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Deutschlands nächstes Top-Möbel

Sollte irgendein Wissenschaftler einmal herausfinden, dass sich der Zustand einer Zivilisation an ihren TV-Formaten ermitteln lässt dann, da bin ich mir sicher, befinden wir uns in der Phase, kurz vor dem Untergang. Als nächstes werden wir uns vermutlich gegenseitig zerfleischen. Etwas anderes ist kaum vorstellbar, wenn ich mir so anschaue, was sich da alltäglich in der Flimmerkiste zuträgt, was wir als Unterhaltung bezeichnen. Nennt mich altmodisch oder gestrig. Aber das, was ich hier vorgesetzt bekomme, ist doch wohl keine Weiterentwicklung im Sinne einer Unterhaltungsevolution, oder?

Dabei hat alles einmal so romantisch angefangen. Damals, die Älteren unter uns wissen es noch, als sich die Familie am Samstagabend vor der strahlenden Flimmerkiste versammelte. Als ein Bildschirm noch eine Tonne wog und die Hälfte des Raumes einnahm. Das waren Zeiten! Da nahm man sich noch Zeit für Unterhaltung. In einer Ära, in der man noch aufwändige Kulissen in den TV-Studios baute oder als Sender ein eigenes Fernsehballett unterhielt. Spätestens hier wusstest du: »Okay, für´s Ballett bin ich zu fett!«, und verwarfst diese Erkenntnis, als Randnotiz eines behaglichen Fernsehabends mit der Familie.

Ich erinnere mich an die Eurovisionsmelodie und das zugehörige Standbild, in Blau mit gelben Eurosternchen! Hier wiederum wusstest du: Wenn du diese Melodie später am Abend wieder hören wirst, musst du ratzfatz ins Bett.

»Pölter an, Zähne putzen, ab ins Bett!«, schallte es dann immer aus Mamas Mund.

Ich erinnere mich an den TED, mit dem vermeintliche Abstimmungen des Publikums, der Zuschauer in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz durchgeführt wurden, während Frank Elstner oder Dieter Thomas Heck wortgewandt die Zeit überbrückten. Das waren Abende guter Unterhaltung, ohne zu viel technischen Schnickschnack. Denn den gab es ja noch nicht.

Einige Jahre später sah das schon anders aus. Da musstest du bereits die richtige Serie schauen, um hipp zu sein und um mitreden zu können. Ich sage nur: »Ich arbeite für die Foundation für Recht und Verfassung. Und ich kriege Sie, das wissen Sie genau!« Ha! Ja, Michael Knight alias David Hasselhoff in Knight Rider. So richtig beeindruckt war ich aber erst, als Michael Knight es geschafft hatte, die Deutsch-Deutsche Mauer zu Fall zu bringen und dazu noch einen Charthit landete.

Oder das A-Team: »Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.« Welch Nostalgie! Das waren noch aufwändig produzierte Serien, in denen die Bösewichte, von Folge zu Folge, immer die gleichen Schauspieler in wechselnden Rollen waren. Und ich hab´s erst in der Wiederholung, 20 Jahre später, bemerkt. Wetten dass..?!, wurde derweil durch Thomas Gottschalk in neue Sphären der Unterhaltung geführt und damit auch irgendwie hipp.

Schauen konntest du den Trendteil des Serien-Programms aber nur, wenn du RTL oder Sat1 empfangen konntest. Verbogen hast du dich, während du die Zusatzantenne an der Glotze anbrachtest und so lang in die Luft hieltest, bis das Bild halbwegs klar war, um dann eiligst einen Buchstapel unter jene Antenne zu bauen, um sie in Position zu halten. Sowas bekam man damals sonst nur im Zirkus Roncalli zu sehen. Der große Mettini an der Antenne des Todes! In der Manege passierte das alles allerdings ohne den finalen Absturz des Artisten in den Bücherstapel. Meistens.

Absturz hin oder her: Zog draußen eine Regenwolke vorbei, war´s das ohnehin mit Knight Rider. Kein Empfang. Over and out. Fernsehen war ein geradezu körperliches Abenteuer. Der Sport des kleinen Mannes. Zeitweilen ein Glücksspiel unter Lebensgefahr. So war das.

Echauffiert haben wir uns in dieser noch jungen Stunde des Privatfernsehens, als man unser Programm für Werbung unterbrach! Das kannten wir ja nicht. Mitten im Turbo-Boost, während das Auto über Abgründe und Bösewichte flog, unterbrachen diese Arschlöcher in den Sendeanstalten den Adrenalinrausch, dein wohl gefährlichstes Abenteuer der Woche! Immerhin hat uns das die besten Werbejingles der Geschichte beschert. »Ich will so bleiben, wie ich bin«, »Like Ice in the Sunshine«, »Wrigleys Spearmint Gum, Gum, Gum«. Ich schmelze dahin, bei diesen Erinnerungen.

Was folgte, war die Ära der Talk- und Spielshows. Man nehme ein Rudel zerstrittener Halbaffen, setze einen gebildeten Moderator als Schiri ein, man verfrachte alle in eine bunte Talk- oder Spielshow-Kulisse und füttere das Ganze mit johlendem Publikum an. Fertig ist die Unterhaltung am Nachmittag!

Heute ist das ja alles ganz, ganz anders. Werbung gehört zum guten Ton, wir streamen unser Programm via Internet auf hauchdünne Displays und nehmen interaktiv, mittels Smartphone-App, teil am Live-Programm. Welch unsägliche, künstlerische, wie auch intellektuelle Möglichkeiten das eröffnet! Es ist unglaublich. Die Werbung schauen wir uns in kleinen Fenstern an, die während der Sendung eingeblendet werden. Dafür wird ab und an der Ton der Live-Sendung unterbrochen. Wir nehmen es dankbar an. Mehr oder minder. So wie schon vor 20 Jahren eben, als man die Werbeblöcke mitten im Turbo-Boost schaltete.

Zwischenzeitlich haben wir Frank Elstner und Thomas Gottschalk durch keine Geringeren als Guido Maria Kretschmer und Heidi Klum ersetzt. Auch diese Änderung wird uns vermutlich ein schöneres Leben bescheren. Wir schauen uns jetzt an, wie Menschen einkaufen gehen oder sich sechzehnjährige Mädchen, wie man die Protagonisten des Trash-TV für Minderjährige und Minderbemittelte nennt, für ein Foto jeglicher Menschenwürde entledigen und die Eltern ihren Kindern auch noch begeistert applaudierend dabei zusehen. Manchmal schauen wir uns einfach intellektuell beseelte Millionäre an, wie sie im Alltag vor sich hin oxydieren, ihre Kohle in die Weltgeschichte pusten, Angestellte abfällig behandeln und nennen es Dokumentation.

Petrolgrün ist jetzt plötzlich nicht mehr Petrolgrün. Petrolgrün ist jetzt Eisvogelblau! Wenn Guido das sagt, dann ist das auch so! Zusammenhalt und Wertschätzung sind nicht mehr so wichtig wie die Statur einer Blindschleiche auf Droge, bei natürlich absolut gesunder und ausgewogener Ernährung! Heidi sagt das, dann ist das ja wohl auch so.

Die beiden, der Guido und die Heidi, die müssen es ja wissen, wurden sie doch von irgendwelchen Marketingstrategen zu Wissenden ernannt, noch bevor man irgendetwas von einem selbstgeschaffenen Lebenswerk, dieser Protagonisten gehört hätte, das die Expertise rechtfertigen würde. Jedenfalls bis dann eben irgendwer, bunt verpackt, gesagt hat, sie wären Experten. Und hier ist die Kette nicht zu Ende. Nein, nein: Unsere Experten ernennen wiederum Experten, die in Wirklichkeit gar keine sind. Es reicht augenscheinlich, in New York oder Los Angeles zu wohnen und für andere Experten gearbeitet oder einfach nur ein Selfie mit ihnen gemacht zu haben! Getreu dem Motto Unter den Blinden ist der Einäugige der König, fachsimpelt man fortan, was das Zeug hält. Immer begleitet von kreischenden Minderjährigen oder eben alten Minderbemittelten. Oh ja, und irgendeine Besonderheit sollte man sich zudem einfallen lassen. Nasales Sprechen. Stöckelschuhe als Mann, den eigenen Brüsten Namen geben ... Irgendetwas Derartiges reicht völlig. Ein Slogan, wie Der Tasche muss lebendig sein. Absolut konkurrenzfähig unter Experten.

Und es funktioniert. Die Crowd, das Volk der Dichter und Denker, der Ingenieure und Erfinderinnen, lässt sich bereitwillig von ihnen umerziehen. Egal, ob du fortan Klamotten anziehst, die Dieter Thomas Heck allenfalls als Testbild in Kamera 3 gehalten hätte. Egal, ob Kevin nun Ohrstecker trägt, die durch eingebaute LEDs blinken wie ein Weihnachtsbaum in einem Friseursalon oder wie der Zugangsschlüssel zu Area 51 aussehen:

Es ist einfach hipp. Es ist vong. Es ist sogar scheißegal, ob dir selbst als minderbemittelter Protagonist peinlich ist, was du da gerade tust! Es wird noch hipper dadurch, dass du dir die Peinlichkeit nicht anmerken lässt und dich selbst darstellst, als seist du das neue Maß der Dinge, ein Experte im Aufstieg sozusagen! Du bist nun Trendsetter und mit etwas Glück und Folgsamkeit, trägst Du bald den Titel Next Top-Möbel und erscheinst in einem Möbelkatalog, den keiner kennt oder für wichtig hält. Aber man erwähnt den Katalog einfach immer und immer wieder im Fernsehprogramm als den wichtigen deutschen Katalog, damit er wichtig erscheint. Und plötzlich halten ihn auch alle dafür. Jedenfalls die, die dich als Möbel für bedeutend halten. Den Rest der Welt interessiert´s nicht. Auch das ist nicht schlimm: Denn fortan tust du einfach so, als würde es den Rest der Welt überhaupt nicht geben.

Das ist allerdings noch der harmlose Teil, mit dem wir Minderjährige und Minderbemittelte davon überzeugen, dass alle Oberflächlichkeiten dieser Welt wichtiger sind, als diese altmodischen Werte, die noch unsere Großeltern erlernt haben.

Der Trick: Du musst diese altmodischen Werte einfach stets in mütterlicher Manier als seeeeehr wichtig benennen. Freundschaft: Seeeehr wichtig. Integrität: Seeeehr wichtig. Respekt: Seeeehr wichtig. Und so weiter. Schon werden sie von der Crowd als das unwichtigste erachtet, was man sich nur vorstellen kann und jene, die ihr Hirn noch benutzen, können dir nicht einmal den Vorwurf machen, gegen den kleinen Knigge verstoßen zu haben. Ein so einfaches, wie geschicktes Täuschungsmanöver.

Möchtest du jemanden öffentlich als völlig blöd dastehen lassen, ohne den Unmut der Öffentlichkeit auf dich zu ziehen, äffst du einfach betonungslos nach, was er soeben gesagt hat oder formulierst ebenso trocken Sätze, wie: »Ich bin so froh, dass ich es mit solch individuellen Personalities zu tun habe.«

So richtig lustig wird´s aber erst, wenn du junge Erwachsene, die intellektuell nie über das Stadium eines Höhlenmenschen hinausgekommen sind, in einen Container einsperrst oder auf einer einsamen Insel aussetzt. Oh, am besten nackt! Welch furiose Idee! Einzige Zugangsvoraussetzung: Sie müssen einen Körper wie aus dem Katalog haben oder sonst irgendwelche übertriebenen Reizauslöser vorweisen können. Finanziell abgebrannt oder karrieregeil sind ebenfalls Attribute, die die Hürden zur Teilnahme senken, sind sie doch förderlich, für das, was kommen wird. Wem nackt nicht zusagt, dem sei auch die Variante 20 Notgeile bewerben sich auf Beischlaf mit nur einer Schönheit empfohlen. Nackt macht sich unterwegs schon irgendwer ganz von allein, setzen wir unsere Schönheit doch als höchstintelligent und nicht verarmt in Szene. Dass das Objekt der Begierde schlicht ein gut aussehender, wenn auch völlig beziehungsunfähiger Normalo ist, werden unsere Kandidaten erst nach der Sendung bemerken. Aber dann ist es ja auch egal, denn immerhin können wir mit diesen simplen Mitteln sowohl teure Kulissen, als auch ein Fernsehballett einsparen!

Zurück zur Insel der Nackten: Dort angekommen beschäftigst du sie mit belanglosen Spielen, Hunger oder einfach Langeweile. Nicht nur Marsmissionsforscher der NASA, sondern auch TV-Formatsexperten wissen, was passieren wird: Ein Teil der Gruppe wird innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums beginnen, sich aufgrund von Nichtigkeiten gegenseitig die Augen auszukratzen. Natürlich mimst du jetzt die Model-Mama und sagst in theatralischem Ton:

»Na, na, na! Das darf nicht sein! Letzte Verwaaaarnung!«, um schon einmal die Moralkritiker zu beruhigen, die dich und deine Sendung andernfalls in der Presse zerfleischen würden.

Deine nackigen Teilnehmer auf der Insel wird das nicht interessieren, denn die befinden sich ja in einer psychologischen Ausnahmesituation. Schließlich sind sie nackt und hungrig auf einer Insel, zusammen mit anderen nackten und hungrigen Inselaffen und müssen dumme Spiele spielen. Alles freiwillig natürlich, für viel Geld. Jedenfalls aus deren Perspektive. Immerhin sind sie ja finanziell abgebrannt und karrieregeil. Passieren wird ihnen ob der Verwarnung natürlich nichts. Es sei denn, sie tun irgendetwas, bei dem man die Kritiker nicht mehr mit einer mütterlichen Verwarnung beruhigen könnte. Dann schmeißt man sie halt schweren Herzens aus der Sendung, ohne jedoch zu vergessen, auch das drei Wochen lang medial auszuschlachten.

Der andere Teil der Gruppe von bildhübschen Höhlenmenschen besteht leider aus Charakteren, deren Ding es nicht ist, Konflikte auszutragen. Sie sind auf den ersten Blick also ein medialer Flop, wären da glücklicherweise nicht noch unsere Joker-Attribute nackt und karrieregeil:

Was diese possierlichen Individuen tun, ist ebenfalls klar: Sie werden übereinander herfallen, als hätten sie den modernen Porno selbst erfunden. Das, liebe Kritiker, ist mitnichten verwerflich! Immerhin geht es hier um wahre Liebe unter volljährigen Freunden, nicht wahr? Okay, okay, das Eine oder Andere ist vielleicht zu verpixeln. Aus Gründen des Jugendschutzes. Wir pixeln aber nur haargenau das, was rein juristisch betrachtet gepixelt sein muss. Und nur zu exakt jenen Uhrzeiten, zu denen es gepixelt sein muss! Schließlich geht es um die Liebe! Und um Karrieren! Und um Geld! Diesen Genuss der intellektuell anspruchsvollen Unterhaltung sollen ja möglichst viele Menschen in Reinform sehen dürfen!

Leider wird das Schauspiel unserem inzwischen sabbernden Publikum ebenfalls zu langweilig. Irgendwann weiß halt einfach jeder, wie nackte, mit Silikon und Botox vollgepumpte Neandertaler beim Pimpern und beim Schlammcatchen aussehen. Das kennt man alles schon. Bevor also wirklich niemand mehr einschalten möchte, ist es an der Zeit, die nächste Hürde der Ethik, des Intellekts, wie auch des guten Geschmacks zu nehmen und ein brandneues Format zu erfinden! Eben jenes muss sich jedoch als soziales Experiment bezeichnen lassen. Auch hier gilt es, die Kritiker möglichst lang in Schach zu halten:

Eine völlig spontane, wie abwegige Idee wäre es beispielsweise, reifere Frauen gegen blutjunge Frauen in die Manege zu stellen, um sie um die Gunst sexuell ausgehungerter Herren buhlen zu lassen. Das Ganze nennen wir provokant Die Olle oder die Dolle? und schicken die hübschen, aber finanziell abgebrannten Neandertalerdamen ins Rennen. Das soziale Experiment besteht natürlich darin, herauszufinden, ob es bloß schnöde weibliche Reize oder die wahre Liebe sein wird, die das männliche, finanziell abgebrannte, aber bildhübsche Neandertalerindividuum anzulocken vermag.

Wichtig an dieser Stelle ist eine Art Notfallplan, denn was, wenn unsere zugegebenermaßen minimal frauenverachtende Idee einer weiteren frauenverachtenden Fernsehsendung mit potenziell minderjähriger Zielgruppe gar als nicht okay eingestuft werden sollte? Was, wenn jemand herausfindet, dass wir die Werte der Zivilisation mit Füßen treten und dazu beitragen, weitere Neandertaler heranzuzüchten, nur um das Fernsehballett einzusparen? Was, wenn wir plötzlich feststellen, dass Jugendliche aufgrund ihres Medienkonsums ein völlig surreales Bild von Sexualität und ihrer Rolle in einer modernen Gesellschaft vermittelt bekämen?

So unwahrscheinlich diese abenteuerlichen Thesen auch sein mögen, unser Notfallplan soll wie folgt lauten:

»Wir wollten mit unserem umstrittenen TV-Format lediglich in provokanter Weise auf die Oberflächlichkeit von Teilen der heutigen Gesellschaft und der Medienlandschaft aufmerksam machen. Sollten wir das Werteempfinden und die Gefühle der Zuschauer verletzt haben, so entschuldigen wir uns in aller Form für diese Fehleinschätzung.«

In Kombination mit den geltenden Gesetzen der Kunst- und Pressefreiheit, wird uns dieser Satz nahezu unangreifbar aussehen lassen. Und je mehr sich die Kritiker echauffieren, umso mehr Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen werden wir generieren. So lang die sabbernde Meute hinschaut! Und je länger wir senden können, umso größer können wir uns die sabbernde Zuschauermeute heranzüchten. Eine Gelddruckmaschine! Wer braucht schon Verschwörungstheorien, um die Weltherrschaft an sich zu reißen? Wer braucht Kulissenbauer und ein Fernsehballett? Neandertaler sind viel billiger!

Ich frage mich: Hat Frank Elstner diese Entwicklung kommen sehen, als Thomas irgendwann in abgefahrenen Klamotten die Sendung übernommen hat? Ich meine ... Nicht, dass Thomas ein Neander ... Nein, das sicherlich nicht. Und vermutlich findet sich hier ebenfalls die Grenze, zwischen seichter Unterhaltung und menschenverachtendem Unsinn. Darin, ob die Protagonisten über Hirn und Verstand verfügen und wissen, was sie da eigentlich tun oder eben nicht. Ob sie aktiv gestalten, oder bloß ein hohler Spielball irgendeines Konzepts sind.

Unterhaltung funktioniert mit Sensation. Wie im alten Rom. Daran ändert sich nichts. So sind wir Menschen. Niveau ist aber weder eine Hautcreme noch reine Glückssache. Das zumindest wird mir klar, wenn ich in Nostalgie an den blauen Bildschirm mit den gelben Sternen und der Eurovisionsmelodie zurückdenke. Ich ewig gestriger. War ich es, der sich damals gefragt hat, ob es wirklich interessant ist, einem Kerl beim Telefonbuchzerreißen im Rahmen einer Saalwette zuzusehen? Damals hat der TED entschieden. Heute sind wir umso mehr gefragt, zu entscheiden, indem wir einschalten oder eben nicht. Es ist, wie beim Verkehrsunfall, unsere ganz eigene Entscheidung, ob wir gaffen oder es lassen. Es ist unsere Entscheidung, was das Thema des Tages sein soll und was nicht.

Für die jungen Neandertaler unter uns möchte ich diese Erkenntnis etwas einfacher formulieren:

Liebe Influencerin, lieber Influencer,

Eins habe ich gelernt im Leben. Die wesentliche Frage, die du dir immer wieder stellen solltest, ist:

»Hä?!«

Ich schwör!

Kriegshelden

Es ist Zeit, über ein Ereignis zu sprechen, das wir alle kennen. Prinzipiell ist es wie die Wanderung dieser besonderen Schmetterlinge, die sich Monarchfalter nennen und, die sich in Nordamerika tummeln. Sie schaffen es aus schier unerklärlichen Gründen, Jahr um Jahr eine Wanderung hinzulegen, die sich gewaschen hat: Sie fliegen oder falten, flattern – oder was auch immer sie tun – über einen ganzen Kontinent, um aus dessen nördlichen Regionen bis zu 3600km weit in die mexikanische Sierra Nevada zu reisen und dort zu überwintern. Oder so ähnlich. Ich bin nun kein Schmetterlingologe oder sowas, aber ja, das ist wirklich wahr. Hin und zurück. Und das Beste: Die Falter, die losfliegen, sind nicht einmal ausschließlich die, die zurückkommen. Die denken sich nicht: »Ach, komm, Urlaub in Mexiko, zu Weihnachten sind wir wieder hier.« Nein, manche von ihnen gehen kalkuliert in ihrem Urlaub drauf, nachdem sie sich fortgepflanzt haben und erreichen nie wieder den Ausgangspunkt. Genauso, wie das bei uns Menschen so mancher Thailand-Urlauber tut. Zurück kommen im Falle der Falter jedoch auf jeden Fall die Kinder und Enkel derer, die einst losgeflogen sind. Dennoch finden sie exakt zum Ausgangspunkt der Reise zurück und die Geschichte beginnt erneut. Also tatsächlich alles wie beim Thailand-Urlaub. Als hätten sie ein von Anfang an eingebautes GPS und eine Mission, für die sie geboren wurden. Also die Falter. Faszinierend.

Die meisten von euch wissen es nicht, aber auch der Mensch kennt, abseits vom Thailandurlaub, Verhaltensmuster, die wie genetisch verankert in vielen von uns schlummern. Über Generationen hinweg gehen wir, wie programmiert, denselben triebhaft wirkenden Aktivitäten nach. Ein Beispiel: Der Gartenmöbelangebotstag bei Aldi. Wer kennt ihn nicht?

Auch ich als Eigenheimbesitzer kann mich diesem genetischen Programm das eine oder andere Mal nicht entziehen. So auch an jenem Feiertag der Konsumgüterhochkultur, als ich, noch früh am Morgen, das Allerheiligste des mitteleuropäischen Mittelstandspießers erspähe: Das alljährliche Sonnenschirmsonderangebot im Aldi-Prospekt! Genauer gesagt ist es ein recht hochwertig anmutender Ampelschirm in der Fassadenfarbe meines Hauses – zum unschlagbaren Preis von gerade einmal 49€.

Bumms! Das Genetik-Programm ist gestartet. Dieser Preis. Grund genug, ach was, er zwingt mich auf magische Weise dazu, zu Geschäftsstart des hiesigen Aldi-Markts vor Ort zu sein, um auf jeden Fall ein Exemplar dieses Schirms ergattern zu können. Ganz so, wie es vermutlich schon mein Vater, Großvater und die Urväter meiner Population getan haben mögen!

Machte ich mich als Heranwachsender noch lustig über dieses Verhalten, WILL die Natur nun augenscheinlich, dass ich es an die Nachfolgegenerationen weitergebe. Ich bin also willenlos, kann nicht anders. Ich bin ein Falter inmitten von vielen, um meiner Bestimmung zu folgen. Ich hecke eine Taktik aus, springe kurz nach Sonnenaufgang in die Hose und fliege los gen Aldi!

Natürlich bin ich mit dieser Taktik nicht allein. Gegen 7:45 Uhr tummeln sich schon etwa zwanzig Menschen vor der Eingangstür des Marktes meiner Wahl, bewaffnet mit der Streitaxt, ja, dem Panzer des kleinen Mannes: Dem Einkaufswagen. Alle stehen sie dort mit einem Ich-bin-die-Ruhe-Selbst- oder Ich-bin-absolut-Cool-Gesichtsausdruck. Das ist Taktik.

Niemand ist cool. Sie wollen alle Beute machen und schrecken insgeheim nicht einmal vor Blut zurück. Ich weiß das und sie wissen es auch. Aber sie tun cool und zivilisiert, schauen taktisch meditativ ins Leere. Es ist dieser Blick, der ihnen immer nur dann entgleist, wenn irgendwer Anstalten macht, sich eben nicht hinten, sondern seitlich in der Schlange vor der noch geschlossenen Supermarkttür einzureihen. In diesem Moment klappern sie jeweils drohend mit ihren Panzern und rücken noch näher zur Tür, um dem unseligen Konsum-Terroristen von der Seite keine Lücke zum Vordrängeln zu bieten. Ihre Gesichter entspannen sich erst dann, wenn sich der vermeintliche Angreifer doch noch ans Ende der Schlange stellt.

Zehn Minuten später: Die Sache sieht jetzt schon etwas anders aus. Inzwischen stehen etwa 50 bis 60 absolut gelassene Gesichter vor dem Markt. Jedoch verformt sich die Warteschlange langsam und unkontrolliert zu einer Traube, was den ursprünglichen Kopf der Schlange, also diejenigen die sich die Nasen seit geraumer Zeit an der Tür plattdrücken, zur Weißglut bringt. Sie versuchen, sich das nicht anmerken zu lassen, aber man kann das Adrenalin in der Luft förmlich riechen. Ich fühle, dass der ein oder andere nun seinen Konsumpanzer in Stellung bringen wird, um auf die Menge zu feuern.

Ich zähle laut: »Drei, zwei, eins, Feuer!«

Während man sich vor mir umdreht und sich fragt, warum irgendein Nichtsnutz, mitten in der Traube, rückwärts zählt, bricht am Kopf der Schlange wie auf Kommando die Ich-war-zuerst-da-Schlacht los. Erwachsene, zumeist altersentsprechend vermutlich weise Leute, schimpfen wie Kindergartenkinder und Politiker, um ihre Position im Rudel zu verteidigen.

Mich amüsiert das mächtig. Nicht etwa, weil ich Spaß an der Konfrontation hätte. Nein, nein, es ist viel subtiler, denn alle im Gefecht verwickelten Kämpfer sind mit Panzern ausgestattet, ich aber nicht. Das macht sie schwerfällig, während ich, mit bloßen Turnschuhen gerüstet, flink wie ein Wiesel, um sie herumtanzen könnte.

»Einen Schirm werde ich auch noch so tragen können und dadurch wendiger sein«, hatte ich zuvor, in einem abgedunkelten und abhörsicheren Raum, während meiner taktischen Planungen für diesen Morgen, erdacht.

Diese akribische Einsatzplanung wird sich jetzt auszahlen. Ich muss mich also lediglich still verhalten, im richtigen Moment, flink, aber mit gemächlicher Außenwirkung an der streitenden Meute vorbeispazieren, mir meinen Schirm nehmen und ebenso elegant wieder verschwinden.

So der Plan.

Es ist der Plan, den schon die Urahnen meiner Familie nachgingen. Es ist der Plan meiner Gene. Es ist meine Vorsehung! Die Rechnung meiner Urahnen geht sogleich auf, denn während die Panzer rasseln und ihre Kommandeure sich noch bekriegen, öffnet sich pünktlich um acht Uhr die Pforte des Marktes.

»Jetzt ist er da, der Moment meiner Vorsehung!«, drängt es in mein Bewusstsein!

Während die Ellenbogen fliegen, spaziere ich friedfertig, wie Ghandi durch die sich auftuenden Lücken zwischen den kämpfenden Artgenossen, schnurstracks in den Aldimarkt, suche die Ware meines Begehrs und schnappe mir einen Schirm.

»Zeit zur Kasse zu spazieren«, denke ich noch triumphierend und es kommt der Moment, der so nicht geplant war: Die Meute hat in der Zwischenzeit erkannt, dass sie ihr Krieg von der Beute abhält. Sie haben sich eiligst entknotet und den Laden gestürmt. Vor mir taucht eine Wand aus wildgewordenen, mit Gehhilfen um sich schlagenden Rentnern auf, die sich nun auf Gartenstühle und Sonnenschirme stürzt.

Wer braucht schon Wunderheiler, wenn er Aldi hat? Der hilfsbedürftige Senioren-Teil unserer Gesellschaft vollbringt vor meinen Augen olympische Höchstleistungen: Gewichtheben, Weitsprung, Boxen. Die haben alle Chancen, mal wieder ordentlich sportliches Gold nach Deutschland zu holen, wenn man ihnen nur ein Sonderangebot in Aussicht stellt! Das ist vielleicht die rettende Idee für unser angeschlagenes Gesundheits- und Pflegesystem! Wir haben keinen Pflegenotstand, uns fehlen schlicht die richtigen Sonderangebote ... Und ganz nebenbei steuern die Individuen dieser Seniorenarmee sogar noch ihre Konsum-Panzer!

»Gelernt ist eben gelernt«, geht mir noch amüsiert durch den Kopf, während mich der Prothesen-Tsunami überrollt. Da stehe ich also mit meinem Schirm und werde von den Wogen der Konsumgesellschaft hin und her geschoben. Eine Kriegsherrin ergreift meinen Schirm, um ihn zur Lanze umzufunktionieren und mich gewaltsam wegzuschieben.

Moment mal ... Greift mich da etwa jemand an? Im Aldi? Wegen eines Gartenartikels? So nicht! Nun ist Schluss mit pazifistisch! Ghandi war gestern, jetzt mache ich mit.

Ich stelle meinen Schirm ab, ziehe mir die eben noch so mutige Kriegsherrin an Lanze und Kragen heran, schaue ihr tief in die fragenden Augen und sage leise:

»Ich bin genau die Sorte Mensch, vor denen dich deine Eltern immer gewarnt haben. Du benimmst dich hier wie eine offene Hose, weil du geil auf nen Gartenstuhl bist? Auch das hätten sich deine Eltern so sicherlich nicht vorgestellt. Du hast jetzt genau diese eine Möglichkeit, noch einmal über dich nachzudenken und wortlos aus meinem Tanzbereich zu verschwinden, bevor mein Schirm wundersam in dir verschwindet!«

Habe ich das gerade wirklich gesagt? Mich auf das Niveau der Meute begeben? Ich habe! Noch bevor ich Zeit habe, darüber nachzudenken, dass ich selbst zum Tier geworden bin, verschwindet die Kriegsherrin so flink, wie wortlos in der Menge. Mehr noch: Scheinbar hat der eine oder andere die Szene bemerkt, sodass ich freies Geleit durch eine schmale Gasse aus der Menschentraube heraus bekomme, nachdem ich freundlich lächelnd meine Jacke gerichtet habe. Den Schirm hat in der Zwischenzeit ebenfalls niemand angerührt, sodass ich auch ihn in aller Seelenruhe mitnehme, um bald darauf als erster Kunde des Tages an der Kasse zu stehen. Ein bisschen fühle ich mich wie einer dieser Kriegsherren aus einer Mittelalterserie, der mit Bärenfell und Schwert auf dem Rücken die Szenerie betritt, während das Volk eine Gasse für ihn bildet ...

Ich rate der Kassiererin noch freundlich, sich nicht provozieren zu lassen, denn die Meute dort hinten sei unberechenbar. Sie dankt mir freundlich, teilt mir aber mit, dass das der ganz normale Wahnsinn sei.

»Armes Deutschland«, denke ich, verstaue meinen Schirm im Auto und fahre heim.

Hey, ihr respektgierigen Wiederaufbauer Deutschlands da draußen: Ihr seid´s, die sich über angetrunkene Jugendliche aufregen. Ihr seid´s, die sich über nüchterne Jugendliche echauffieren, die sich um ihren Planeten sorgen. Ihr seid´s, die zum Wutbürger werden, wenn eine Gartenhecke die in einer Satzung festgelegte Höhe um 3cm überschreitet. Ihr seid´s, die stetig mit dem Finger auf andere zeigen. Und Ihr seid´s ebenso, die im Aldi Montag morgens um acht wegen eines Gartenstuhls zum, von der Genetik gesteuerten, Neandertaler werden.

Meinen Glückwunsch, eine große gesellschaftliche Leistung. Das hält selbst Ghandi nicht aus und ich habe mich gleichfalls davon anstecken lassen.

Denkt mal drüber nach!

Ich tu´s.

Vielleicht in Thailand. Oder in Nordamerika. Mal sehen.

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860,87 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
174 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783967130072
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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