Читать книгу: «Polizeirelevante psychische Störungen», страница 3

Шрифт:

2.6 Diathese-Stress-Modell

Das Diathese-Stress-Modell ist ein heute dominierender integrativer Ansatz, der biologische, psychische und soziale Faktoren zur Erklärung der Entstehung und des Verlaufs psychischer Störungen vereint. Man geht davon aus, dass zur Entwicklung einer Störung sowohl Diathese (Disposition, Vulnerabilität) als auch Stress nötig sind; ein einzelner Faktor allein führt in der Regel nicht zum Ausbruch. Diathese beschreibt dabei die Neigung/Verletzbarkeit/Anfälligkeit eines Menschen, auf besondere Weise auf belastende Umweltereignisse zu reagieren. Diese Neigung kann in einer biologischen Disposition (wie z. B. genetische und neurobiologische Faktoren) oder in psychologischen (wie z. B. früher Verlust oder Trauma) oder auch sozialen Faktoren (z. B. familiäre Sozialisation, soziale Schicht, Bildung) begründet sein, die wiederum jeweils in Wechselwirkung zueinander stehen. Hat jemand eine Vulnerabilität für eine bestimmte Störung, erhöht sich das Erkrankungsrisiko – die Störung muss jedoch erst durch aktuelle Stressoren ausgelöst werden. Mit Stressoren sind dabei aktuelle ungünstige Umweltreize gemeint, wie z. B. einschneidende traumatische Erlebnisse (z. B. Scheidung) oder auch alltäglichere Ereignisse (z. B. Stress am Arbeitsplatz). In Abhängigkeit von der Stärke der Disposition wird eine Störung durch niedrige oder hohe Stresslevel ausgelöst. Wenn gar keine Disposition vorhanden ist, ist das Stresslevel nicht relevant.

Davison, Neale & Hautzinger (2007): Klinische Psychologie:

Kapitel 2.7 „Das Diathese-Stress-Modell: Ein integratives Paradigma“ (S. 53–55)

Übungsaufgaben

2.1 Lesen Sie das folgende Fallbeispiel und beantworten Sie folgende Fragen:

– Wie würden Sie mit dem Diathese-Stress-Modell das Auftreten der Depression bei Frau M. erklären?

– Welche möglichen Erfahrungen der Patientin haben die Störung verursacht (welche Faktoren bilden die Diathese/Vulnerabilität für die Depression, was sind die Stressoren)? Hier können Sie auch über die Angaben im Text hinaus Hypothesen bilden.

Fallbeispiel

Frau M., eine 38-Jährige Fabrikarbeiterin, war bereits seit 2 Monaten depressiv, als sie einen Psychologen aufsuchte. Wie sie berichtete, hatte sie keine glückliche Kindheit gehabt. Als sie 6 Jahre alt war, starb ihre Mutter, die sie sehr geliebt hatte. In den folgenden Jahren lebte sie abwechselnd bei ihrem Vater oder der Schwester ihrer verstorbenen Mutter. Ihr Vater litt allerdings an wiederkehrenden depressiven Episoden und trank zum Teil sehr viel. Er hatte kein geregeltes Einkommen und es war nie genug Geld da, um fällige Rechnungen zu bezahlen. Zuweilen war der Vater unfähig, sich um sie zu kümmern, so dass sie oft auf sich allein gestellt war und sich oftmals überfordert fühlte. Sie verbrachte dann manchmal Wochen, manchmal auch Monate bei ihrer Tante in einem nahegelegenen Vorort. Dies erschwerte zudem das Knüpfen fester Freundschaften und führte dazu, dass sie das Gefühl bekam, nichts im Leben selbst beeinflussen und gestalten zu können.

Trotz dieser Beeinträchtigungen hatte sie es geschafft, ihre Lehre zu beenden und eine Anstellung zu finden; seit dem ersten Kind hatte sie allerdings für mehrere Jahre ihre Berufstätigkeit eingestellt. Als Mutter von 4 Kindern hatte sie dann vor 3 Jahren wieder angefangen zu arbeiten, weil die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen es der Familie unmöglich machte, allein vom Geld des Ehemannes zu leben.

Sieben Monate später wurde sie aber plötzlich entlassen und die finanzielle Situation der Familie verschlimmerte sich. Die ständigen Geldsorgen führten zu verstärkten Auseinandersetzungen mit ihrem Mann. Dabei ging es nicht nur ums Geld, sondern auch um die Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen eine schwierige Phase hatten, was hohe Anforderungen an sie als Eltern stellte und zum Teil Grund zur Sorge bereitete. Dann begannen ihre Schlafschwierigkeiten, sie verlor den Appetit und nahm ab. Sie hatte nur noch wenig Energie und verlor das Interesse an Tätigkeiten, die ihr früher Freude bereitet hatten. Obwohl sie stundenlang vor dem Fernseher saß, konnte sie sich nicht für die Sendungen interessieren, die sie früher gern gesehen hatte. Die Erfüllung ihrer Haushaltspflichten wurde unmöglich und ihr Ehemann beklagte sich und machte ihr zunehmend Druck, was zu weiteren Streitereien führte. Nun hatte er ihr mitgeteilt, sich zu trennen, wenn sie sich nicht Hilfe suche.

(modifiziert nach Davison, Neale & Hautzinger, 2007, S. 3 und S. 307)

3 Persönlichkeitsstörungen
3.1 Was sind Persönlichkeitsstörungen?

Persönlichkeitsstörungen (PS) sind überdauernde Erlebens- und Verhaltensmuster, die sich für jede PS in unterschiedlich charakteristischer Weise äußern. Das heißt, Menschen mit PS weichen von einem flexiblen, situationsangemessenen Erleben und Verhalten ab (z. B. in Einstellungen, Affekt, Denken, Impulskontrolle oder Beziehungen) und kennzeichnen sich stattdessen durch relativ starre, stark unangepasste Erlebens- und Verhaltensreaktionen, die für ihre PS spezifisch sind (z. B. reagieren Narzissten bei jeglicher, auch konstruktiver, Kritik wütend und aggressiv). Dies zeigt sich vor allem in Situationen, die für die Betroffenen konflikthaft sind. Die Erlebens- und Verhaltensmuster sind so starr, dass sie die Betroffenen gemäß der Definition psychischer Störungen erheblich in ihren Fähigkeiten und Funktionen im Sozial- oder Berufsleben beeinträchtigen. Diese Beeinträchtigungen werden von den Betroffenen selbst jedoch kaum wahrgenommen. Wie jeder andere erleben sie ihre (erkrankte) Persönlichkeit nicht als fremd, sondern als Teil ihrer eigenen Person (Ich-Syntonie). So sehen sie ihr Verhalten auch nicht als ungewöhnlich oder abweichend – selbst dann nicht, wenn sie stark unter den Folgen ihres Verhaltens leiden. Erst in der Interaktion mit Anderen wird den Betroffenen ihre Unangepasstheit bewusst (z. B. durch Kritik und Rückmeldung), denn von Anderen wird ihr Verhalten als unangemessen und normverletzend und ihre Persönlichkeit als extrem und störend wahrgenommen, sodass es immer wieder zu Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen und Beziehungen kommt. Aus diesem Grund werden PS auch als Interaktionsstörungen bezeichnet und benötigen zur Diagnostik häufig die Außenperspektive. Aufgrund dieser Besonderheit der Ich-Syntonie bleiben viele PS unerkannt oder unbehandelt und die Häufigkeiten von Betroffenen werden oft unterschätzt. Schätzungsweise leiden etwa 5 bis 10 % der Erwachsenen an einer PS. Unter Strafgefangenen im offenen Vollzug liegt dieser Anteil allerdings schon bei mindestens 50 %.

3.2 Entstehung von Persönlichkeitsstörungen

Die Entwicklung von PS beginnt bereits in der Kindheit oder Jugend. Als Ursachen der Entstehung wird ein komplexes Wechselspiel verschiedener begünstigender (biologischer und genetischer, psychologischer und sozialer/umgebungsbedingter) Faktoren angenommen. Als entscheidend werden auch prägende Erfahrungen während der Kindheit angesehen, wie z. B. die Eltern-Kind-Beziehung (z. B. Erziehung, Bindung zu den Eltern) oder extrem belastende oder traumatische Erfahrungen (z. B. physischer oder sexueller Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung). Aversive Kindheitserfahrungen alleine machen jedoch noch nicht die Entwicklung einer PS aus; viel wichtiger ist, wie diese Erfahrungen individuell erlebt werden. Zudem kann auch die weitere soziale Umwelt, z. B. durch mangelnde soziale Integration, eine PS begünstigen.

3.3 Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen

Während andere psychische Störungen eher ein qualitativ von der Norm abweichendes Erleben und Verhalten darstellen (= Art der Störung entscheidend, z. B. grundlegende Veränderung der Stimmung bei Depressiven oder der Realitätswahrnehmung bei der Schizophrenie), werden PS zunehmend als eine extreme Ausprägung einzelner, im Grunde „normaler“ Persönlichkeitszüge interpretiert (Persönlichkeitsstile reichen von „normal“ über „akzentuiert“ bis hin zu „gestört“). Bei dieser dimensionalen Betrachtungsweise werden PS also eher als eine quantitative Abweichung von der Erlebens- und Verhaltensnorm verstanden (= Ausmaß der Störung entscheidend). Dennoch erfassen die gängigen Klassifikationssysteme PS weiterhin vorrangig kategorial (PS liegt vor oder liegt nicht vor). Dabei werden PS anhand bestimmter Merkmalskonstellationen in Kategorien (ICD-10: F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen) oder Cluster (DSM-5: Cluster A „sonderbar, exzentrisch“, B „dramatisch, emotional, launisch“ und C „ängstlich, furchtsam“) ähnlich wie Prototypen eingeteilt. Nach dem Auftreten einer gewissen Anzahl von Merkmalen eines Prototyps wird eine spezifische PS diagnostiziert. Ein Problem dieser kategorialen Erfassung ist, dass sich viele PS in ihren Merkmalen überschneiden. Bei gleichem Störungsbild kann dies schnell zu verschiedenen Diagnosen führen (z. B. meiden Menschen mit paranoider und schizoider PS beide soziale Kontakte, jedoch aus unterschiedlichen Motiven).


Tabelle 2: Die wichtigsten Persönlichkeitsstörungen im Überblick
PersönlichkeitsstörungBeschreibung
Paranoide PS• Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen• Unterstellung feindlicher Motive anderer• Streitsüchtiges Bestehen auf eigene Rechte
Schizoide PS• Distanziertheit in sozialen Beziehungen• Begrenztes Vermögen, Gefühle zu zeigen• Übermäßige Vorliebe für Einzelgängertum
Schizotypische PS (nur im DSM-5)• Mangel an engen Beziehungen• Seltsame Überzeugungen und Wahrnehmungen• Eigentümliches, oft schrulliges Verhalten
Dissoziale PS (ICD-10)/Antisoziale PS (DSM-5)• Missachtung sozialer Normen, verantwortungslos• Niedrige Schwelle für aggressives Verhalten• Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein
Emotional-instabile PS (ICD-10)/Borderline-PS (DSM-5)• Instabilität in Beziehungen, Selbstbild und Affekten• Impulsivität, selbstschädigendes Verhalten
Histrionische PS• Dramatisierung, theatralisches Verhalten• Übertriebener Ausdruck von Gefühlen• Verlangen nach Aufregung und Aufmerksamkeit
Zwanghafte PS• Starke Beschäftigung mit Ordnung, Regeln, Details, Perfektion und Kontrolle• Übermäßige Gewissenhaftigkeit und Vorsicht
Ängstliche PS (ICD-10)/Vermeidend-selbstunsichere PS (DSM-5)• Soziale Gehemmtheit, Angst vor Ablehnung• Insuffizienzgefühle• Übermäßige Besorgtheit
Abhängige PS (ICD-10)/Dependente PS (DSM-5)• Starkes Bedürfnis versorgt zu werden• Unterwürfigkeit, Trennungsängste• Angewiesenheit auf andere bei Entscheidungen
Narzisstische PS (in der ICD-10 unter sonstige spezifische PS)• Gefühl der Großartigkeit; Selbstüberschätzung• Bedürfnis nach Bewunderung; Arroganz; Neid• Mangel an Empathie, Ausnutzen v. Beziehungen

In den folgenden Abschnitten (3.4 bis 3.8) werden ausgewählte, besonders polizeirelevante Persönlichkeitsstörungen vertiefend vorgestellt.

Comer (2008): Klinische Psychologie:

Kapitel 16 „Persönlichkeitsstörungen“ (S. 416–418; 442–443)

Fiedler & Herpertz (2016): Persönlichkeitsstörungen:

Kapitel 1.1.2 „Persönliche Stile“ (S. 24–25)

Kapitel 2 „Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung: 2 Seiten einer Medaille“ (S. 34–38)

Herpertz & Saß (2003): Persönlichkeitsstörungen:

Kapitel 2.5 „Klinische Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen“ (S. 8)

Schmeck & Schlüter-Müller (2009): Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter:

Kapitel 6.7 „Forensische Bedeutung von Persönlichkeitsstörungen“ (S. 103)

Wittchen & Hoyer (2011): Klinische Psychologie & Psychotherapie:

Kapitel 51 „Persönlichkeitsstörungen (S. 1105–1109)

Übungsaufgaben

3.1 Was sind die wichtigsten Unterschiede von Persönlichkeitsstörungen zu anderen psychischen Störungen?

3.2. In welchen Situationen und warum können Persönlichkeitsstörungen für die Polizei relevant sein?

3.4 Borderline-Persönlichkeitsstörung
3.4.1 Was ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung?

Die Borderline-PS oder auch emotional instabile PS zeichnet sich durch ein starkes Gefühl der innerlichen Zerrissenheit und des Chaos aus. Betroffene erleben dabei immer wieder starke Stimmungsschwankungen und schwere Depressions-, Angst- und Erregungszustände, die Stunden bis Tage anhalten können. Grund dafür sind ein instabiles Selbstbild und Selbstentwertung. Die Betroffenen neigen zudem zu Krisen und Impulsivität. Dies äußert sich z. B. in heftigen Wutanfällen, riskantem Sexualverhalten, Fressanfällen oder Substanzmissbrauch. Dieses und noch extremeres autoaggressives Verhalten, wie z. B. Suizidhandlungen und -drohungen oder selbstverletzendes Verhalten („Ritzen“), sind typisch für Menschen mit Borderline-PS (dies heißt jedoch umgekehrt nicht, dass bei selbstverletzendem Verhalten immer eine Borderline-PS vorliegt). Gelegentlich nutzen sie dieses autoaggressive Verhalten auch, um ihre Partner zu manipulieren und z. B. an einer Trennung zu hindern. In der Regel ist das selbstverletzende Verhalten aber vielmehr ein verzweifelter Versuch der Bekämpfung ihres tiefen Gefühls der inneren Leere („sich selbst wieder spüren“) sowie der immer wieder plötzlich einschießenden, starken innerlichen Anspannung. Letztere wird von den Betroffenen als äußerst unangenehm erlebt, kann aber keiner klaren Emotion zugeordnet werden. Das „Ritzen“ erfüllt dann die Funktion der vorübergehenden Selbstberuhigung. In den Situationen, in denen sich Personen mit einer Borderline-Störung selbst verletzen, hat ihr Gehirn zuvor meist so viel Cortisol (Stresshormone) ausgeschüttet, dass das Schmerzempfinden stark herabgesetzt ist.

Des Weiteren ist ihr Denken geprägt von Gegensätzlichkeit („Schwarz-Weiß-Denken“). Dieses Denkmuster setzt sich auch in Bezug auf andere fort, sodass es nach anfänglicher Idealisierung einer Person schnell zu Entwertung kommen kann. Denn Menschen mit Borderline-PS reagieren übermäßig stark und unangemessen auf Reize, die für andere kaum wahrnehmbar sind, sodass im Nachhinein der anderen Person böswillige Motive unterstellt werden und ihre Verhaltensweisen neu bewertet werden. Dies führt insgesamt zu instabilen und konflikthaften, aber sehr intensiven Beziehungen. Denn ihre Beziehungen sind geprägt von ihrem instabilen Selbstbild sowie der Angst, andere zu enttäuschen und verlassen zu werden, sodass sie viel Aufmerksamkeit und Bestätigung von ihrem Partner fordern. Insgesamt handelt es sich bei den Betroffenen meist um liebevolle und hochsensible Menschen, die in der Regel extrem sozial sind, aber große Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst, ihren intensiven Gefühlen und Anderen haben.

Typisch für die Borderline-PS sind auch vorrübergehende, aber schwere Depersonalisationssymptome („dissoziative Symptome“). Diese werden meist durch Belastungen oder hohe innerliche Erregung ausgelöst und äußern sich in gestörten Realitäts- und Körperempfindungen. Dabei kommt es z. B. zu einem verzerrten Raum-Zeit-Gefühl, Entfremdungsgefühlen oder einem sonstig veränderten Körpergefühl (z. B. vermindertes Schmerzempfinden, Bewegungslosigkeit, Neben-Sich-Stehen). Oft werden traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit auch so szenisch wiedererlebt, als würden sie gerade im gegenwärtigen Moment geschehen (Pseudohalluzinationen).

3.4.2 Entstehung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen

Bei der Entstehung der Borderline-PS kommt der Eltern-Kind-Beziehung eine besondere Bedeutung zu. Traumatische Erfahrungen (z. B. Vernachlässigung und Missbrauch), ein zurückweisendes Familienklima mit mangelnder Akzeptanz oder der Trivialisierung von Gefühlen sowie Verlusterfahrungen (z. B. durch Scheidung oder Todesfälle) werden als Ursache für das verminderte Selbstwertgefühl, die gesteigerte Abhängigkeit und das Unvermögen, Trennungen zu bewältigen, gesehen. Aber auch biologische Auffälligkeiten werden zur Erklärung der PS genutzt (z. B. genetische Disposition für impulsive Aggressivität, niedrige Serotoninaktivität und unzureichende kortikale Kontrolle im Gehirn). Bei stark belastenden Lebensereignissen spielen diese jedoch nur eine untergeordnete Rolle.

3.4.3 Polizei & Borderline-Persönlichkeitsstörungen

Es sind schätzungsweise 1,5 bis 2,5 % der Erwachsenen von der Borderline-PS betroffen, etwa 75 % der Diagnostizierten sind Frauen. Bei Männern geht die Störung aber mit mehr aggressiven bzw. antisozialen Verhaltensweisen einher.

Etwa 70 % aller Betroffenen begehen einen Suizidversuch, zwischen 6 und 10 % sind dabei erfolgreich. Damit ist die Suizidrate fast 50-mal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung, sodass Polizeibeamte oft wegen Suizidversuchen oder auch anderem autoaggressiven Verhalten (z. B. Selbstverletzungen, exzessiver Alkohol- oder Drogenkonsum) von Menschen mit Borderline-PS alarmiert werden. In diesen Fällen sind die Betroffenen ggf. in Zusammenarbeit mit medizinischem Personal in eine psychiatrische Einrichtung zu überführen. Auch ist unbedingt abzuklären, ob die zugefügten Selbstverletzungen unmittelbar medizinisch behandelt werden müssen, da es sich aufgrund des reduzierten Schmerzempfindens auch um schwerere Verletzungen (z. B. tiefe Schnitte) handeln kann.

Aufgrund der für die Borderline-Störung charakteristischen eingeschränkten Fähigkeit der Emotionsregulation können sich aggressive Verhaltensweisen bei Personen mit dieser Störung aber auch gegen andere Personen richten, sodass z. B. bei Wutausbrüchen gegen den Partner ebenfalls die Polizei hinzugezogen wird. Zum Teil werden eintreffende Polizeibeamte die Betroffenen im Zustand hochgradiger Erregung und Anspannung antreffen. Vor allem in solchen akuten Phasen kann sich die Aggression auch gegen die Polizeibeamten selbst richten (z. B. in Form von Beschimpfungen, aber auch Angriffen), so dass physische Distanz wichtig ist. Der Grund des Erscheinens der Polizei sollte den Betroffenen ruhig und sachlich erläutert und nachfolgend versucht werden, die Ursache für die hohe Erregung bzw. die Eskalation der Situation, die der Auslöser für den Polizeieinsatz waren, aus Sicht der betroffenen Person zu erfahren. Eventuell beruhigt sich die Person im Zuge dessen etwas, wenn sie merkt, dass sie ernst genommen und ihr zugehört wird. Es ist aber auch möglich, dass Gesprächsangebote in solchen Situationen zunächst abgeblockt werden. Polizeibeamte sollten zwar klare professionelle Grenzen ziehen, aber dennoch versuchen, ein strukturiertes und wertschätzendes Gespräch einzuleiten sowie Maßnahmen oder Wechsel der Ansprechpartner sensibel erläutern, um den Betroffenen nicht das Gefühl einer Zurückweisung zu geben und sie zu stabilisieren. Etwaige Wutausbrüche oder impulsive Reaktionen der Betroffenen sollten nicht kommentiert oder bewertet und etwaige Provokationen (wenn möglich) ignoriert werden.

Hinweise auf das Vorliegen von Emotionsregulationsproblemen im Zusammenhang mit einer Borderline-Störung können sich für eintreffende Beamte z. B. aufgrund von vielen Narben/Schnitten am Unterarm (als Hinweis aufs Ritzen) oder anderen optisch sichtbaren Anhaltspunkten für selbstverletzendes Verhalten, durch die Angaben anderer anwesender Personen (z. B. Angehörige oder Partner), die über wiederkehrende massive Wutausbrüche, Impulsivität oder extreme emotionale Reaktionen und Schwankungen in Paarbeziehungen berichten, sowie frühere Einsätze aufgrund ähnlicher Anlässe ergeben. Hier ist auch zu beachten, dass auch wenn sich die Situation in Anwesenheit der Polizei zunächst beruhigt, diese nach deren Abzug schnell wieder eskalieren und zunächst fremdaggressives in selbstgefährdendes Verhalten umschlagen kann. Dies ist unbedingt mit abzuwägen und ggf. durch eine psychologische oder psychiatrische Gefährdungseinschätzung abklären zu lassen. Auch sollten sich Polizeibeamte darauf einstellen, dass aufgrund der früh erlernten und tief in der Persönlichkeit verankerten unflexiblen Verhaltensmuster, die dazu führen, dass Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (oder auch einer anderen Persönlichkeitsstörung) immer ähnlich (destruktiv) in konflikthaften Situationen reagieren, immer wieder ähnlich gelagerte Polizeieinsätze bei der gleichen Person notwendig werden. Diese können mitunter sehr anstrengend sein und auch auf Seiten der Helfer Gefühle von Wut oder Hilflosigkeit hervorrufen. Dennoch sollte versucht werden, den Betroffenen immer wieder erneut mit Respekt zu begegnen und sie und ihre Nöte ernst zu nehmen.

Fallbeispiel

Eine 28-jährige Patientin suchte die stationäre Behandlung wegen einer Vielfalt selbstschädigender Verhaltensweisen auf. Bereits seit dem 14. Lebensjahr fügte sie sich selbst Schnitt- und Brandverletzungen zu, im Weiteren geriet sie immer wieder in Alkoholexzesse, in denen sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank. Sie berichtete über plötzliche Stimmungsschwankungen, die wie „Wechselduschen“ zwischen Verzweiflung und aufgedrehter Getriebenheit waren. Mehrfach war sie im Rahmen unklarer Zustände von Bewusstlosigkeit als Notfall in eine Neurologische Klinik gebracht worden. Wegen Stimmen, die sie zum Suizid aufforderten, erhielt sie seit Jahren hohe Dosen an Neuroleptika und Benzodiazepinen; sie hörte jeweils dieselbe männliche Stimme, die sie an den Großvater erinnerte, der sie als Kind sexuell missbraucht hatte. Auf genauere Nachfrage gab die Patientin an, dass sie wisse, dass es sich nicht wirklich um eine Stimme handle, sondern sich alte Erinnerungen ganz lebhaft aufdrängten. Mit dem Ehemann kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und zwischenzeitlichen Trennungen. Ausbildungen zur Krankenschwester und Erzieherin hatte sie abgebrochen, nachdem zunächst vielversprechende Kontakte zu Kolleginnen und Vorgesetzten im Streit geendet hatten.

Aus Herpertz & Saß (2003), S. 88

Biedermann (2020): „Messer weg“ – Polizeilicher Umgang mit psychisch erkrankten Personen im Spannungsfeld zwischen Kommunikation und Zwangsanwendung (S. 19)

Comer (2008): Klinische Psychologie:

Kapitel 16 „Persönlichkeitsstörungen“ (S. 429–432)

Herpertz & Saß (2003): Persönlichkeitsstörungen:

Kapitel 4.4 „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung“ (S. 84–88)

Horn (2016): Persönlichkeitsstörungen (S. 61)

Übungsaufgaben

3.4.1 Wie äußert sich die Borderline-PS bei der Patientin im Fallbeispiel, d. h., welche typischen Symptome zeigt sie?

3.4.2 Welche Funktion könnte das sogenannte „Ritzen“ für Borderline-Kranke haben?

3.4.3 Wie erklären Sie den Umstand, dass die Borderline-PS häufig zusammen mit Essstörungen oder Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie affektiven Störungen, insbesondere Depressionen, und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) auftritt?

3.4.4 Unter inhaftierten Tätern ist die Borderline-Störung nach der dissozialen Persönlichkeitsstörung am häufigsten vertreten. Warum? Was könnte dies begünstigen?

3.4.5 Menschen mit einer Borderline-PS werden nicht nur oft Täter von Straftaten, sondern haben auch ein erhöhtes Risiko selbst Opfer von Straftaten, insbesondere Sexual- und Gewaltdelikten, zu werden. Warum?

3.4.6 In welchen Situationen treffen Polizeibeamte besonders auf Borderline-Betroffene? Wie sollten sie dann mit den Betroffenen umgehen bzw. worauf müssen sie im Umgang mit Betroffenen achten?

Бесплатный фрагмент закончился.

1 818,46 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
204 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783415069305
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают