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„Meinten Sie das eben Ernst?“, fragte David leicht angesäuert, „Was Sie Mr. Clarke gesagt haben?“

Mr. Brenner trat einen Stein beiseite. Staub wirbelte um seine Schuhe. Man sah dem Weg an, dass es seit Tagen nicht geregnet hatte. Risse zeichneten sich auf dem sandfarbenen ausgetrockneten Boden ab.

„Dass Kinder wie du nicht sonderlich intelligent sind und nicht nachdenken?“

„Ja, so ungefähr war Ihre Wortwahl.“

„Ach, weißt du, David“, begann er und blieb vor ihm an der Waldgrenze stehen.

„Mit Mr. Clarke ist es wie mit jedem anderen Mann, der sich in seinem Stolz verletzt sieht. Sag ihnen wie toll sie sind und wie dumm man selber ist, und alles ist wieder in Ordnung“, erklärte er ihm. David kam neben ihm zum Stehen. Es musste ein lachhafter Anblick sein, wie er dort, mit Rollkoffer und Rucksack, vor dem Wald stand. Mit Sicherheit würde es ein perfektes Foto für die Kategorie: „Finde den Fehler“ in einem Rätselheft abgeben. Jedoch war nicht bloß sein Outfit, an einem Ort wie diesem, fehl am Platz. Er selbst gehörte ebenfalls nicht dorthin.

„Das war also reine Beschwichtigung? Sie halten mich nicht für zurückgeblieben oder chronisch dumm?“

„Es ist wie mit einem Baby, David. Wenn sie anfangen zu plärren, gibst du ihnen die Flasche und sie sind wieder ruhig. Leute wie Mr. Clarke, Rechtsanwälte, Professoren, Wissenschaftler, Ärzte. Sie alle sind auf einer höheren Bildungsstufe als wir beide und wollen auch so behandelt werden. Schließlich sind wir ja die Dummen, die sich immer wieder an sie wenden, wenn wir etwas nicht wissen und uns helfen lassen müssen. Dass sie sich ebenfalls an Elektriker, Tischler und Bauarbeiter wenden, weil sie etwas nicht können, ist ihnen wiederum egal. Schließlich sind sie ja trotzdem die Dummen, die keine Akademiker mit hohen Abschlüssen und vortrefflicher Bildung sind. Verehrung und überschwängliches Lob sind ihre Flasche. Verstehst du, was ich meine?“

„Natürlich verstehe ich.“

Mr. Brenner setzte ein bescheidenes Lächeln auf.

„Dummheit ist nicht wenig wissen, auch nicht wenig wissen wollen, Dummheit ist, glauben genug zu wissen.“

„Und wer Konfuzius zitiert, ist noch lange nicht weise“, sagte David schmunzelnd.

„Da hast du wohl Recht“, stimmte Mr. Brenner ihm lachend zu.

„Entschuldigen Sie, dass ich frage, Sir. Aber ich habe die Schule nirgendwo gesehen.“

„Nun ja, das liegt daran, dass sie im Wald liegt und von den hohen Bäumen versteckt wird“, erklärte er und zeigte in den Wald hinein.

Die Schule war im Wald, und ein Mann ging neben dir her.

David erstarrte. Die Erinnerung traf ihn, wie der breit gestreute Schuss einer Schrotflinte. Der Kaffee, den er während der Fahrt getrunken hatte, schien sich seinen Weg nach draußen bahnen zu wollen und stieg ihm den Hals hoch.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Mr. Brenner verunsichert und sah ihn besorgt an. David griff an den rechten Flaschenhalter seines Rucksacks und holte eine Flasche stilles Wasser daraus hervor. Schnell öffnete er sie und nahm einen kleinen vorsichtigen Schluck daraus. Sein Magen entkrampfte sich ein wenig und nahm den bereits hochgestiegenen Kaffee widerwillig zurück.

„Ja, alles in Ordnung“, sagte er und versuchte sich nichts anmerken zu lassen, was ihm jedoch bei seiner bleichen Gesichtsfarbe nicht sonderlich gut gelang.

„Bist du sicher?“, fragte Mr. Brenner ein weiteres Mal. David nahm einen zweiten Schluck aus seiner Flasche und nickte bejahend.

„Wenn du meinst. Dann nehme ich aber deinen Koffer. Nicht, dass du mir gleich zusammenklappst.“

Er streckte die Hand aus, um Davids Koffer entgegenzunehmen. Ohne zu zögern, drückte er ihm den Griff des Trolleys in die Hand. Er atmete tief durch und wischte sich mit der Hand die Schweißperlen von der Stirn.

„Keine Sorge“, beruhigte Brenner David, „Im Wald scheint dir die Sonne nicht so stark auf den Kopf. Dort gibt es genügend Schatten.“

„Mr. Brenner?“

„Ja, David?“

„Aus welchem Grund hat man die Schule im Wald gebaut?“, fragte er. Wie angewurzelt verharrte er auf der Stelle und machte keine Anstalten, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

„Die Frage ist verständlich. Komm mit. Wir sollten uns auf den Weg machen, bevor wir weichgekocht sind. Wir haben genügend Zeit, währenddessen alle deine Fragen zu klären.“

Er lächelte David ein weiteres Mal an und machte einige Schritte nach vorne.

„Ach ja. Eine Sache ist da noch. Die erste und wichtigste Regel, die du dir merken musst. Gehe niemals ohne jemanden in den Wald, der sich nicht darin auskennt“, mahnte er ihn.

Mit diesen Worten überschritt Mr. Brenner die Waldgrenze und wurde von den Schatten der riesigen Bäume um ihn herum verschluckt.

5

Nachdem er den ersten Schock halbwegs verdaut hatte, folgte er Mr. Brenner hinein in den dunklen, aber durchaus naturschönen, Wald. Mammutbäume, die gut achtzig Meter gen Himmel ragten, nahmen dem Waldboden einen großen Teil des Sonnenlichtes und hielten es in ihren Blättern fest.

Ein Ast knackte unter Davids Füßen. Brenner steuerte auf eine kleine Steigung zu, die sich einige Meter hinter dem Waldübergang befand.

„Pass auf. Der Boden ist sehr trocken und auch staubig. Man kann leicht wegrutschen und sich einen spitzen Ast in die Hand rammen, wenn man sich versucht abzufangen“, warnte er David.

„Ist das denn schon mal passiert?“, fragte David neugierig.

„Öfter, als du wahrscheinlich denkst.“

„Wie oft? Fünf Mal?“, riet er.

„Weit daneben.“

„Zehn?“

„Ab 23 hab ich aufgehört zu zählen. Wie viele genau es schon geschafft haben, weiß ich nicht“, erzählte er und begann die Steigung hinaufzugehen.

„23 von wie vielen?“, fragte David überrascht.

„Wie bitte?“

David hatte die Steigung nun auch erreicht.

„Wie viele Schüler haben Sie schon hier langgebracht?“

„Das wäre doch schon eine schöne Rechenaufgabe zum Einstieg oder?“, fragte Mr. Brenner amüsiert.

„Wie viele Schüler hat Mr. Brenner in seinen zehn Jahren als Lehrer schon durch den Wald geführt, wenn jedes Jahr 50 Schüler an die Sommerschule kommen?“

„Sie haben schon 500 Jugendliche in die Schule gebracht?“, fragte David erstaunt.

„Mehr oder weniger. Wie gesagt, das sind grobe Schätzungen. Viele der Kinder, die angemeldet werden, erscheinen oftmals nicht“, entgegnete er und blieb in einer Rechtskurve stehen, um auf David zu warten. Obwohl er weniger Gepäck zu tragen hatte, war er deutlich langsamer unterwegs als der gut 20 Jahre ältere Brenner, der den Anstieg mit fast verspielter Leichtigkeit genommen hatte.

„Warum nicht?“

Mittlerweile hatte er seinen Lehrer – jedenfalls für die nächsten Wochen – erreicht.

„Das hat verschiedene Gründe. Die Einen finden den Weg nicht her, die Anderen kommen einfach nicht, weil sie es sich anders überlegt haben. Nichts sonderlich Spektakuläres oder Außergewöhnliches.“

Mr. Brenner sah in den Wald hinein. Von ihrer Position aus konnte David sehen, dass der Wald rechts von ihm stark abflachte und beinahe in ein seichtes Tal hinüberging.

„Ich denke, es ist am sinnvollsten, wenn ich dir den Grund für die Lage der Schule hier erzähle.“

„Wie Sie wollen, Sir.“

„Dann setz dich. Wir müssen ohnehin gleich noch lange genug laufen“, sagte Brenner und deutete auf einen kleinen Vorsprung, der sich direkt vor ihnen befand. David setzte sich an die Kante und ließ seine Füße frei in der Luft baumeln. Gemächlich stellte Mr. Brenner den blauen Koffer ab und setzte sich neben David an den Rand des Vorsprungs.

„Es begann im 13. Jahrhundert, als der Wald und dieses Tal noch nicht in der Form existierten, wie sie es heute tun. Damals war das alles hier nicht mehr als Gras- und Buschland. Der Wald begann erst viele Kilometer weiter nördlich von dem Platz entfernt, wo wir jetzt grade sitzen, und unten im Tal gab es einen Fluss mit einem großen See“, erzählte er und zeigte auf eine große Mulde inmitten des flachen Waldgebietes. „An diesem See lebten die Shasta Indianer, die der Sprachfamilie der Sioux angehörten. Ihr Reservat reichte vom See bis zum Ende des Waldes. Ihre Unterstämme jedoch, die Achomawi und die Atsugewi lebten weiter im Süden des Landes, in der Nähe des Pit Rivers und am Hat Creek. So hatten die Shasta ein riesiges Territorium, welches sie frei besiedeln konnten. Das taten sie auch und schlugen großen Nutzen aus der Umgebung, die sie gewählt hatten. Nahrung fanden sie in Fischen aus dem See und den Beeren und Wurzeln der Büsche um sie herum. Aus dem Holz der Bäume bauten sie Kanus, um mit den Indianerstämmen im südlichen Oregon und an der Westküste Handel betreiben zu können. Sie handelten mit Muscheln, Fischen, Salz und manchmal sogar mit den Kanus selbst. Von der Westküste bekamen sie beispielsweise Obsidian, um Pfeilspitzen für die Jagd anfertigen zu können. Das ging auch viele Jahre lang gut so, und sie hatten keinerlei Probleme oder Mängel, über die sie sich hätten beklagen können. Doch eines Tages kam es wie es kommen musste, und das Leben, wie sie es kannten, änderte sich für immer. Von dort an, bis in alle Ewigkeit, galt dieses Ereignis als einer der größten Entdeckungen und Verbrechen zugleich.“

„Die Entdeckung Amerikas?“, fragte David und sah Mr. Brenner interessiert an.

„So ist es. Verzeihung, darf ich?“ Er zeigte auf die zweite unberührte Flasche Wasser, die in Davids Rucksack steckte.

„Klar.“

„Sehr nett von dir, danke“, bedankte Mr. Brenner sich und griff nach der Flasche. Er nahm einen Schluck daraus und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

„Als Christoph Kolumbus damals bei seiner eigentlichen Route nach Indien unerwartet auf einen ihm unbekannten Kontinent stieß, bewies er nicht nur, dass die Erde keine Scheibe ist. Er bewies auch, wie gierig und egoistisch die Menschen sind. Die Entdeckung Amerikas ist eine wahre Bluttat, für die viele Menschen der indigenen Bevölkerung ihr Leben lassen mussten. Nach und nach drangen Spanier, Portugiesen, Niederländer, Franzosen und Engländer immer weiter in das Land ein. Die Spanier und Portugiesen beuteten die Ureinwohner regelrecht aus und nahmen ihnen alles, was ihnen lieb war. Keiner der eigenen Landsleute hatte moralische Bedenken dabei, schließlich waren es Heiden und Wilde. Ihre Gesetze erlaubten es ihnen sogar, weil es dem eigenen Land eine wirtschaftliche und politische Stärkung brachte. Auch die Kirche befürwortete die Ausbeutung. Man solle den Heiden alles nehmen, um sie für ihre Vergehen der Gottesleugnung und -lästerung gerecht zu bestrafen und dann zum christlichen Glauben zu bekehren.“

Mr. Brenner trank einen weiteren Schluck Wasser.

„Gesetzlich und religiös korrekter Völkermord. Ein wahres Paradoxon, nicht wahr?“

David nickte.

„Die Ironie ist beachtlich“, stimmte er ihm zu.

„So kann man es ausdrücken, ja“, bestätigte Brenner ihn und stellte die Wasserflasche neben sich auf den staubigen Boden.

„Was ist mit den Indianern im Tal passiert? Wurden sie auch ausgebeutet und versklavt?“, fragte David neugierig.

„Nun ja. Es gab nicht nur Mord und Totschlag bei der Invasion Amerikas. Die Franzosen zum Beispiel waren den Einheimischen nicht so feindlich gesinnt, wie die Portugiesen. Sie betrieben Handel mit ihnen, akzeptierten sie als Menschen und nutzten ihre Verbundenheit auch beim Siebenjährigen Krieg in Nordamerika. Die Shasta Indianer hatten das große Glück von ihnen und nicht von den plündernden Südeuropäern entdeckt zu werden. Trotz der Geschichten, die sie über die weißen Männer hinter dem großen See gehört hatten, begegneten sie ihnen offen und tolerant. Eine Tages kam es dazu, dass der führende General der Franzosen, Mathis <Bonhomme> Dubois, gemeinsam mit dem Häuptling der Shasta, Canowicakte, eine Übereinkunft traf, dass beide Völker Seite an Seite leben würden und sich unterstützen würden, wenn einer von ihnen in Not sei. Jedoch forderte Canowicakte, dass keiner von Dubois Männern je Hand an eine ehrbare Squaw legen würde. Er willigte ein, und das Abkommen war getroffen. Die Franzosen bezogen etwa einen Kilometer weiter ihre Lager und gaben den Indianern im Gegenzug dafür Waffen für die Jagd. Fortschrittlichere, tödlichere Waffen. Donnerbüchsen nannten die Indianer die Gewehre, die ihnen zwar geschenkt, aber nie wirklich verwendet wurden. Es war zu umständlich, ein Gewehr neu durchzuladen, wo sie doch in derselben Zeit bereits mehrere Pfeile hätten verschießen können. Einige Zeit funktionierte das Zusammenleben von Weißen und Roten gut, und beide Parteien schätzten sich sehr als Verbündete. Bis zu dem Tag, als einer der Weißen, sich entschloss, die Abmachung zu brechen.“

„Einer von Dubois Männern hatte mit einer Indianerfrau geschlafen?“

„Nicht wirklich.“

Mr. Brenner drehte sich zu David um.

„Dubois selbst war es. Und es war nicht nur irgendeine x-beliebige Squaw. Oh nein, ganz sicher nicht. Ausgerechnet Talutah, die Tochter des Häuptlings, war seine heimliche Liebe. Es war wie bei so vielen berühmten romantischen Paaren nichts weiter, als eine einzige Tragödie. Eine Tragödie mit einem tödlichen Ende“, erzählte er wissend.

„Wie kam es dazu?“, fragte David, der gebannt seinen Worten lauschte.

„Witashnah, eine unbedeutende Schönheit des Stammes, erfuhr von ihrer versteckten Liebe. Die Eifersucht hatte sie gepackt, da sie selbst heimlich ein Auge auf den jungen, französischen Soldaten geworfen hatte. In ihrem Zorn berichtete sie Canowicakte von dem Bruch der Abmachung mit den Franzosen und zerstörte damit alles. Der Häuptling beschloss, sich an dem ahnungslosen Dubois für seinen Verrat zu rächen. Gemeinsam mit dem Rat der Ältesten, stellte er ihm eine Falle, die ihm das Leben kosten würde. Bei einer scheinbar üblichen Besprechung überwältigten die Indianer ihn und warfen ihn in den See. Aufgrund der Ausbreitung der Pest hatten viele Menschen, so wie auch er, nie wirklich schwimmen gelernt. Für wenige, glückliche Augenblicke, die er mit Talutah gehabt hatte, musste er qualvoll sterben. Musste warten, bis sich seine Lungen so mit Wasser gefüllt hatten, dass er endlich sterben konnte. Das ist ein Tod, dessen Qualen für einen unbegreiflich sind, bis man sie selbst erlebt und förmlich bettelt, dass es aufhört, und man endlich sterben darf.“

Er legte eine Pause ein, sodass David darüber nachdenken konnte, ehe er ihm das Ende der Geschichte erzählen würde.

„Was passierte dann? Was war mit Talutah und was hat das mit dem Grund zu tun, warum die Schule mitten im Wald steht?“

„Nach dem Tod von Dubois brach ein Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen aus. Während die Weißen den Tod ihres Anführers rächen wollten, sahen die Roten in seinem Tod die Rache für die Schändung ihres Stammes. Ein tagelanger Kampf brach aus, aus dem die Weißen, dank ihrer Feuerwaffen, als Sieger hervorgingen. Niemand, außer Talutah, hatte von den Shasta überlebt. Sie hatte sich, nach dem Tod ihres Geliebten, entschieden, die Seite zu wechseln und war bei Ausbruch des Kampfes längst nicht mehr in den Reihen ihres Volkes. Wenige Monate, nachdem die Franzosen ihren ermordeten Anführer erfolgreich gerächt hatten, bekam sie ein Kind. Ein Halbblut. Es wurde in Frankreich, der Heimat ihres Vaters, zur Welt gebracht. Doch Talutah war krank. Ihr Immunsystem war überfordert mit den Krankheiten, die es in Europa gab und auf die es nicht vorbereitet war. In ihren letzten Sekunden, die sie noch unter den Lebenden weilte, schaffte sie es grade noch, den Namen ihres Kindes zu sagen. Lauriea.“

Davids Gesicht hellte sich auf. Allmählich begann er zu verstehen, wieso Mr. Brenner ihm die Geschichte über die Indianer und die Invasion Amerikas erzählt hatte.

„Lauriea war ein wundervolles Mädchen. Schlau, wunderschön und wissbegierig. Als sie erwachsen war, erfuhr sie, wer ihre Eltern waren und welches Schicksal beide ereilt hatte. Mit dem Wunsch nach Antworten kehrte sie zurück in das Land, in dem einst ihre Mutter gelebt hatte. Zu dieser Zeit war der Wald bereits etwas gewachsen und reichte fast bis an das ehemalige Lager der Shasta heran. Auf der Suche nach ihrer Herkunft stieß sie auf Jean Michel, einer der Soldaten, die vorher ihrem Vater gedient hatten. Er erzählte ihr alles über das Verhältnis ihrer Eltern, den Verrat an ihrem Vater und schließlich auch über dessen Ermordung. Sie erkannte, dass der wahre Grund für die Ermordung ihres Vaters nicht die Pein des Häuptlings, sondern schlichte Intoleranz war. Zusammen mit Michel fasste sie den Gedanken, ein Zeichen für die Toleranz und das Gedenken ihrer Eltern zu setzen. Ihre Idee war es, zwischen den beiden Lagern ein Gebäude zu errichten, in welchem Menschen jeder Hautfarbe, Herkunft und Besonderheit Akzeptanz finden würden. Ein Gebäude, in dem ihnen gelehrt werden konnte, wie wichtig es sei, offen und tolerant anderen gegenüber zu sein. Ein Ort des Wissens.“

„Eine Schule“, vollendete David, der die Geschichte nun endgültig verstanden hatte.

„Ich weiß. Die Entstehung der Schule ist voll von kitschigen Klischees und klingt so, als würde man sie in einer typisch romantischen Tragödie finden. Doch sie ist wahr und gilt bis heute. Jeder ist gleich und wird bei uns aufgenommen und akzeptiert. Es ist das Vermächtnis, welches Lauriea uns hinterlassen hat und wir bis heute fortführen, weil es wichtig ist, dass es Orte gibt, an denen niemand nach weiß oder schwarz, groß oder klein, dick oder dünn unterschieden wird. An Orten wie diesen ist jeder Mensch einfach Mensch“, beendete er seine Geschichte.

„Und der Wald? Sie haben gesagt, er war nicht immer hier. Und was ist mit dem See und dem Fluss passiert?“

„Kurze Zeit, nachdem Lauriea die Schule offiziell für eröffnet erklärt hatte, wurde weiter im Norden ein Staudamm errichtet. Der See und der Rest des Flusses trockneten aus. Lange Zeit später wollten Naturschützer den Bestand an Mammutbäumen sichern, da diese als bedrohte Art gelten. Ohne wirkliche Rücksicht auf die Schule oder das Leben der Menschen in der Umgebung zu nehmen, sorgten diese selbsterklärten Beschützer von Mutter Natur dafür, dass der Bestand nicht stabilisiert wurde, sondern aus dem Ruder geriet. Die großen Sägewerke begannen, die Aufforstung zu manipulieren und zahlten heimlich Bestechungsgelder an diejenigen, die mit dem Pflanzen der Bäume beauftragt waren. Sie hofften durch die deutlich überschrittenen Vorgaben an gepflanzten Bäumen, Aufträge zum Entfernen und Fällen der ungeplanten Bäume zu erlangen. Anstatt die Schule nur geringfügig im Wald verschwinden zu lassen, wurde sie über die Jahre hinweg immer mehr von geschmierten Naturschutzorganisationen regelrecht von der Außenwelt abgeschnitten. Jedoch hat die Holzindustrie noch nicht einen Cent damit verdienen können. Weitere Jahrzehnte gingen ins Land, und der Wald begann sich von selbst aufs Neue auszuweiten. Man erzählt sich Legenden über den Geist Canowicaktes, der nachts den Wald wachsen lässt, um das Land, auf dem er Rache für die Entehrung seiner Tochter genommen hat, für immer im Verborgenen zu halten. Und eines fernen Tages, wenn es vollständig in Vergessenheit geraten wäre, könne sein Geist zwischen den Stämmen der Bäume, die seine Trauer verstecken, Frieden finden und zur Ruhe kommen“, erklärte er ihm. David erwiderte nichts. Der Glaube an Geister und Übernatürliches war ihm schon immer fern gewesen. Für ihn bedeutete der Glaube an so etwas nur, dass jemand versuchte, eine gute Geschichte erzählen zu können. Sie waren nicht mehr, als ein Mittel zum Zweck. War eine Geschichte schlichtweg uninteressant oder öde, brauchte man sie nur mit Legenden und Mythen über Götter, Geister und anderen magischen Gestalten füllen, und schon war es vorbei mit langweilenden Fakten. Wie viele andere Sachen, waren sie nichts weiter, als ein Gestaltungs- und Unterhaltungsmittel in Erzählungen. So genannte Geisterjäger, die die Existenz von solchen paranormalen Aktivitäten beweisen wollten, glaubten daran, weil es ihnen Aufmerksamkeit und Geld einbrachte. Verängstigte und introvertierte Menschen waren ein gefundenes Fressen für sie. Unerklärliche Geräusche? Gegenstände, die sich von selbst bewegten? Ganz klar war das ein Geist, der sich bei ihnen eingenistet hat und nur gegen eine horrende Summe von den „Profis“ beseitigt oder ruhig gestellt werden könnte. Viele waren lediglich Opfer von Halluzinationen oder Einbildung gewesen, die sich durch den Placebo-Effekt, den die Geistervertreiber nutzten, beenden ließen. Andere nutzten die Einsamkeit der Menschen aus, die weder an Geister glaubten noch irgendetwas Seltsames erlebt hatten. Ihre schlichten Wünsche nach Beachtung und Kommunikation trieben sie dazu, Dinge zu erfinden, bloß, um nicht alleine sein zu müssen.

Mr. Brenner erhob sich und klopfte sich den Staub von der Hose. Auch David stand auf und setzte seinen Rucksack wieder auf seine Schultern.

„Ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg machen, wenn wir es noch rechtzeitig zum Essen schaffen wollen“, sagte Mr. Brenner.

„Keine schlechte Idee“, stimmte David ihm zu, „Wie weit ist es denn ungefähr?“

„Wenn wir dort hinten den schnellen Weg ins Tal nehmen, kommen wir an dem Punkt raus, wo einst das Lager der Franzosen stand. Von dort aus ist es noch etwa einen halben Kilometer bis zur Schule. Alles in allem ist es ein wenig mehr als einen Kilometer, den wir noch vor uns haben.“

David nickte und folgte ihm den Anstieg, den sie vorhin erst hinaufgegangen waren, wieder hinunter.

„Sir?“

„Ja, David?“

„Eine Frage hätte ich noch.“

„Bitte, nur zu. Du kannst mich alles fragen, was du willst.“

Die beiden erreichten den normalen Weg wieder und folgten ihm nun in die entgegengesetzte Richtung.

„Glauben Sie daran? An den Geist des trauernden Häuptlings?“, fragte er mit einem gewissen Sarkasmus in der Stimme.

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, es gibt ihn“, antwortete Mr. Brenner.

„Meinen Sie das ernst?“, fragte David verwirrt.

„Selbstverständlich. Ich bin kein großer Freund von Mythen und Legenden, musst du wissen.“

„Inwiefern macht dann Ihre Aussage Sinn, dass Sie daran glauben?“

„Abgesehen davon, dass ich eigentlich nie an solche Geschichten glaube, kann ich mir einfach keine andere Erklärung für das Wachsen des Waldes herleiten.“

„Ist es nicht normal, dass sich die Natur ausbreitet, wenn wir Menschen uns nicht einmischen?“

„Das zwar schon. Aber ein Wald, der in 20 Jahren mehrere Kilometer Fläche dazugewinnt? Wie kann da keine übernatürliche Kraft am Werk sein?“

„Ich verstehe nicht ganz. Was ist so besonders an den vielen Bäumen, die dazugekommen sind?“

„Die Antwort darauf ist so kurios, wie sie nur sein könnte. Sie waren allesamt ausgewachsen und so groß wie die bereits über achthundert Jahre alten Bäume. Sie sind nicht einfach gewachsen. Sie sind einfach aus dem Nichts erschienen.“

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