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Der Irrtum, welcher von Aleksey Aleksandrowitsch dadurch begangen worden war, daß er, indem er sich auf das Wiedersehen mit seinem Weibe vorbereitete, nicht an die Möglichkeit gedacht hatte, ihre Reue könne eine aufrichtige sein, und er könne ihr dann vergeben, sie aber stürbe nicht – dieser Irrtum zeigte sich ihm nach Verlauf zweier Monate nach seiner Rückkehr von Moskau in seiner ganzen Stärke. Der Irrtum aber, der von ihm begangen worden, rührte nicht nur davon her, daß er jene Möglichkeit nicht mit erwogen hätte, sondern auch davon, daß er bis zu jenem Tage des Wiedersehens mit der sterbenden Gattin sein Herz noch gar nicht gekannt hatte. Am Bett des kranken Weibes erst überließ er sich zum erstenmal in seinem Leben jener Empfindung tiefen Mitleides, das in ihm die Leiden anderer hervorriefen, und dessen er sich vordem geschämt hatte als sei es eine verderbliche Schwäche, und das Mitleid mit ihr, die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und namentlich, die Freude über die gewährte Verzeihung, vollbrachten, was er plötzlich nicht nur als eine Linderung seiner Leiden empfand, sondern auch als eine seelische Beruhigung, die er vordem noch nie an sich kennen gelernt hatte. Plötzlich war er dessen inne geworden, daß eben das, was den Quell seines Schmerzes bildete auch der Quell seiner Seelenfreude wurde; das, was ihm unlösbar erschienen war, so lange er gerichtet, getadelt und gehaßt hatte, das war jetzt offen und klar geworden, nachdem er verziehen hatte und liebte.

Er hatte seinem Weibe verziehen und beklagte es wegen seiner Leiden und seiner Reue. Er hatte Wronskiy verziehen und beklagte denselben, besonders, nachdem die Nachricht von dessen verzweifelter Handlung zu ihm gedrungen war. Er hatte Mitleid auch mit seinem Söhnchen, mehr als früher, und machte sich jetzt Vorwürfe darüber, daß er sich allzuwenig mit ihm beschäftigt hatte. Für das neugeborene kleine Mädchen aber empfand er ein gewisses besonderes Gefühl, nicht nur des Mitleids, sondern selbst der Zärtlichkeit. Anfangs befaßte er sich lediglich aus Mitleid mit dem neugeborenen schwächlichen Kind, das gar nicht seine Tochter war und während der Zeit der Krankheit der Mutter ganz verlassen lag und wahrscheinlich gestorben wäre, hätte er nicht dafür Sorge getragen; – er hatte selbst nicht gewahrt, daß er das Kind liebgewonnen. Mehrmals des Tages begab er sich nach dem Kinderzimmer und saß lange dort, sodaß die Kindfrau und die Amme, anfangs verschüchtert vor ihm, sich an ihn gewöhnten. Bisweilen blickte er halbe Stunden lang auf das saffranrote, dicke, runzelige Gesichtchen des Säuglings, und beobachtete die Bewegungen der faltigen Stirn und der dicken Händchen mit den gespreizten kleinen Fingern, welche mit der Rückseite der Handflächen sich die Äuglein und das Oberteil der Nase rieben. In solchen Momenten besonders fühlte sich Aleksey Aleksandrowitsch sehr ruhig und mit sich selbst zufrieden, und sah in seiner Lage nichts Außergewöhnliches, nichts, was hätte geändert werden müssen.

Je mehr Zeit indessen verstrich, um so klarer erkannte er, daß man ihm, so natürlich ihm auch seine jetzige Lage erscheinen mochte, nicht gestatten würde, in derselben zu verbleiben. Er fühlte wohl, daß außer jener edlen seelischen Macht, die seinen Geist leitete, noch eine andere bestand, eine rohe, die ebensoviel oder noch mehr galt, die sein Leben leitete, und daß diese Macht ihm nicht jene friedsame Ruhe gönnen würde, die er wünschte. Er empfand, daß alle ihn mit fragendem Erstaunen betrachteten, daß man ihn nicht begriff, und von ihm etwas erwartete. Insbesondere fühlte er die Unzulänglichkeit und Unnatürlichkeit seiner Beziehungen zu seinem Weibe.

Nachdem jene weiche Stimmung verflogen war, die die Nähe des Todes in ihr erzeugt hatte, begann Aleksey Aleksandrowitsch zu bemerken, daß Anna ihn fürchte, sich von ihm belästigt fühlte und ihm nicht offen ins Auge zu blicken vermochte. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben, und doch nicht den Entschluß finden zu können, es ihm auszusprechen, und schien auch ihrerseits wie in einem Vorgefühl, daß die beiderseitigen Beziehungen auf die Dauer nicht haltbar seien, etwas von ihm zu erwarten.

Gegen Ende des Februar ereignete es sich, daß die neugeborene Tochter Annas, ebenfalls Anna genannt, erkrankte. Aleksey Aleksandrowitsch war früh morgens im Kinderzimmer und begab sich, nachdem er befohlen hatte, einen Arzt zu rufen, ins Ministerium. Nach Erledigung seiner Geschäfte kehrte er um vier Uhr nach Hause zurück. Als er ins Kinderzimmer ging, gewahrte er einen schmucken Lakaien in Galons mit Bärenfellpelerine und weißer Rotonde von amerikanischem Hund.

„Wer ist hier?“ frug er.

„Die Fürstin Jelisabeta Fjodorowna Twerskaja,“ versetzte der Lakai, wie es Aleksey Aleksandrowitsch schien, lächelnd.

In dieser schweren Zeit bemerkte Aleksey Aleksandrowitsch, daß seine Bekannten aus der großen Welt, besonders die Damen, viel Teilnahme für ihn und seine Frau an den Tag legten. Er nahm bei all diesen Bekannten eine mit Mühe unterdrückte Freude über etwas Unbekanntes wahr, dieselbe Freude, die er in den Augen des Rechtsanwalts erblickt hatte, und jetzt in den Augen des Lakaien sah. Alle schienen gewissermaßen in Entzücken zu sein, als wollten sie jemand verheiraten. Wenn man ihm begegnete, frug man mit schlecht verhehlter Schadenfreude nach seinem Befinden.

Die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja war Aleksey Aleksandrowitsch sowohl wegen der Reminiscenzen, die mit diesem Namen verknüpft waren, als auch deshalb, weil er sie überhaupt nicht liebte, unangenehm und er ging geradenwegs nach dem Kinderzimmer. In dem ersten Gemach befand sich der kleine Sergey, mit der Brust über den Tisch liegend und die Füße auf dem Stuhl, mit Zeichnen beschäftigt und in heiterem Geplauder. Die Engländerin, welche während der Zeit der Krankheit Annas die Französin abgelöst hatte, und mit einer Stickerei von Mignardisen beschäftigt neben dem Knaben saß, erhob sich hastig und setzte Sergey zurecht. Aleksey Aleksandrowitsch strich glättend mit der Hand über das Haar des Knaben, antwortete auf die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Gemahlin und frug, was der Arzt bezüglich des Baby gesagt hätte.

„Der Arzt sagte, es sei keine Gefahr und hat Wannenbäder verschrieben, Herr.“

„Aber das Kind leidet doch noch,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, aufmerksam auf das Geschrei des Kindes im Nebenzimmer horchend.

„Ich glaube, die Amme ist nichts wert, Herr,“ antwortete die Engländerin fest.

„Weshalb vermutet Ihr das?“ frug er, stehen bleibend.

„Es war ebenso bei der Gräfin Polj, Herr. Man kurierte an einem Kinde herum und es zeigte sich, daß dasselbe einfach hungrig war; die Amme hatte keine Milch, Herr.“

Aleksey Aleksandrowitsch dachte nach und begab sich, nachdem er noch einige Sekunden verharrt hatte, nach der zweiten Thür. Das kleine Kind lag mit zurückgeworfenem Köpfchen, sich auf den Armen der Amme krümmend, und wollte weder die ihm dargebotene schwellende Brust nehmen, noch sich beruhigen lassen, obwohl die Amme und Kinderfrau über den Säugling gebeugt, ihre Besänftigungsversuche vereinten.

„Noch immer nicht besser?“ frug Aleksey Aleksandrowitsch.

„Sehr unruhig,“ antwortete flüsternd die Kinderfrau.

„Miß Edward meint, daß möglicherweise die Amme keine Milch hat,“ fuhr er fort.

„Das glaube ich auch, Aleksey Aleksandrowitsch.“

„Aber weshalb sagt Ihr das nicht?“

„Wem sollte man es sagen? Anna Arkadjewna sind noch immer krank,“ versetzte die Kinderfrau mürrisch.

Die Kinderfrau war eine alte Dienerin im Hause, und in diesen einfachen Worten schien Aleksey Aleksandrowitsch ein Hinweis auf seine Situation zu liegen.

Das Kind schrie noch stärker, es zappelte und war schon heißer. Die Kinderfrau winkte mit der Hand, ging zu dem Kinde, nahm es von den Armen der Amme und begann es im Gehen zu wiegen.

„Es wird nötig sein, daß der Arzt die Amme untersucht,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch.

Die dem Augenschein nach gesunde, schmucke Amme brummte in der Besorgnis gekündigt zu bekommen, etwas in den Bart, und barg, verächtlich über den Zweifel an ihrem Milchreichtum lächelnd, den mächtigen Busen. In diesem Lächeln fand Aleksey Aleksandrowitsch wiederum nur einen Hohn über seine Lage.

„Armes Kind,“ sagte die Kinderfrau, dem Säugling zuzischelnd, und setzte ihren Weg auf und nieder fort.

Aleksey Aleksandrowitsch ließ sich auf einem Stuhl nieder und schaute mit leidendem kummervollem Ausdruck auf die hin und her gehende Kinderfrau.

Als man das endlich ruhig gewordene Kind in ein tiefes Bettchen gelegt hatte und die Kinderfrau das Kissen geordnet und es verlassen hatte, erhob sich Aleksey Aleksandrowitsch und schritt, mühsam auf den Fußspitzen gehend, zu dem Kinde. Eine Minute hindurch schwieg er und blickte mit dem nämlichen kummervollen Antlitz auf das Kind; plötzlich aber erschien ein Lächeln, welches ihm Haar und Stirnhaut bewegte, auf seinen Zügen und ebenso leise verließ er das Zimmer.

Im Speisezimmer schellte er und befahl dem eintretenden Diener, nochmals nach dem Arzte zu schicken. Es verursachte ihm Verdruß, daß sich sein Weib nicht um dieses reizende kleine Wesen kümmerte, und in diesem Verdruß über sie verspürte er keine Neigung, sich zu ihr zu begeben, wollte er auch nicht die Fürstin Betsy sehen, aber sein Weib hätte befremdet sein können, wenn er, gegen seine Gewohnheit, nicht zu ihr kam, und so begab er sich denn, allerdings nur mit Selbstüberwindung, nach ihrem Schlafgemach. Als er über den weichen Teppich zu der Thür ging, hörte er unwillkürlich ein Gespräch, welches er nicht hören wollte.

– „Wenn er nicht abreiste, so würde ich Eure Weigerung verstehen, ebenso wie die seinige. Aber Euer Mann dürfte doch hierüber erhaben sein,“ sagte Betsy.

„Nicht meines Mannes halber, sondern meinetwegen will ich es nicht. Sprecht nicht so“ – antwortete erregt die Stimme Annas.

„Ja, aber Ihr müßt doch unbedingt wünschen, von einem Manne Abschied zu nehmen, der sich Euretwegen erschießen wollte“ —

„Eben deswegen will ich es ja nicht.“

Aleksey Aleksandrowitsch blieb mit erschrecktem und schuldbewußtem Ausdruck stehen und wollte leise wieder umkehren, allein er kam zu der Ansicht, daß dies seiner unwürdig sei und kehrte wieder um, hustete, und schritt nach dem Schlafzimmer. Die Stimmen verstummten und er trat ein.

Anna saß in einem grauen Hauskleid, mit kurz frisiertem, dicht emporstehenden schwarzen Haar auf dem runden Kopfe, auf einer Couchette. Wie stets, verschwand bei dem Anblick ihres Gatten plötzlich alles Leben von ihren Zügen; sie senkte das Haupt, und blickte unruhig nach Betsy. Diese, nach der nagelneuesten Mode gekleidet, in einem Hute der auf ihrem Haupte schwebte, wie der Schirm über einer Lampe, und in einer taubenblauen Robe mit scharfhervortretenden, schrägen Streifen, die auf der Taille nach der einen Seite hin, auf dem Rock nach der entgegengesetzten liefen, saß neben Anna, ihre plattaufragende Büste steif haltend, und begrüßte, den Kopf senkend, Aleksey Aleksandrowitsch mit satirischem Lächeln.

„Ah,“ machte sie, wie verwundert, „das freut mich ja außerordentlich, daß Ihr zu Haus seid. Ihr zeigt Euch ja gar nicht und ich habe Euch nicht gesehen seit der Krankheit Annas! Freilich habe ich gehört – Eure großen Sorgen! – Ja, Ihr seid ein bewundernswürdiger Mann!“ sagte sie mit bedeutungsvoller und höflicher Miene, gleich als wollte sie ihn mit einem Orden der Großmut für seine Handlungsweise an der Gattin belohnen.

Aleksey Aleksandrowitsch verbeugte sich kalt, küßte seiner Frau die Hand und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

„Es scheint, als ob mir besser wäre,“ sagte diese, seinem Blicke ausweichend.

„Aber Ihr habt noch etwas wie Fieberröte im Gesicht,“ fuhr er fort, das Wort „Fieber“ besonders hervorhebend.

„Ich habe gewiß zu viel mit ihr gesprochen,“ bemerkte Betsy; „und fühle, daß dies ein Egoismus meinerseits gewesen ist. Ich werde sogleich aufbrechen.“

Sie erhob sich, doch Anna, plötzlich errötend, ergriff schnell ihre Hand.

„Nein, bleibt noch, bitte. Ich muß Euch sagen – nein, Euch,“ wandte sie sich an Aleksey Aleksandrowitsch und die Röte überzog ihr Hals und Stirn – „ich will und kann vor Euch kein Geheimnis haben,“ fügte sie hinzu.

Aleksey Aleksandrowitsch knackte mit den Fingern und ließ den Kopf sinken.

„Betsy hat mir mitgeteilt, daß Graf Wronskiy zu uns zu kommen wünscht, um sich von uns vor seiner Abreise nach Taschkent zu verabschieden.“ Sie blickte ihren Gatten nicht an und hastete augenscheinlich, alles herauszusagen, so schwer es ihr auch werden mochte, „ich habe geantwortet, daß ich ihn nicht empfangen könne.“

„Ihr habt gesagt, liebste Freundin, daß dies von Aleksey Aleksandrowitsch abhängen würde,“ verbesserte Betsy.

„O nein; ich vermag ihn nicht zu empfangen und dies führte auch zu nichts“ – sie hielt plötzlich inne und schaute fragend auf ihren Gatten, der sie nicht anblickte. „Mit einem Worte, ich will nicht“ —

Aleksey Aleksandrowitsch rückte näher und wollte ihre Hand ergreifen. Bei der ersten Bewegung zog sie jedoch ihre Hand von der seinen zurück, die, feucht und mit den großen, hervortretenden Adern, sie suchte, drückte sie ihm aber dann, augenscheinlich voll Selbstüberwindung.

„Ich danke Euch sehr für Euer Vertrauen, doch“ – antwortete er, mit Verwirrung und Verdruß empfindend, daß er das, was er so leicht und klar vor sich selbst entscheiden konnte, in Gegenwart der Fürstin Twerskaja nicht zu bestimmen vermochte, da diese für ihn eine Personifizierung jener rohen Macht war, die in den Augen der Welt sein Leben beherrschte und ihn verhinderte, sich seiner Empfindung der Liebe und Vergebung ganz zu weihen. Er stockte und schaute die Fürstin Twerskaja an.

„Nun, lebt wohl dann, Liebste,“ sagte Betsy, sich erhebend. Sie küßte Anna und ging, Aleksey Aleksandrowitsch begleitete sie.

„Aleksey Aleksandrowitsch! Ich kenne Euch als einen wahrhaft edelsinnigen Mann,“ sagte Betsy, in dem kleinen Salon stehen bleibend und ihm nochmals auffallend stark die Hand drückend. „Ich bin nur eine fremde Person hier, aber ich liebe Anna und achte Euch so sehr, daß ich mir einen Rat erlauben möchte. Empfangt ihn doch. Aleksey Wronskiy ist die personifizierte Ehrenhaftigkeit; er wird nach Taschkent gehen.“

„Ich danke Euch, Fürstin, für Eure Teilnahme und Ratschläge. Aber die Frage, ob meine Frau jemand empfangen kann oder nicht, muß diese selbst entscheiden.“

Er sprach dies, nach seiner Gewohnheit die Brauen mit Würde emporziehend, dachte aber sofort daran, daß es, wie auch seine Worte lauten mochten, eine Würde in seiner Lage nicht mehr geben könne. Und dies erkannte er auch an dem verhaltenen, bösen und sarkastischen Lächeln, mit welchem Betsy ihn nach diesen Worten anblickte.

20

Aleksey Aleksandrowitsch entließ Betsy mit einer Verbeugung im Salon und ging wieder zu seinem Weibe. Anna hatte gelegen, als sie jedoch seine Schritte vernahm, die sitzende Stellung wie vorher eingenommen und blickte ihn nun erschreckt an. Er sah, daß sie geweint hatte.

„Ich danke dir sehr für dein Vertrauen zu mir,“ wiederholte er in russischer Sprache sanft die auf französisch in Gegenwart Betsys geäußerten Worte, und ließ sich neben ihr nieder. Als er russisch sprach und sie dabei mit „du“ anredete, versetzte Anna dieses „du“, in unbezwingbare Erregung. „Ich bin dir sehr dankbar für deinen Entschluß; auch ich glaube, daß, da er abreist, nicht mehr das geringste Bedürfnis für den Grafen Wronskiy vorhanden ist, hierher zu kommen. Übrigens“ —

„Das habe ich ja schon gesagt – wozu es noch einmal wiederholen?“ unterbrach ihn Anna plötzlich, mit einer Gereiztheit, die sie nicht imstande war, zu unterdrücken. „Nicht das geringste Bedürfnis,“ dachte sie, „soll für einen Menschen vorhanden sein, zu kommen, um Abschied zu nehmen von dem Weibe, welches er liebt, für welches er untergehen wollte und sich vernichtet hat, und das nicht ohne ihn zu leben vermag. Nicht die geringste Notwendigkeit!“ Sie preßte die Lippen aufeinander und senkte die blitzenden Augen nieder auf seine Hände mit den aufgetretenen Adern, die sich langsam aufeinander rieben. „Wir wollen nie mehr davon reden,“ fügte sie, ruhiger geworden, hinzu.

„Ich habe es dir freigestellt, die Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen“ – begann Aleksey Aleksandrowitsch.

– „Daß mein Wunsch mit dem Euren übereinstimmt,“ vollendete Anna schnell, erbittert, daß er so langsam sprach, während sie doch schon im voraus alles wußte, was er sagen würde.

„Ja,“ bestätigte er, „und die Fürstin Twerskaja mischt sich völlig unberufen in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Im Besonderen“ —

„Ich glaube an nichts von alledem, was man über sie spricht,“ sagte Anna schnell, „ich weiß nur, daß sie mich aufrichtig liebt.“

Aleksey Aleksandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte mit den Quasten ihres Hauskleides, den Blick auf ihn gerichtet voll des quälenden Gefühls jenes physischen Ekels vor ihm, wegen dessen sie sich selbst Vorwürfe machte, und den sie doch nicht zu überwinden vermochte. Jetzt wünschte sie nur noch Eins – erlöst zu sein von seiner erkältenden Gegenwart.

„Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt,“ hub Aleksey Aleksandrowitsch wieder an.

„Ich bin gesund; wozu einen Arzt für mich?“

„Nicht so; die Kleine schreit; die Amme soll zu wenig Milch haben.“

„Weshalb hast du denn mir nicht erlaubt, das Kind zu nähren, obwohl ich dich darum anflehte? Es bleibt sich gleich,“ – Aleksey Aleksandrowitsch verstand, was das „Gleich“ bedeutete – „es ist ein kleines Kind und man läßt es verhungern.“ Sie schellte und befahl, das Kind zu bringen, „ich habe darum gebeten, es nähren zu dürfen; man hat es mir nicht gestattet, und macht mir jetzt doch Vorwürfe.“

„Ich mache keinen Vorwurf“ —

„Nein, Ihr nicht! Mein Gott! Warum bin ich nicht gestorben?“ Sie brach in Schluchzen aus. „Vergieb mir, ich war gereizt, ich bin ungerecht“ – sagte sie, zur Besinnung kommend; „aber geh“ —

„Nein! Das kann nicht so bleiben,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch entschlossen zu sich selbst, als er seine Frau verließ. Noch nie war ihm die Unmöglichkeit seiner Lage in den Augen der Welt und die Abneigung seines Weibes vor ihm, sowie überhaupt die Macht jener rohen, geheimnisvollen Kraft, welche im Widerspruch mit seiner seelischen Stimmung, sein Leben leitete und die Ausführung ihres Willens, die Veränderung seiner Beziehungen zu seinem Weibe forderte – mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten, als heute. Er erkannte klar, daß die gesamte Gesellschaft und sein Weib nicht minder, von ihm etwas heischten, was aber – er konnte es nicht erfassen. – Er fühlte nur, daß sich hierüber in seiner Seele ein Gefühl des Zornes regte, welches seine Ruhe vernichtete und das ganze Verdienst seiner heroischen Handlungsweise. Er hatte gemeint, daß es für Anna am besten war, wenn sie die Beziehungen zu Wronskiy abbrach, aber, wenn jedermann fand, daß dies unmöglich sein würde, so war er bereit, dieses Verhältnis sogar aufs neue zu gestatten, sobald es nur nicht durch sichtbare Folgen geschändet würde; er wollte die beiden nicht voneinander trennen und doch auch seine eigene Situation nicht ändern. So übel diese auch erscheinen mochte, sie war doch noch besser, als ein Bruch, bei welchem er in eine unentwirrbare, schmähliche Stellung geriet und sich selbst alles dessen beraubte, was er liebte. Er fühlte sich ohnmächtig; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein würden und man ihm nicht gestatten würde, zu thun, was ihm jetzt so naturgemäß und gut erschien, sondern ihn zwinge, auszuführen, was schlecht war, ihnen aber als pflichtgemäß erschien.

21

Betsy hatte den Saal noch nicht verlassen, als ihr Stefan Arkadjewitsch, soeben von Jelisejeff kommend, wo es frische Austern gegeben hatte, in der Thür begegnete.

„Ah, Fürstin! Welch angenehmes Zusammentreffen!“ rief er aus. „Ich war bei Euch!“

„Leider nur für eine Minute, da ich soeben wegfahre,“ erwiderte Betsy lächelnd, ihren Handschuh anziehend.

„Verzieht, Fürstin, mit dem Anziehen des Handschuhs – laßt mich Eure schöne Hand küssen. Für nichts bin ich der Rückkehr zu den alten Sitten so dankbar, als für den Handkuß.“ Er küßte Betsys Hand, „wann werden wir uns wiedersehen?“

„Leichtfuß!“ antwortete Betsy lächelnd.

„O; ich bin sehr viel wert, denn ich bin ein Mensch von Bedeutung geworden, da ich nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten in Ordnung bringe,“ sagte er mit wichtiger Miene.

„Ah, das freut mich sehr,“ versetzte Betsy, die sogleich verstand, daß er von Anna sprach, und in den Saal zurückkehrend, traten sie in eine Ecke. „Er wird sie umbringen,“ raunte ihm Betsy bedeutungsvoll zu, „das ist doch unmöglich, unmöglich!“ —

„Es freut mich sehr, daß Ihr so denkt,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch kopfschüttelnd und mit ernsthaftem, wehmütigem und mitleidigem Ausdruck, „ich bin deswegen von Petersburg hergekommen.“

„Die ganze Stadt spricht davon,“ sagte sie, „es ist eine unmögliche Situation, Anna schwindet mehr und mehr dahin, und begreift nicht, daß sie eine von jenen Frauen ist, welche mit ihren Empfindungen nicht tändeln dürfen. Es ist hier nur Eines von zwei Dingen möglich: Entweder man nimmt sie mit fort und handelt energisch, oder – Ehescheidung. – Diese Lage aber erdrückt sie.“

„Ja, ja wohl – so ist es,“ – sagte Oblonskiy seufzend, „deswegen bin ich eben hergekommen – das heißt, nicht eigentlich deswegen – ich bin Kammerherr geworden – nun, – und da muß man Dankvisiten abstatten. Aber die Hauptsache ist doch die Ordnung dieser Angelegenheit.“

„Gott helfe Euch dabei,“ antwortete Betsy.

Nachdem Stefan Arkadjewitsch die Fürstin Betsy bis auf den Flur hinaus begleitet und ihr nochmals die Hand oberhalb des Handschuhs, wo der Puls schlägt geküßt, ihr auch nochmals eine solche Menge schlüpfriger Albernheiten vorgelogen hatte, daß sie nicht mehr wußte, ob sie böse werden oder lachen sollte, begab sich Stefan Arkadjewitsch zu seiner Schwester. Er fand diese in Thränen.

Ungeachtet der von Heiterkeit übersprudelnden Stimmung, in welcher sich Stefan Arkadjewitsch befand, ging dieser doch natürlich sogleich zu jenem gefühlvollen, poetisch verzückten Ton über, der zu ihrer Gemütsverfassung paßte. Er frug sie nach ihrem Befinden und wie sie den Morgen verbracht habe.

„Sehr, sehr schlecht; es ist Tag und Nacht so und stets so gewesen, wird auch so bleiben,“ antwortete sie.

„Mir scheint, du giebst dich dem Trübsinn hin; das muß man abschütteln, man muß dem Leben ins Gesicht schauen. Ich weiß wohl, daß das schwer ist, allein“ —

„Ich habe gehört, daß die Frauen die Männer selbst wegen ihrer Laster lieben,“ begann Anna plötzlich, „aber ich hasse ihn wegen seiner Tugend. Ich vermag nicht mit ihm zu leben; verstehe mich, sein Anblick wirkt physisch auf mich und ich gerate außer mir. Ich kann nicht, ich kann nicht mit ihm leben! Was soll ich nun thun? Ich war unglücklich und dachte, ich könne nicht noch unglücklicher werden, aber diesen entsetzlichen Zustand, welchen ich jetzt durchlebe, habe ich mir nicht vorstellen können. Wirst du es glauben, daß ich ihn, wohl wissend, daß er ein guter, ausgezeichneter Mensch ist, und ich nicht den Fingernagel von ihm wert bin – dennoch hasse? Ich hasse ihn ob seines Edelmuts. Mir aber bleibt nichts übrig, als“ —

Sie wollte sagen „der Tod“, doch Stefan Arkadjewitsch ließ sie nicht ausreden.

„Du bist krank und aufgeregt,“ sagte er, „glaube mir, du übertreibst ungeheuer. Es ist durchaus nichts so Furchtbares bei der Sache.“

Stefan Arkadjewitsch lächelte. Niemand an Stefan Arkadjewitschs Stelle, würde sich, mit einer so verzweifelten Aufgabe betraut, ein Lächeln erlaubt haben – ein Lächeln wäre roh erschienen – aber in seinem Lächeln lag soviel Gutmütigkeit und fast weibliche Zärtlichkeit, daß dasselbe nicht verletzte, sondern weich stimmte und besänftigte. Seine halblaute, beruhigende Rede und sein Lächeln wirkte mildernd und stillend wie Mandelöl. Auch Anna empfand dies bald.

„Nein, Stefan,“ sagte sie, „ich bin verloren, verloren! Schlimmer noch als verloren. Ich bin noch nicht verloren, ich kann nicht sagen, daß alles zu Ende sei – im Gegenteil, ich fühle, daß es noch nicht vorbei ist. Ich bin einer gespannten Saite gleich, die springen muß. Aber noch ist es nicht vorbei – es wird entsetzlich enden.“

„Nicht doch; man kann die Saite behutsam nachlassen. Es giebt keine Situation aus der sich nicht ein Ausweg fände.“

„Ich habe gedacht und gedacht, aber nur einen gefunden“ —

Er erkannte wiederum an ihrem schreckenvollen Blick, daß dieser einzige Ausweg, nach ihrer Meinung, der Tod sei, und ließ sie abermals nicht ausreden.

„Keineswegs,“ sagte er, „gestatte. Du kannst deine Lage nicht so erkennen, wie ich. Laß mich dir aufrichtig meine Meinung äußern.“ Er lächelte abermals vorsichtig in seiner süßen Art. „Ich will zunächst damit beginnen: Du hast einen Mann geheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als du. Du hast diesen Mann ohne Liebe geheiratet oder vielmehr, ohne die Liebe kennen gelernt zu haben. Dies war ein Fehler, wollen wir sagen.“

„Ein furchtbarer Fehler,“ sagte Anna.

„Doch ich wiederhole: Derselbe ist eine vollendete Thatsache; du hattest darauf – ich will sagen – das Unglück, deinen Mann nicht zu lieben. Dies ist ein Unglück, auch das ist eine vollendete Thatsache. Dein Mann hat das anerkannt und dir verziehen.“ Er hielt nach jedem Satze inne, eine Erwiderung erwartend, doch sie entgegnete nichts. „So steht es, jetzt aber ist die Frage, kannst du fortfahren, mit deinem Manne zusammenzuleben? Wünschest du das? Wünscht er das?“

„Ich weiß nichts, nichts.“

„Aber du selbst hast doch gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.“

„Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich stelle das in Abrede; ich weiß nichts und begreife nichts.“

„Aber erlaube doch“ —

„Du kannst das nicht verstehen. Ich fühle, daß ich mit dem Kopfe zuerst in einen Abgrund hinabstürze und mich nicht retten darf; es auch nicht kann.“

„O doch, wir wollen dir ein Falltuch unterbreiten und dich auffangen. Ich begreife dich, begreife, du kannst es nicht auf dich nehmen, deinen Wünschen, deinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.“

„Ich wünsche nichts, gar nichts – nur das Eine, es möchte bald vorbei sein.“

„Aber er sieht und weiß das ja. Denkst du denn, er litte etwa weniger als du? Du marterst dich und er martert sich, und was soll daraus hervorgehen? Da eine Trennung alles löst“ – Stefan Arkadjewitsch brachte diesen wichtigen Gedanken nicht ohne Überwindung heraus und blickte sie jetzt bedeutungsvoll an.

Sie antwortete nicht und schüttelte nur verneinend ihr frisiertes Haupt, aber an dem Ausdruck des plötzlich in der alten Schönheit wieder aufglänzenden Gesichts erkannte er, daß sie die Scheidung nur deshalb nicht wünschte, weil sie ein solches Glück für unmöglich hielt.

„Ihr thut mir unsäglich leid, und wie glücklich würde ich sein, könnte ich die Sache in Ordnung bringen,“ fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, schon kühner lächelnd. „Sprich nicht, sprich gar nichts! Wenn mir doch Gott die Gabe verliehen hätte, so zu reden, wie ich fühle. Ich werde zu deinem Manne gehen.“

Anna blickte ihn mit sinnenden, glänzenden Augen an, ohne etwas zu erwidern.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
02 мая 2017
Объем:
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Правообладатель:
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