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19

Als Anna in das Gemach trat, saß Dolly in dem kleinen Gastzimmer mit ihrem weißhaarigen, dicken Knaben, der bereits jetzt dem Vater ähnlich zu werden begann, und überhörte ihm seine französische Lektion. Der Knabe las, und drehte dabei mit der Hand an einem Knopfe seiner Bluse, im Bemühen, denselben abzureißen.

Die Mutter hatte ihm das Händchen bereits mehrmals von dem lose sitzenden Knopf entfernt, aber die kleine runde Faust fuhr immer wieder nach demselben. Endlich riß die Mutter selbst den Knopf ab und steckte ihn in ihre Tasche.

„Laß deine Hand in Ruhe, Grischa,“ sagte sie und beschäftigte sich wieder mit einer Decke, einer Arbeit die sie schon seit langem förderte, und welche sie stets in schweren Zeiten vornahm. Auch jetzt häkelte sie aufgeregt, den Finger ausstreckend und die Maschen zählend.

Obwohl sie gestern befohlen hatte, ihrem Manne zu sagen, sie werde sich nicht darum kümmern, ob seine Schwester ankomme oder nicht, hatte sie dennoch alles zu deren Empfang herrichten lassen und erwartete nun die Schwägerin voll Aufregung.

Dolly war darniedergedrückt von ihrem Leid und ganz in dasselbe versunken. Gleichwohl aber sagte sie sich, daß ihre Schwägerin Anna die Gattin einer der einflußreichsten Persönlichkeiten Petersburgs war, und daselbst die grande dame spielte. Dank diesem Umstande, hatte sie die dem Gatten gegebene Versicherung nicht aufrecht erhalten, das heißt, sie hatte nicht vergessen, daß ihre Schwägerin ankommen werde.

„Nun, Anna trägt ja auch an nichts schuld,“ dachte Dolly bei sich, „ich weiß von ihr nichts, als Gutes, und ich selbst habe von ihr nur Liebes und Gutes erfahren.“

Allerdings, soweit sie sich der Eindrücke erinnern konnte, welche sie bei den Karenin in Petersburg erhalten, konnte sie das Haus derselben nicht als recht angenehm bezeichnen; es lag etwas Falsches in der Gesamtheit des Familienlebens daselbst.

„Aber weshalb sollte ich sie denn nicht empfangen? Wenn sie es sich nur nicht etwa einfallen lassen wird, mich etwa zu trösten,“ dachte Dolly. „Alle Tröstungen, alle Überredungsgründe, alle Lehren der christlichen Nachsicht und Milde, all das habe ich schon tausendmal überdacht, aber es hielt nichts davon Stich.“

Die ganze letzte Zeit war Dolly allein mit ihren Kindern gewesen. Von ihrem Kummer wollte sie nicht sprechen, und mit diesem Kummer in der Seele konnte sie nicht von Nebensächlichem reden. Sie wußte, daß sie auf die eine oder die andere Weise Anna alles erzählen würde, und bald freute sie da der Gedanke daran, wie sie alles heruntersprechen wollte, bald aber brachte sie auch der Gedanke an die Notwendigkeit in Wut, mit jener von ihrer Erniedrigung sprechen zu müssen, seiner Schwester, und deren schon bereitgehaltene Phrasen beim Zureden und Trösten mit anhören zu müssen.

Nach der Uhr blickend, erwartete sie sie von Minute zu Minute, und übersah dabei doch gerade diejenige, in welcher Anna Karenina ankam, so daß sie nicht einmal das Glöckchen vernahm.

Erst als sie das Rauschen eines Gewandes und leichte Schritte schon in der Thür vernahm, blickte sie auf und auf ihren angespannten Zügen malte sich unwillkürlich nicht Freude, sondern Erstaunen.

Sie erhob sich und umarmte die Schwägerin.

„Wie, schon da?“ sagte sie unter Küssen.

„Dolly, wie freue ich mich, dich zu sehen!“

„Auch ich freue mich,“ erwiderte diese mit schwachem Lächeln und sich bemühend, an dem Gesichtsausdruck Annas zu erkennen, ob diese bereits wisse.

„Wahrscheinlich ist sie schon unterrichtet,“ dachte sie, einen Schimmer von Beileid auf Annas Zügen gewahrend.

„Nun, komme denn, ich will dich in dein Zimmer führen,“ fuhr sie fort, im Bemühen, die Minute der Aussprache so weit als möglich hinauszuschieben.

„Ist das Grischa? Mein Gott, wie groß er geworden ist!“ rief Anna aus, und küßte den Knaben, ohne das Auge von Dolly wegzuwenden; dann blieb sie stehen und errötete.

„Aber nein, jetzt wollen wir nirgendshin gehen!“

Sie nahm ihr Tuch ab, ihren Hut, und verwickelte diesen mit dem Gewirr ihrer schwarzen überall sich hervorwindenden Haare, befreite denselben aber daraus, indem sie mit dem Kopfe schwingende Bewegungen machte.

„O, wie du glänzest von Glück und Gesundheit,“ sagte Dolly fast neidisch.

„Ich?“ antwortete Anna. „Mein Gott, Tanja! Altersgenossin meines Sergey,“ fügte sie hinzu, sich an das eintretende kleine Töchterchen Dollys wendend. Sie nahm es auf ihre Arme und küßte es – „ein reizendes Kind, reizend! Zeige mir doch alle deine Kinder!“

Sie nannte sie sämtlich und wußte nicht nur ihre Namen noch, sondern auch die Jahre und Monate der Geburt der Kinder, ihre Sinnesarten, ihre Krankheiten und Dolly fühlte sich wider ihren Willen bezaubert hiervon.

„Nun komm, wir wollen zu ihnen gehen,“ sagte sie, „Wasja schläft jetzt, schade.“

Nachdem beide Frauen die Kinder gemustert hatten, setzten sie sich, nunmehr allein, im Salon zum Kaffee. Anna beschäftigte sich mit dem Präsentierbrett, und schob es dann von sich.

„Dolly; er hat mit mir gesprochen.“

Dolly blickte kühl auf Anna. Sie erwartete jetzt erheuchelte Beileidsbezeugungen, aber Anna äußerte nichts der Art.

„Dolly, meine Liebe,“ sagte sie, „ich will dir gegenüber nicht für ihn sprechen, dich auch nicht trösten; das ist unmöglich. Aber, gutes Herz, mir thust du offen herausgesagt, leid; von ganzer Seele leid!“

Unter den dichten Wimpern ihrer blitzenden Augen erschienen plötzlich Thränen. Sie setzte sich näher zu ihrer Schwägerin, ergriff deren Hand mit ihrer energischen kleinen Rechten und Dolly widerstrebte nicht, allein ihre Züge hatten nichts von dem kalten Ausdruck verloren und sie sagte:

„Trösten kann mich niemand. Alles ist verloren für mich nach solchen Geschehnissen; alles ist dahin!“

Sie hatte dies kaum gesprochen, als der Ausdruck ihres Gesichts weicher wurde. Anna hob die magere, schmächtige Hand Dollys zu sich empor, küßte sie und antwortete:

„Aber, Dolly, was soll nun geschehen, was soll geschehen? Wie soll man am besten handeln in dieser furchtbaren Lage? – Hierüber gilt es jetzt nachzudenken!“

„Es ist alles schon gethan, nichts bleibt mehr zu thun,“ antwortete Dolly, „am Übelsten ist, verstehe mich recht, daß ich ihn nicht verlassen kann; denn es sind Kinder da; ich bin gebunden. Mit ihm leben aber kann ich nicht mehr; es ist mir eine Qual schon, ihn zu sehen.“

„Dolly, mein Täubchen, er sprach zwar schon mit mir, aber ich möchte nun von dir hören; erzähle mir alles.“

Dolly blickte fragend Anna an, in deren Gesicht ungeheuchelte Teilnahme und Liebe sichtbar waren.

„Wohlan denn,“ sagte sie plötzlich. „Doch ich will von Anfang an erzählen. Du weißt ja, wie ich geheiratet habe. Ich war mit meiner französischen Maman-Erziehung nicht nur unschuldig, sondern vielmehr dumm geblieben. Ich wußte nichts, gar nichts. Man sagt wohl, daß die Männer ihren Frauen von ihrem früheren Leben erzählten, aber Stefan – Stefan Arkadjewitsch – hat mir nichts erzählt. Du wirst das nicht glauben, aber bis heute habe ich geglaubt, daß ich das einzige Weib sei, welches er erkannt hat. So habe ich acht Jahre verlebt; stelle dir vor, daß ich nicht nur nie eine Treulosigkeit bei ihm geargwöhnt habe, nein, daß ich sie für unmöglich gehalten habe; und nun, stelle dir vor, mit solchen Auffassungen mußte ich plötzlich das ganze Verhängnis, diese ganze Niedrigkeit kennen lernen.

Verstehst du mich auch recht? Was es heißt, ganz im Vollgefühl seines Glückes zu sein, und mit einem Schlage,“ – Dolly fuhr fort, nur mit Mühe das Schluchzen unterdrückend, „jenen Brief erhalten zu müssen. Es war sein Brief an seine Geliebte, meine Gouvernante. Nein, dies ist zu entsetzlich!“

Schnell zog sie ihr Taschentuch hervor und bedeckte mit ihm ihr Antlitz. „Ich begreife noch, daß er verführt werden konnte,“ fuhr sie fort, nachdem sie eine Weile geschwiegen, „aber hinterlistig, schlau mich zu betrügen, und mit wem zusammen? Daß er fortfahren sollte, mein Gatte zu sein und zugleich der ihrige – das ist furchtbar! Aber du kannst das nicht verstehen!“

„O doch, doch, ich verstehe! Ich begreife, gute Dolly, ich begreife,“ antwortete Anna, ihr die Hand drückend.

„Und denkst du etwa, er könnte sich die ganze Entsetzlichkeit meiner Lage klar machen?“ fuhr Dolly fort, „keineswegs! Er ist glücklich und zufrieden!“

„O nein!“ unterbrach sie Anna schnell, „er ist in einer kläglichen Stimmung, er wird von Reue bedrückt!“

„Ist er der Reue fähig?“ fiel Dolly ein, der Schwägerin gespannt ins Gesicht schauend.

„Ja. Ich kenne ihn. Ich habe nicht ohne Mitleid auf ihn blicken können. Wir beide kennen ihn. Er ist gut, aber auch stolz, und jetzt fühlt er sich erniedrigt. Die Hauptsache, welche mich rührte,“ Anna erriet diese Hauptsache, welche Dolly rühren konnte, „ist die, daß ihn zweierlei quält; einmal empfindet er Scham vor seinen Kindern, und dann hat er, der dich liebt – ja, ja, der dich mehr liebt als das Leben“ – ließ Anna Dolly, die sie unterbrechen wollte, nicht zu Worte kommen, – „dir so weh gethan, dich so tief darniedergeschlagen. ‚Nein, nein, sie vergiebt nicht!‘ ist sein stetes Wort.“

Dolly blickte in Gedanken versunken an der Schwägerin vorüber und lauschte auf deren Worte.

„Ja, ich weiß, daß seine Lage schrecklich ist; der Schuldige fühlt viel tiefer, als der Unschuldige,“ sagte sie, „wenn er empfindet, daß durch seine Schuld alles Unglück hereingebrochen ist. Aber wie sollte ich ihm verzeihen, wiederum sein Weib werden können – nach jenem Geschöpf? Jetzt noch mit ihm zu leben, wäre für mich eine Qual, schon deshalb, weil mir die Liebe wertvoll ist, die ich ihm früher geweiht.“

Schluchzen unterbrach ihre Stimme.

Gleichsam vorsätzlich indessen begann sie jedesmal, wenn die Versöhnlichkeit sie zu überkommen drohte, wiederum von dem zu sprechen, was sie vor allem so erbittert hatte.

„Sie ist freilich noch jung, noch schön,“ fuhr sie fort, „du verstehst, Anna, daß meine Jugend, meine Schönheit mir von einem Manne genommen worden ist; von ihm und seinen Kindern! Ich diente ihm und ging in seinem Dienste auf, aber jetzt ist ihm – das versteht sich wohl – ein frisches, junges Wesen lieber. Sie mögen wohl beide von mir gesprochen, oder, was noch schlimmer wäre, geschwiegen haben – verstehst du?“

Ihr Auge loderte wiederum haßerfüllt empor.

„Und nach alledem will er wieder mit mir reden. Wie, soll ich ihm denn noch glauben? Niemals! Nein; es ist alles dahin, alles, was für mich ein Trost, ein Lohn für meine Mühen und Qualen hätte sein können. Du verstehst mich doch? Soeben habe ich Grischa unterrichtet. Früher war mir das eine Freude, jetzt ist es eine Marter. Wofür mühe ich mich, was quäle ich mich ab? Wozu sind die Kinder da? – Es ist furchtbar, daß plötzlich meine Seele sich gewendet hat, und anstatt Liebe und Zärtlichkeit, jetzt nur noch Wut, ja Wut darinnen wohnt. Getötet würde ich ihn haben“ —

„Herzchen, Dolly, ich verstehe dich, aber martere dich nicht selbst; du bist so beleidigt, so aufgeregt, daß du manches in falschem Lichte siehst!“

Dolly verstummte, zwei Minuten verstrichen in lautloser Stille.

„Was soll ich thun, denke nach, Dolly, hilf mir. Ich habe alles schon mir überlegt, und sehe keinen Ausweg mehr.“

Anna vermochte nichts zu denken, aber ihr Herz antwortete auf jedes Wort, auf jeden Ausdruck der Züge ihrer Schwägerin.

„Ich kann nur Eines sagen,“ begann sie, „ich bin seine Schwester und kenne seinen Charakter; seine Fähigkeit, alles zu vergessen,“ – sie machte eine Geste vor ihr Stirn – „diese Fähigkeit des vollständigen Sichselbstverlierens, dabei aber auch eines wahrhaften Empfindens von Reue. Er glaubt kaum und begreift nicht, wie er das hat thun können, was er gethan hat.“ —

„O nein! Er versteht es wohl, er versteht es wohl!“ fiel ihr Dolly in die Rede, „aber ich – du vergißt mich ja ganz – ist mir etwa leichter?“

„Warte doch! Als er mit mir sprach – ich gestehe es – begriff ich noch nicht die ganze Entsetzlichkeit deiner Lage. Ich sah nur ihn allein, und daß die Familie zerstört sei; er that mir leid, aber nun, nachdem ich, selbst ein Weib, mit dir gesprochen habe, sehe ich die Sache mit anderem Auge an. Ich sehe deine Leiden und wie leid du mir thust, das kann ich dir nicht schildern! Dolly, mein liebes Herz, ich verstehe deine Leiden von Grund aus – nur eines nicht! Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wie viel Liebe zu ihm noch in deiner Seele wohnt. Du mußt es wissen, wie viel noch davon vorhanden ist zu der Möglichkeit, daß ihm verziehen würde! Wenn du noch Liebe hast, verzeihe ihm!“

„Nein,“ antwortete Dolly, allein Anna unterbrach sie, ihr wiederum die Rechte küssend.

„Ich kenne besser die Welt als du,“ sagte sie, „ich kenne diese Männer, die wie Stefan sind, und weiß, wie sie auf derartige Affairen schauen. Du sagtest, daß er mit ihr über dich gesprochen hätte. Dies ist nicht der Fall gewesen. Diese Art von Männern sündigen mit Treulosigkeit, aber ihr häuslicher Herd, ihr Weib – das bleibt für sie ein Heiligtum! Jene Weiber aber sind für sie nur ein Gegenstand der Mißachtung und sie können die Familie nicht stören; die Männer ziehen eine Art unüberschreitbarer Grenze zwischen ihrer Familie und jenen Geschöpfen. Ich verstehe dies nicht so ganz, aber es ist an dem!“

„Aber er hat sie doch geküßt“ —

„Dolly, ich bitte dich, mein Herzchen. Ich habe Stefan gesehen, als er in dich verliebt war. Ich entsinne mich der Zeit, als er zu mir kam und Thränen vergoß, wenn er von dir sprach; welch eine Poesie, welch hohe Erscheinung warst du da für ihn! Ich weiß es, daß je länger er mit dir gelebt hat, du ihm um so größer geworden bist. Wir haben wohl bisweilen selbst über ihn gelacht, wenn er bei jeder Gelegenheit äußerte, Dolly sei ein bewundernswürdiges Weib. Du bist für ihn stets eine Gottheit gewesen und bist es geblieben, jene Ausschweifung aber – von ihr weiß seine Seele nichts“ —

„Aber wie, wenn sie sich wiederholte?“

„Das kann sie nicht, so, wie ich zu urteilen weiß.“

„Also du würdest ihm vergeben?“

„Ich weiß nicht; denn ich kann nicht urteilen. Aber doch, o ja, ich kann,“ fuhr sie nach einigem Nachdenken fort, während dessen sie die Situation bei sich erwogen und innerlich abgeschätzt hatte: „Ja wohl, ich könnte es, ich könnte es. Ja, ich würde vergeben. Ich würde nicht zu streng sein und verzeihen. Und ich würde so verzeihen, als ob jene Sünde gar nicht begangen worden wäre, gar nicht existierte.“

„Natürlich,“ unterbrach Dolly sie schnell, gleich als spräche sie etwas aus, das sie schon mehr als einmal erwogen hätte, „sonst wäre es ja keine Verzeihung. Wenn man einmal vergeben soll, so muß man es ganz thun, ganz. Indessen komm mit, ich will dich jetzt auf dein Zimmer führen,“ sagte sie, sich erhebend und auf dem Wege Anna umfassend.

„Meine Liebe, wie froh bin ich, daß du gekommen bist. Mir ist jetzt leichter, bei weitem leichter geworden.“

20

Den ganzen Tag verbrachte Anna zu Hause, das heißt, bei den Oblonskiy. Sie empfing niemanden, obwohl schon mehrere ihrer Bekannten, die von ihrer Ankunft Kunde erhalten hatten, kamen, um sie bereits am nämlichen Tage zu besuchen.

Anna verbrachte den ganzen Morgen mit Dolly und den Kindern. Sie schrieb nur eine kurze Mitteilung an ihren Bruder, daß er jedenfalls daheim zu Mittag speisen möchte. „Komm, Gott hat geholfen!“ schrieb sie ihm.

Oblonskiy speiste denn auch daheim; das Gespräch drehte sich um Allgemeinheiten, sein Weib sprach mit ihm, indem sie ihn wieder mit du anredete, was vorher nicht der Fall gewesen war.

In dem Verhältnis des Gatten zu der Gattin herrschte noch die nämliche Entfremdung, aber es war doch schon keine Rede mehr von einer Trennung, und Stefan Arkadjewitsch erkannte, daß die Möglichkeit einer Auseinandersetzung und Aussöhnung jetzt vorhanden sei.

Sogleich nach dem Essen erschien Kity. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur sehr entfernt, und kam jetzt zu der Schwester nicht ohne die Besorgnis darüber, wie sie von dieser Petersburger Weltdame aufgenommen werden möchte, von der man allgemein so entzückt war. Sie hatte der Anna Arkadjewna indessen gefallen – dies erkannte sie sofort.

Anna interessierte sich augenscheinlich für Kitys Schönheit und Jugend und kaum war Kity selbst zur Besinnung gekommen, da fühlte sie sich nicht nur schon unter deren Einfluß, sie fühlte sich vielmehr verliebt in Anna, wie überhaupt die jungen Mädchen sehr geneigt sind, sich in verheiratete und ältere Damen zu verlieben.

Anna ähnelte durchaus nicht einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Knaben; sie hätte eher einem zwanzigjährigen Mädchen geglichen nach der Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen, nach der Frische und der Beweglichkeit, die auf ihren Mienen lag, und die bald in einem Lächeln, bald in ihrem Blicke zum Ausdruck kam, wenn sie nicht gerade ernst dreinschaute. Bisweilen war es auch ein trauernder Ausdruck ihrer Augen, welcher Kity überraschte und anzog. Diese empfand, daß Anna vollständig offen sei und nichts verberge, aber sie empfand auch, daß in ihr eine andere höhere Welt lebe voll Interessen, die ihr selbst unzugänglich waren, und eine in sich abgeschlossene, poetische Natur besaßen.

Nach dem Essen, als Dolly nach ihrem Zimmer gegangen war, erhob sich Anna schnell und trat zu ihrem Bruder, der eine Cigarre rauchte.

„Stefan,“ hub sie an, schelmisch blinzelnd und ihn bekreuzend, mit den Augen nach der Thür winkend. „Gehe jetzt und möge dir Gott beistehen.“

Er legte die Cigarre fort, Anna verstehend, und ging zur Thür hinaus.

Als Stefan Arkadjewitsch verschwunden war, wandte sich Anna nach dem Diwan, auf welchem sie sich, von den Kindern umringt niederließ. War es, weil die Kinder gesehen hatten, daß Mama gut mit Tante war, oder war es, daß sie selbst an ihr einen eigentümlichen Reiz verspürten; genug, die beiden ältesten, und nach ihnen die jüngeren, hatten sich wie das gewöhnlich bei Kindern der Fall zu sein pflegt, schon bis zur Mittagstafel hin an die neue Tante gemacht und wichen nicht von ihrer Seite.

Es hatte sich eine Art Spiel unter ihnen arrangiert, welches darin bestand, daß man sich so eng als möglich neben die Tante zu setzen suchte, sich an sie anschmiegte, ihre kleine Hand festhielt, sie küßte, mit ihrem Ringe spielte oder doch wenigstens die Fransen ihres Kleides zu berühren strebte.

„Jetzt wollen wir wieder sitzen, wie vorher,“ sagte Anna Arkadjewna, sich auf ihren Platz niederlassend.

Grischa steckte wiederum seinen Kopf unter ihre Hand, schmiegte sich in die Falten ihres Kleides und strahlte vor Stolz und Glück.

„Also jetzt hat man hier wohl einen Ball?“ wandte sich Anna an Kity.

„In nächster Woche. Es wird ein schöner Ball werden; einer von jenen auf denen es stets recht lustig ist.“

„Giebt es denn solche, auf denen es stets lustig ist?“ frug Anna mit feinem Lächeln.

„Die Frage ist eigentümlich. Gewiß! Bei den Bobwischtscheff ist es stets lustig, bei den Nikitin auch, allerdings bei den Meschkowy ist es immer langweilig. Habt Ihr dies denn noch nicht bemerkt?“

„Nein, mein Kind, für mich giebt es keine solchen Bälle mehr, auf denen es stets lustig ist,“ antwortete Anna; Kity gewahrte in ihren Augen wieder jene sonderbare Welt, die ihr nicht zugänglich war.

„Für mich giebt es nur solche, auf denen es zum mindesten langweilig ist.“

„Wie ist das möglich, daß Ihr gar es auf einem Balle langweilig findet?“

„Warum sollte es unmöglich sein, daß gerade ich den Ball langweilig finde?“ frug Anna.

Kity merkte, daß Anna recht wohl wußte, welche Antwort kommen müsse.

„Nun deswegen, weil Ihr doch stets die Schönste von allen dabei sein würdet!“

Anna besaß die Fähigkeit, erröten zu können. Sie errötete daher und sagte:

„Das ist zunächst nicht der Fall, und dann, selbst wenn dem so wäre, warum?“

„Ihr werdet doch auf den Ball fahren?“ frug Kity.

„Ich denke, es wird nicht zu umgehen sein. – Da nimm ihn,“ sagte sie zu Tanja, welche ihr den leicht von ihrem weißen Finger herabgehenden Ring abgezogen hatte.

„Ich werde mich sehr freuen, wenn Ihr mitkommt, denn ich möchte Euch gar zu gern auf dem Balle sehen.“

„Nun, wenn denn einmal gefahren sein muß, so werde ich mich mit dem Gedanken trösten, daß dies eben Euch Vergnügen macht. Grischa, zerr' nicht so, bitte; sie haben mich schon ganz derangiert,“ sprach sie, eine in Unordnung geratene Haarflechte, mit der Grischa gespielt hatte wieder zurechtsteckend.

„Ich denke mir Euch auf dem Ball in Lila.“

„Weshalb gerade in Lila?“ lächelte Anna. „Kinder geht jetzt, geht! Hört ihr? Miß Goul ruft euch zum Thee,“ fuhr sie fort, die Kinder von sich losmachend und sie nach dem Speisesalon dirigierend. „Ich weiß übrigens, weshalb Ihr mich zu der Teilnahme am Balle einladet. Ihr versprecht Euch viel von demselben und wünscht, daß jedermann dort und Teilhaber dabei sein möchte.“

„Woher wißt Ihr das? Allerdings.“

„O, wie schön ist doch Euer Alter,“ fuhr Anna fort, „ich entsinne mich noch jenes blauen Nebels, ähnlich dem, der sich über die Berge der Schweiz lagert, jenes Nebels, der alles in dieser glückseligen Zeit überdeckt, da die Kindheit für uns aufgehört hat und aus ihrem grenzenlosen Kreise des Glückes und der Lust ein Weg, enger und enger werdend, in Heiterkeit und Scherz in diese Enfilade hineinführt, obwohl er hell und angenehm erscheint. Wer hätte diesen Weg nicht durchschritten?

Kity lächelte schweigend, „sie hat ihn gewiß zurückgelegt, was gäbe ich nicht darum, könnte ich ihren ganzen Roman in Erfahrung bringen,“ dachte sie und vergegenwärtigte sich dabei das unpoetische Äußere Aleksey Aleksandrowitschs, ihres Gatten.

„Ich bin schon in einigem unterrichtet, Stefan erzählte mir davon; ich gratuliere; er gefällt mir sehr,“ fuhr Anna fort, „ich traf mit Wronskiy auf der Eisenbahn zusammen.“

„Ah; er war dort?“ frug Kity errötend, „was hat Euch Stefan erzählt?“

„Er hat mit mir nur leichthin geplaudert; ich wäre sehr froh gewesen – Gestern bin ich mit der Mutter Wronskiys hierher gereist,“ fuhr sie fort, „und diese hat mir in einem fort von ihm erzählt, er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie leidenschaftlich Mütter für ihre Kinder eingenommen sein können, aber“ —

„Was hat Euch denn seine Mutter erzählt?“

„O, viel! Ich weiß wohl, daß er ihr Liebling ist, aber es ist trotzdem auch sichtbar, daß er auch der vollendete Kavalier ist. Nun, zum Beispiel hat sie mir erzählt, daß er sein ganzes Besitztum seinem Bruder überlassen wollte, daß er bereits in seiner Jugend eine ungewöhnliche That vollbracht habe, indem er ein Weib aus dem Wasser errettete. Mit einem Worte, er ist ein Heros,“ sagte Anna lächelnd, und sich dabei der zweihundert Rubel erinnernd, die er auf der Station geschenkt hatte.

Doch von diesen erzählte sie nichts, weil es ihr unangenehm war, an das Vorkommnis zurückzudenken. Sie empfand, daß in der Sache etwas auf sie selbst Weisendes gelegen hatte, etwas, das nicht hätte sein dürfen.

„Sie hat mich lebhaft gebeten, zu ihr zu kommen,“ fuhr Anna fort, „und ich werde mich freuen, die liebe alte Dame wiedersehen zu können. Morgen gedenke ich daher zu ihr zu fahren. Indessen – Gott sei gedankt – Stefan bleibt lange bei Dolly im Kabinett,“ fügte sie alsdann hinzu, das Thema wechselnd und sich erhebend; wie es Kity schien, mochte sie mit irgend etwas unzufrieden sein.

„Nein, ich will zuerst zur Tante! Nein ich! Nein ich!“ schrieen jetzt die Kinder, welche mit Theetrinken fertig waren und wieder zur Tante Anna geeilt kamen.

„Alle zusammen sollen bei mir sein!“ rief diese, ihnen lachend entgegenlaufend und sie umarmend, worauf sie die ganze Schar der sich tummelnden und vor Lust laut hinausschreienden Kinder über den Haufen warf.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
02 мая 2017
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