Читать книгу: «Krieg und Frieden», страница 33

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X

In der Morgenfrühe des 16. November brach Denisows Eskadron, in welcher Nikolai Rostow stand, und die zur Abteilung des Fürsten Bagration gehörte, aus ihrem Quartier auf. Es hieß, sie werde ins Gefecht kommen; aber nachdem sie, hinter anderen Kolonnen einherziehend, ungefähr eine Werst zurückgelegt hatte, erhielt sie Befehl, sich neben der Chaussee aufzustellen. Rostow sah, wie eine Kosakenabteilung an seiner Eskadron vorbei weiterzog, desgleichen die erste und zweite Eskadron seines Husarenregiments, und Infanteriebataillone und Artillerie, und wie die Generale Bagration und Dolgorukow mit ihren Adjutanten vorbeiritten. All die Furcht, der er an diesem Tag, ebenso wie früher, vor dem Gefecht unterworfen gewesen war, der ganze innere Kampf, mittels dessen er diese Furcht überwunden hatte, all seine Phantasien, in denen er sich ausgemalt hatte, wie er sich so recht husarenmäßig in diesem Gefecht auszeichnen wolle: das alles war nun vergebens gewesen. Seine Eskadron wurde in der Reserve zurückbehalten, und Nikolai Rostow verbrachte diesen Tag in recht langweiliger, verdrießlicher Weise. Zwischen acht und neun Uhr vormittags hörte er von vorn her Schießen und Hurrarufen, sah, wie Verwundete zurücktransportiert wurden (es waren ihrer nicht viele), und schließlich, wie inmitten einer Kosakeneskadron eine ganze Abteilung gefangener französischer Kavalleristen vorbeigeführt wurde. Offenbar war das Gefecht beendet, und es war augenscheinlich nicht groß, aber glücklich gewesen. Die auf dem Rückmarsch vorbeikommenden Soldaten und Offiziere erzählten von einem glänzenden Sieg, von der Einnahme der Stadt Wischau und von der Gefangennahme einer ganzen französischen Eskadron. Nach einem starken Nachtfrost war es ein klarer, sonniger Tag geworden; zu dem heiteren Glanz des Herbsttages kam nun noch die Siegesnachricht, die man nicht nur aus den Erzählungen der Teilnehmer am Kampf erfuhr, sondern auch durch die frohen Mienen der Soldaten, Offiziere, Generale und der nach der einen und nach der andern Seite vorbeisprengenden Adjutanten bestätigt fand. Um so schmerzlicher zog sich Nikolais Herz zusammen, der die ganze Furcht, die bei ihm immer einem Kampf vorherging, vergeblich durchgemacht hatte und diesen heiteren Tag in Untätigkeit hatte verbringen müssen.

»Komm her, Rostow, wir wollen unsern Kummer vertrinken!« rief Denisow, der sich am Rand der Chaussee bei einer Flasche und einem kalten Imbiß niedergelassen hatte.

Die Offiziere versammelten sich im Kreis um Denisows Proviantkorb, aßen und redeten miteinander.

»Da bringen sie noch einen!« sagte einer von ihnen und zeigte auf einen gefangenen französischen Dragoner, den zwei Kosaken zu Fuß vorbeitransportierten.

Der eine von ihnen führte das dem Gefangenen abgenommene große, schöne französische Pferd am Zügel.

»Verkaufe doch das Pferd!« rief Denisow dem Kosaken zu.

»Gern, Euer Wohlgeboren ...«

Die Offiziere standen auf und umringten die Kosaken und den gefangenen Franzosen. Der französische Dragoner war ein junger Bursche, ein Elsässer, der Französisch mit deutscher Färbung sprach. Er war vor Aufregung ganz außer Atem und hatte ein gerötetes Gesicht, und als er die Offiziere Französisch sprechen hörte, redete er sie schnell an, indem er sich bald an diesen, bald an jenen wendete. Er sagte, er würde sich nicht haben gefangennehmen lassen; daß er gefangengenommen sei, daran sei nicht er schuld, sondern sein Korporal, der ihn weggeschickt habe, um die Pferdedecken zu holen, obgleich er ihm gesagt habe, daß die Russen schon da seien. Alle Augenblicke sagte er dazwischen: »Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, und streichelte sein Pferd. Es war augenscheinlich, daß er sich nicht recht klar darüber war, wo er sich eigentlich befand. Bald entschuldigte er sich, daß er sich hatte gefangennehmen lassen, bald hatte er die Vorstellung, daß er seine Vorgesetzten vor sich habe, und suchte seine soldatische Pünktlichkeit und seinen Diensteifer ins rechte Licht zu setzen. So brachte er die eigentümliche Atmosphäre des französischen Heeres, die den Russen so fremd war, in ihrer ganzen Frische mit sich in unsere Vorhut hinein.

Die Kosaken verkauften das Pferd für zwei Dukaten, und Rostow, der jetzt, wo er Geld bekommen hatte, der reichste von den Offizieren war, kaufte es.

»Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, sagte der Elsässer gutherzig zu Rostow, als das Pferd einem Husaren übergeben wurde.

Lächelnd beruhigte Rostow den Dragoner darüber und gab ihm etwas Geld.

»Allö! Allö!« sagte der eine Kosak und berührte den Gefangenen am Arm, damit er weiterginge.

»Der Kaiser! Der Kaiser!« wurde plötzlich unter den Husaren gerufen.

Alles lief und hastete, und Rostow erblickte von hinten her auf dem Weg einige sich nähernde Reiter mit weißen Federbüschen. In einem Augenblick waren alle auf ihren Plätzen und warteten.

Rostow hatte gar kein Bewußtsein und Gefühl davon, wie er an seinen Platz lief und sich auf sein Pferd setzte. Verschwunden war augenblicklich sein schmerzliches Bedauern darüber, daß er nicht hatte am Kampf teilnehmen können, verschwunden die Alltagsstimmung, in der er sich inmitten der ihm schon so langweilig gewordenen Gesichter befunden hatte, verschwunden sofort jeder Gedanke an seine eigene Person: sein Herz war ganz erfüllt von der Glücksempfindung, die die Nähe des Kaisers in ihm hervorrief. Schon allein durch diese Nähe fühlte er sich für den Verlust des heutigen Tages entschädigt. Er war glücklich wie ein Verliebter, dem die ersehnte Begegnung endlich zuteil wird. Er wagte nicht, in Reih und Glied den Kopf zu drehen; aber er empfand mit dem Instinkt der Begeisterung die Annäherung des Kaisers. Und zwar merkte er das nicht nur an dem Klang der Hufschläge der sich nähernden Kavalkade, sondern er fühlte es daran, daß, je näher sie herankam, um so heller, freudiger, bedeutsamer, festtäglicher alles um ihn herum wurde. Immer mehr und mehr näherte sich ihm diese Sonne, Strahlen milden, majestätischen Lichtes um sich verbreitend, und nun fühlte er sich schon von diesen Strahlen umflossen, er hörte die Stimme des Kaisers, diese freundliche, ruhige Stimme, die zugleich so majestätisch und so schlicht klang. Eine Totenstille war eingetreten, wie es auch nach Rostows Empfindung gar nicht anders sein konnte, und in dieser Stille ertönte die Stimme des Kaisers.

»Die Pawlograder Husaren?« sagte er im Ton der Frage.

»Die Reserve, Euer Majestät«, antwortete eine andere Stimme, eine recht menschenartige Stimme nach jener einer höheren Welt angehörigen Stimme, die gesagt hatte: »Die Pawlograder Husaren?«

Der Kaiser war nun bis zu Rostow gelangt und hielt an. Das Gesicht Alexanders war noch schöner als bei der Truppenschau vor drei Tagen. Es glänzte von einer solchen Heiterkeit und Jugendfrische, von einer so unschuldsvollen Jugendfrische, daß es an die ausgelassene Munterkeit eines vierzehnjährigen Knaben erinnerte, und doch war es dabei zugleich das Antlitz eines majestätischen Herrschers. Während der Kaiser einen musternden Blick über die Eskadron gleiten ließ, begegneten seine Augen zufällig den Augen Rostows und blieben nicht länger als zwei Sekunden auf ihnen haften. Ob der Kaiser erkannte, was in Rostows Seele vorging, war wohl schwer zu sagen (Rostow war der Meinung, daß der Kaiser alles erkenne); aber er blickte ihm zwei Sekunden lang mit seinen blauen Augen, denen ein mildes, sanftes Licht entströmte, ins Gesicht. Dann zog er auf einmal die Brauen in die Höhe, stieß mit einer scharfen Bewegung des linken Fußes das Pferd an und galoppierte weiter in der Richtung nach vorn.

Der junge Kaiser hatte dem Wunsch, bei dem Kampf zugegen zu sein, nicht widerstehen können, hatte trotz aller Gegenvorstellungen seiner Umgebung um zwölf Uhr die dritte Kolonne, die er bis dahin begleitet hatte, verlassen und war in scharfer Gangart zur Vorhut geritten. Aber noch ehe er zu den Husaren gelangt war, waren ihm einige Adjutanten mit der Nachricht von dem glücklichen Ausgang des Kampfes entgegengekommen.

Das Treffen, das eigentlich nur darin bestanden hatte, daß eine französische Eskadron besiegt worden war, wurde als ein glänzender Sieg über die Franzosen dargestellt, und daher waren der Kaiser und die ganze Armee (namentlich solange sich der Pulverrauch noch nicht von dem Kampfplatz verzogen hatte) des Glaubens, die Franzosen seien besiegt und auf einem unfreiwilligen Rückzug begriffen. Einige Minuten, nachdem der Kaiser vorbeigeritten war, wurde auch diese Eskadron der Pawlograder nach vorn beordert. In dem kleinen deutschen Städtchen Wischau sah Rostow den Kaiser noch einmal. Auf dem Marktplatz, wo vor der Ankunft des Kaisers ein ziemlich heftiges Schießen stattgefunden hatte, lagen einige Gefallene und Verwundete, die man noch nicht Zeit gefunden hatte wegzuschaffen. Der Kaiser, von seiner militärischen und nichtmilitärischen Suite umgeben, ritt ein anderes Pferd als bei der Truppenschau, eine anglisierte Fuchsstute; sich zur Seite herabbiegend, hielt er mit einer anmutigen Bewegung seine goldene Lorgnette vor die Augen und betrachtete durch sie einen Soldaten, der mit dem Gesicht nach unten, ohne Tschako, mit blutigem Kopf dalag. Der verwundete Soldat sah so unsauber, plump und garstig aus, daß sich Rostow von dessen Anwesenheit in nächster Nähe des Kaisers peinlich berührt fühlte. Rostow sah, daß die herabgebeugten Schultern des Kaisers wie von einem durch sie hinlaufenden Schauder zusammenzuckten; er sah, daß der linke Fuß des Kaisers krampfhaft mit dem Sporn das Pferd in die Seite stieß, daß aber das dressierte Tier sich gleichmütig umsah und sich nicht von der Stelle rührte. Ein Adjutant stieg vom Pferd, faßte den Soldaten unter die Arme und schickte sich an, ihn auf eine schnell herbeigebrachte Tragbahre zu legen.

»Sachte, sachte, geht es denn nicht sachter?« sagte der Kaiser, der offenbar mehr litt als der sterbende Soldat, und ritt weiter.

Rostow sah, daß dem Kaiser die Tränen in den Augen standen, und hörte, wie er im Weiterreiten auf französisch zu Czartoryski sagte:

»Der Krieg ist doch etwas Furchtbares, etwas ganz Furchtbares!«

Die zur Vorhut gehörigen Truppen lagerten sich vor Wischau, gegenüber der feindlichen Vorpostenkette, die während dieses ganzen Tages stets vor den Unsrigen zurückgewichen war, sobald diese auch nur einige wenige Schüsse abgegeben hatten. Der Vorhut wurde der Dank des Kaisers ausgesprochen, es wurden ihr Belohnungen in Aussicht gestellt, und an die Mannschaften wurden doppelte Rationen Branntwein verteilt. Noch lustiger als in der vorhergehenden Nacht knisterten die Biwakfeuer und tönten die Lieder der Soldaten. Denisow feierte in dieser Nacht seine Beförderung zum Major, und gegen Ende des Gelages brachte Rostow, der schon ziemlich viel getrunken hatte, einen Toast auf den Kaiser aus, aber »nicht auf Seine Majestät, unsern Allergnädigsten Kaiser und Herrn, wie es bei offiziellen Diners heißt«, sagte er, »sondern auf die Gesundheit unseres lieben, guten Kaisers, des bezaubernden, herrlichen Menschen; trinken wir auf seine Gesundheit und auf den sicheren Sieg über die Franzosen!«

»Wenn wir uns schon früher brav geschlagen haben«, sagte er, »und, wie bei Schöngrabern, uns von den Franzosen nichts haben gefallen lassen, wie wird es nun erst jetzt gehen, wo er an unserer Spitze ist? Wir alle werden gern für ihn sterben, werden mit Wonne für ihn sterben. Nicht wahr, meine Herren? Vielleicht treffe ich nicht die richtigen Ausdrücke; ich habe viel getrunken; aber das ist meine Empfindung, und gewiß auch die Ihrige. Auf die Gesundheit Alexanders des Ersten! Hurra!«

»Hurra!« riefen die Offiziere in hoher Begeisterung.

Auch der alte Rittmeister Kirsten schrie begeistert mit und nicht minder herzlich als der zwanzigjährige Rostow.

Als die Offiziere ausgetrunken und ihre Gläser zerschlagen hatten, goß Kirsten andere Gläser voll und ging, nur in Hemd und Hose, mit einem Glas in der Hand, zu den Biwakfeuern der Mannschaften hin. In imponierender Haltung, den rechten Arm hoch erhoben, mit seinem langen, grauen Schnurrbart und der behaarten Brust, die unter dem offenstehenden Hemd sichtbar wurde, blieb er im Schein eines Feuers stehen.

»Kinder, auf die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers und auf den Sieg über die Feinde, Hurra!« rief er mit seiner, trotz des Alters immer noch frisch und jugendlich klingenden Husarenstimme, einem hübschen Bariton.

Die Husaren drängten sich um ihn und antworteten alle zugleich mit lautem Geschrei.

Als spät in der Nacht alle Teilnehmer des Zechgelages sich entfernt hatten, klopfte Denisow mit seiner kurzfingerigen Hand seinem Liebling Rostow auf die Schulter.

»Nun sehe mal einer diesen Burschen an! Weil er in dem Feldzug niemand hat, in den er sich verlieben könnte, hat er sich in den Zaren verliebt«, sagte er.

»Denisow, darüber darfst du nicht spotten!« rief Rostow. »Das ist ein so hohes, so schönes Gefühl, ein so ...«

»Ich glaube es, ich glaube es, Freundchen, und ich teile dieses Gefühl und billige es durchaus ...«

»Nein, du hast kein Verständnis dafür!«

Rostow stand auf und schlenderte zwischen den Lagerfeuern umher und erging sich in Träumereien darüber, welch ein Glück es wäre zu sterben, nicht als Lebensretter des Kaisers (davon wagte er gar nicht zu träumen), sondern einfach nur vor den Augen des Kaisers. Er war tatsächlich in den Kaiser verliebt und in den Ruhm der russischen Waffen und in die Hoffnung auf den bevorstehenden Sieg und Triumph. Und er war nicht der einzige, den dieses Gefühl in jenen denkwürdigen Tagen erfüllte, die der Schlacht bei Austerlitz vorhergingen; neun Zehntel der russischen Armee waren damals, wenn auch weniger enthusiastisch als er, in ihren Zaren und in den Ruhm der russischen Waffen verliebt.

XI

Am folgenden Tag blieb der Kaiser in Wischau. Sein Leibarzt Villiers wurde mehrere Male zu ihm gerufen. Im Hauptquartier und bei den in der Nähe lagernden Truppenteilen war die Nachricht verbreitet, dem Kaiser sei nicht wohl. Er hatte, wie aus seiner Umgebung verlautete, nichts gegessen und die letzte Nacht schlecht geschlafen. Der Grund dieses Unwohlseins lag in dem starken Eindruck, den der Anblick der Verwundeten und Getöteten auf das weiche Herz des Kaisers gemacht hatte.

Am frühen Morgen des 17. November wurde von den Vorposten ein französischer Offizier, der mit einer Parlamentärsflagge gekommen war und gebeten hatte, den Kaiser von Rußland sprechen zu dürfen, nach Wischau geleitet. Dieser Offizier war Savary. Der Kaiser war eben erst eingeschlafen, und daher mußte Savary warten. Um Mittag wurde er beim Kaiser vorgelassen, und eine Stunde darauf ritt er zu den Vorposten der französischen Armee zurück, begleitet von dem Fürsten Dolgorukow.

Wie man hörte, bestand der Zweck der Sendung Savarys darin, dem Kaiser Alexander den Vorschlag zu einer Zusammenkunft mit Napoleon zu machen. Eine persönliche Zusammenkunft war von Kaiser Alexander zur großen Freude und stolzen Genugtuung des ganzen Heeres abgelehnt worden; statt dessen wurde nun Fürst Dolgorukow, der Sieger von Wischau, mit Savary zusammen abgesandt, um mit Napoleon zu verhandeln, falls dem Verlangen desselben nach Verhandlungen wider Vermuten wirklich der Wunsch, Frieden zu schließen, zugrunde liegen sollte.

Am Abend kehrte Dolgorukow zurück, begab sich direkt zum Kaiser und blieb lange mit ihm allein unter vier Augen.

Am 18. und 19. November rückten die russischen Truppen noch zwei weitere Tagesmärsche vor, und die feindlichen Vorposten wichen zurück, nachdem wenige Schüsse gewechselt waren. In den höheren Rängen der Armee hatte am Morgen des 19. eine lebhafte Tätigkeit und unruhige Geschäftigkeit begonnen, die sich bis zum Morgen des folgenden Tages, des 20. November, fortsetzte, an welchem die so denkwürdige Schlacht bei Austerlitz geschlagen wurde.

Bis zum Mittag des 19. beschränkte sich diese Bewegung, die lebhaften Gespräche, das Hin- und Herlaufen, das Senden von Adjutanten, auf das Hauptquartier der Kaiser; am Nachmittag desselben Tages übertrug sich die Bewegung auf das Hauptquartier Kutusows und auf die Stäbe der Unterbefehlshaber. Am Abend wurde durch Adjutanten diese Bewegung nach allen Enden und Teilen der Armee hin verbreitet, und in der Nacht vom 19. zum 20. brach die achtzigtausendköpfige Masse des verbündeten Heeres aus ihren Quartieren auf, ein Stimmengebraus erhob sich, und wogend wie eine riesige, neun Werst lange Leinwandbahn rückte sie vorwärts.

Die innerste Bewegung, die am Vormittag im Zentrum, dem Hauptquartier der Kaiser, begonnen und den Anstoß zu der gesamten weiteren Bewegung gegeben hatte, war der ersten Bewegung des Mittelrades einer großen Turmuhr ähnlich. Langsam hat sich das eine Rad in Bewegung gesetzt; nun dreht sich ein zweites, ein drittes, und immer schneller und schneller beginnen sich die Räder, die Rollen, die Walzen zu drehen, das Glockenspiel erklingt, die Figuren springen heraus, und gemessen rücken die Zeiger vor, die das Resultat der Bewegung anzeigen.

Auch in dem Mechanismus des Kriegswesens setzt sich ebenso unaufhaltsam wie in dem Mechanismus einer Uhr die einmal hervorgerufene Bewegung bis zum letzten Resultat fort, und in ebenso teilnahmsloser Ruhe verharren bis unmittelbar zu dem Augenblick, wo ihnen die Bewegung mitgeteilt wird, diejenigen Teile des Mechanismus, bis zu denen die Aktion noch nicht gelangt ist. Die Räder quietschen auf ihren Achsen und greifen mit den Zähnen ineinander; es pfeifen infolge der schnellen Umdrehung die Walzen; aber das benachbarte Rad bleibt so ruhig und regungslos, als ob es vorhätte, jahrhundertelang so ohne Bewegung dazustehen; nun jedoch ist der Augenblick gekommen, ein Hebel greift ein, und dieser Einwirkung gehorchend, beginnt das Rad knarrend sich zu drehen und schließt sich der allgemeinen Tätigkeit an, deren Resultat und Ziel ihm unbekannt sind.

Wie bei der Uhr das Resultat der komplizierten Bewegung der zahllosen verschiedenen Räder und Walzen nur die langsame, gleichmäßige Bewegung der Zeiger ist, die die Zeit angeben, ebenso war auch bei den Menschen das Resultat all der komplizierten Bewegungen dieser hundertundsechzigtausend Russen und Franzosen (das Resultat all der Leidenschaften, Wünsche, Sinnesänderungen, Demütigungen, Leiden, Äußerungen des Stolzes und der Furcht und der Begeisterung) nur der Verlust der Schlacht bei Austerlitz, der sogenannten Dreikaiserschlacht, das heißt, die langsame Fortbewegung des Zeigers der Weltgeschichte auf dem Zifferblatt der Geschichte des Menschengeschlechtes.

Fürst Andrei hatte an diesem Tag Dejour und befand sich dauernd um die Person des Oberkommandierenden.

Zwischen fünf und sechs Uhr abends kam Kutusow in das Hauptquartier der Kaiser, und nachdem er eine kurze Zeit bei dem Kaiser von Rußland gewesen war, begab er sich zu dem Oberhofmarschall Grafen Tolstoi.

Bolkonski benutzte diese Zeit, um zu Dolgorukow zu gehen und sich bei ihm nach den Einzelheiten der militärischen Operationen zu erkundigen. Er hatte gemerkt, daß Kutusow über etwas verstimmt und mit etwas unzufrieden war, und daß man auch im Hauptquartier mit dem Oberkommandierenden nicht zufrieden war, und daß alle diese Herren vom kaiserlichen Hauptquartier demselben gegenüber einen Ton anschlugen, als wüßten sie etwas, was andere Leute nicht wüßten. Darum lag dem Fürsten Andrei daran, mit Dolgorukow zu sprechen.

»Nun, seien Sie willkommen, mein Lieber«, sagte Dolgorukow, der mit Bilibin beim Tee saß. »Morgen gibt's einen großen Festtag. Was macht denn Ihr alter Herr? Er ist wohl übler Laune?«

»Daß er übler Laune wäre, kann ich nicht gerade sagen; er hat wohl nur den Wunsch, gehört zu werden.«

»Man hat ihn ja im Kriegsrat angehört, und man wird ihn auch weiter anhören, wenn er sich entschließt, vernünftig zu reden; aber jetzt zu zögern und noch auf irgend etwas zu warten, jetzt, wo Bonaparte vor nichts solche Furcht hat wie vor einer Entscheidungsschlacht, das ist geradezu unmöglich.«

»Sie haben ihn ja wohl gesehen«, sagte Fürst An drei. »Nun, was ist dieser Bonaparte für ein Mann? Was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«

»Ja, ich habe ihn gesehen und die Überzeugung gewonnen, daß er vor nichts in der Welt solche Furcht hat wie vor einer Entscheidungsschlacht«, sagte Dolgorukow noch einmal, der auf diese allgemeine Folgerung, die er aus seiner Zusammenkunft mit Napoleon zog, offenbar großen Wert legte. »Wenn er sich nicht vor einer Schlacht fürchtete, was hätte er dann für Grund gehabt, eine Unterredung zu verlangen, Unterhandlungen einzuleiten und, was die Hauptsache ist, zurückzuweichen, obgleich doch das Zurückweichen der gesamten Methode seiner Kriegführung zuwiderläuft? Glauben Sie mir: er hat Furcht, Furcht vor einer Entscheidungsschlacht. Sein Stündlein hat geschlagen; das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen.«

»Aber erzählen Sie doch: was ist er für ein Mann? Wie benimmt er sich?« fragte Fürst Andrei noch einmal.

»Er trug einen grauen Rock und wünschte lebhaft, daß ich ›Euer Majestät‹ zu ihm sagen möchte; aber ich habe ihn zu seiner großen Kränkung mit keinem Titel angeredet. So ein Mensch ist das; weiter ist über ihn nichts zu sagen«, antwortete Dolgorukow und sah Bilibin lächelnd an.

»Trotz meiner vollkommenen Hochachtung vor dem alten Kutusow«, fuhr er fort, »muß ich doch sagen: wir wären alle gar zu töricht, wenn wir jetzt auf etwas warten wollten und ihm damit die Möglichkeit gäben, davonzugehen oder uns zu täuschen, während wir ihn jetzt sicher in unserer Gewalt haben. Nein, wir dürfen Suworow und seinen Grundsatz nicht vergessen: nicht die Rolle dessen, der angegriffen wird, zu übernehmen, sondern selbst anzugreifen. Glauben Sie mir: im Krieg zeigt die Energie der jüngeren Leute oft richtiger den Weg als alle Erfahrung der alten Zauderer.«

»Aber wenn wir ihn angreifen wollen, gegen welche Position sollen wir denn dann unsern Angriff richten?« sagte Fürst Andrei. »Ich bin heute bei den Vorposten gewesen; aber es war unmöglich, zu erkennen, wo er eigentlich mit seiner Hauptmacht steht.«

Er hätte gern dem Fürsten Dolgorukow den Angriffsplan entwickelt, den er selbst entworfen hatte.

»Ach, das ist ganz gleichgültig«, erwiderte Dolgorukow schnell, stand auf und breitete eine Landkarte auf dem Tisch aus. »Es sind alle Möglichkeiten vorhergesehen: wenn er bei Brünn steht ...«

Und Fürst Dolgorukow setzte eilfertig und in unklarer Weise Weyrothers Plan einer Flankenbewegung auseinander.

Fürst Andrei wollte Einwendungen machen und seinen eigenen Plan darlegen, der ja auch vielleicht ebensogut war wie Weyrothers Plan, aber den Fehler hatte, daß Weyrothers Plan bereits genehmigt war. Sowie Fürst Andrei angefangen hatte, die Nachteile jenes Planes und die Vorzüge seines eigenen zu erörtern, hörte Fürst Dolgorukow ihm nicht mehr zu und blickte zerstreut nicht mehr auf die Landkarte, sondern nach dem Gesicht des Fürsten Andrei.

»Übrigens wird heute noch bei Kutusow ein Kriegsrat abgehalten«, sagte Dolgorukow. »Da können Sie das ja alles vortragen.«

»Das werde ich auch tun«, sagte Fürst Andrei und trat von der Karte zurück.

»Worüber machen Sie sich denn eigentlich Sorgen, meine Herren?« sagte Bilibin, der bisher mit heiterem Lächeln ihrem Gespräch zugehört hatte und sich jetzt offenbar anschickte, einen Scherz zu machen. »Ob es nun morgen einen Sieg oder eine Niederlage gibt, der Ruhm der russischen Waffen ist außer Gefahr. Abgesehen von unserm Kutusow ist kein einziger höherer russischer Truppenführer dabei. Die Führer sind: der Herr General Wimpffen, Graf Langeron, Fürst Liechtenstein, Fürst Hohenlohe und endlich Prischprschiprsch, wie ja alle polnischen Namen klingen.«

»Still, still, was haben Sie für eine böse Zunge!« sagte Dolgorukow. »Es ist übrigens nicht wahr; es sind schon jetzt außer Kutusow noch zwei Russen dabei, Miloradowitsch und Dochturow, und es würde auch noch ein dritter dabei sein, Graf Araktschejew, wenn er nicht so schwache Nerven hätte.«

»Aber ich glaube, Michail Ilarionowitsch ist vom Grafen Tolstoi wieder herausgekommen«, sagte Fürst Andrei. »Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg, meine Herren«, fügte er hinzu, drückte dem Fürsten Dolgorukow und Bilibin die Hand und ging hinaus.

Bei der Heimfahrt konnte sich Fürst Andrei nicht enthalten, den schweigsam neben ihm sitzenden Kutusow zu fragen, was er über die morgige Schlacht denke.

Kutusow blickte seinen Adjutanten finster an und antwortete nach kurzem Schweigen:

»Ich glaube, daß wir die Schlacht verlieren werden, und das habe ich auch dem Grafen Tolstoi gesagt und ihn gebeten, es dem Kaiser mitzuteilen. Nun, und was meinst du, hat er mir geantwortet? ›Mein lieber General, ich habe mich um den Reis und die Koteletts zu kümmern; die Kriegsangelegenheiten, das ist Ihre Sache.‹ Ja, so hat man mir geantwortet.«

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