelang und reichte ihm das geforderte Papier.

Er studierte es beflissen, immer wieder mein Konterfei mit meinem Gesicht vergleichend, schließlich nickte er und reichte es mir zurück. Die Pistolenmündungen senkten sich zu meiner Beruhigung nach unten.

„Sie sind nicht von hier?“

„Entschuldigen Sie, ich bin Psychiater und besuche den hiesigen Kongress.“

„Ein Fremder. Soso. Psychiater, was?“

„Ja, ganz recht, ich bin gerade auf dem Weg ins Zentrum, als ein Mann mit zerschossenem Arm an mir vorbeirannte. Was geschieht denn hier?“

„Aufwiegler und Volksverhetzer, das!“, erwiderte er kurz angebunden, während er, sich schon wieder in Bewegung setzend, den anderen Polizisten einen Wink gab, ihm weiter zu folgen.

„Besser, Sie sind vorsichtig. Wir haben zur Zeit viel Ärger mit Fremden. Da kommt man schon einmal in die Schusslinie“, wandte er sich noch mal kurz an mich, bevor die Gruppe weiter eilte. Kurz nachdem auch sie in der Seitengasse verschwunden waren, hörte ich zwei, drei Schüsse. Erschrocken wollte ich mich bereits wieder zurück zur Pension wenden, als ich einen schlanken, gut gekleideten Herrn mit Melone aus einer Türöffnung zu mir herüberblicken und mir zunicken sah. Er trat ruhig aus der Tür, streifte sich seine weißen Handschuhe gemächlich über, blickte sich zwei-dreimal nach links und nach rechts um und da alles ruhig blieb, kam er gemessenen Schrittes zu mir herüber. „Gestatten“, lüftete er den Hut, „Weizman, Josef Weizman. Unruhige Zeiten sind das, nicht wahr?“

„Fürwahr“, gab ich zurück. „Herzberg, sehr angenehm. Ich bin drauf und dran wieder abzureisen, so erschrocken bin ich.“

Er winkte ab. „Bleiben Sie. Sie wollen ins Zentrum, wie ich hörte? Gestatten Sie mir, dass ich Sie begleite, da ich dasselbe Ansinnen habe. Ich bin geschäftlich hier und habe noch einige Erledigungen in der Stadt.“

„Sehr gerne“, gab ich zurück, erleichtert einen Gesprächspartner zu finden, der mir meine Sicherheit wiedergeben konnte.

„Sind Sie schon lange hier?“, erkundigte er sich, während wir einen weiteren verwaisten Taxistand passierten.

„Nein, nein, erst seit einigen Tagen. Ich pflege jedoch öfters zu kommen und gastiere dann immer in der Pension Zwickerl“, antwortete ich, mich verwundert umschauend. Obwohl ich den Weg in die Stadt schon häufiger genommen hatte, kam er mir heute fremdartig vor. Es bewegte sich fast niemand auf der Straße. Auch der Autoverkehr, der ansonsten in dieser Gegend zwar gering, jedoch durchaus vorhanden war, schien völlig zum Erliegen gekommen sein. „Doch ist mir die Stadt heute eigenartig fremd. Noch gestern empfand ich das Straßenbild ganz normal und jetzt das! Was geschieht hier?“

„Die Dinge ändern sich manchmal recht schnell“, erwiderte er lakonisch, „und doch…!“ Er blieb einen Moment stehen, fixierte mich mit seinen fast grauen Augen, während seine Lippen einen leicht abschätzigen Ausdruck annahmen, „und doch wiederholen sie sich mit einer nahezu uhrwerkartigen Gesetzmäßigkeit. Kommen Sie!“ Er packte mich sanft am Ellenbogen. „Es ist nicht ratsam, zu lange zu verweilen. Wohin genau wollen Sie denn?“

Noch über seine letzten Worte nachsinnend, deren Sinn sich mir nicht ganz erschließen wollte, zögerte ich ein wenig mit der Antwort. Doch da sein Druck an meinem Ellenbogen eine durchaus gut gemeinte, wenn auch energische Aufforderung andeutete, gab ich nach, um ihm zu folgen. „Eigentlich wollte ich mich für heute Abend neu einkleiden.“

„Ach, da gehen Sie am besten in den Wiener Graben. Ein Stück kann ich Sie dorthin mitnehmen.“

„Vielen Dank, recht freundlich. Ich fühle mich im Moment doch recht unsicher, muss ich gestehen. Da schauen sie!“

Kurz vor uns versorgten einige Helfer mit einer Rotkreuzbinde am Arm einen Gestrauchelten oder Verletzten und nicht weit davon entfernt schienen Angehörige der Heilsarmee einigen wenige Obdachlose oder zerlumpte Gestalten ein Essen zu reichen. Die ersten Menschen, die wir zu Gesicht bekamen, wo gestern noch der lebhafteste Publikumsverkehr vorzufinden war, denn wir näherten uns bereits dem Zentrum. Der beißende Geruch verbrannten Gummis zog durch die Luft und Rußpartikel regneten auf uns herab.

„Ekelhaft!“, rümpfte er die Nase. „Und töricht!“

„Ich verstehe nicht“, wunderte ich mich, denn den Gestank konnte er wohl nicht meinen.

„Finden Sie nicht?“, wandte er sich an mich. „Diese Kreaturen meinen mit ihrer Hilfsbereitschaft ein hehres Werk zu tun, dabei sorgen sie nur dafür, dass das Elend sich verlängert.“

Ich blieb stehen und schaute ihn erstaunt an. „Können Sie das erklären? Wie kann Hilfsbereitschaft schädlich sein? So in etwa verstehe ich Ihre Meinung, nicht wahr?“

„Bleiben wir nicht stehen!“, drängte er mich weiter ohne mir eine Antwort zu geben.

„Sehen Sie! Was Ihnen wie ein Gebot der Menschlichkeit erscheinen mag, ist nichts weiter als törichte Ignoranz. Denn was, frage ich Sie, was ist die Folge davon?“

„Ich bitte Sie, was anderes als das Elend in Not geratener Kreaturen zu lindern sollte höchst lobenswert sein? Ich sehe darin nichts Törichtes.“

Er blieb kurz stehen, schaute mich mitleidig an, und zog mich sofort weiter. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet, so gestatten Sie, dass ich selbst Ihnen die Antwort gebe. Glauben Sie, dass diesen Kreaturen damit wirklich geholfen ist, wenn ihnen jemand die Hand reicht? Im Gegenteil! Dieser Akt der Menschlichkeit, wie Sie es nennen, führt nur dazu, dass sich eben gar nichts ändert. Die erbärmliche, bemitleidenswerte, Hilfe heischende Kreatur bleibt was sie ist, erbärmlich. Denn sie wird am nächsten Tag wieder um Hilfe winseln. Nichts wird sich ändern, reich bleibt reich und arm bleibt arm. Doch jede Handreichung in der Not stabilisiert genau diesen Zustand.“

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9783750227989
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