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Der informierte Reisende

Die verlorene und im Verlust wiedergefundene Landschaft an der Gotthard-Passage: Hiervon künden die zeitgenössischen Erfahrungs- und Erlebnisberichte der ersten Generationen von Gotthard-Eisenbahnreisenden um 1900. Das Erlebnis der mit sausender Geschwindigkeit und müheloser Schienenfahrt erfolgenden Alpendurchquerung, welches die Fahrt von Luzern nach Lugano auf der Strecke zwischen Göschenen und Airolo zu bieten hatte, wurde zu einem der grossen Reiseerlebnisse für die Avantgarde des europäischen Firstclass-Tourismus. Davon erzählt das kleine Gotthard-Buch des Baselbieter Schriftstellers und Schweizer Nobelpreisträgers Carl Spitteler aus dem Jahr 1897;6 es ist als literarisches Nebenwerk vor allem die Frucht eines begeisterten Eisenbahn-Habitués, der die Gotthard-Strecke in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens mehr als 30-mal mit seinem 1.-Klasse-Abonnement bereiste.

Weil die vornehmen, wohlhabenden und bedeutenden Passagiere neuerdings viel stärker in Tuchfühlung mit den durchschnittlichen Mitreisenden gerieten, war eine gewisse fortlaufende Distinktion angezeigt. Der Reisende, welcher etwas auf sich hielt, musste eine neue Art von Standes- und Qualitätsbewusstsein entwickeln, und er konnte dies unter anderem dadurch tun, dass er sich als der wohlvorbereitete und informierte Reisende erwies. Wie die ersten gattungstypischen literarischen Reiseführer der Baedeker-Reihe, so bewegt sich auch das Gotthard-Reisebuch Carl Spittelers in der paradoxen Aufgabenstellung, die Segnungen des privilegierten Blicks möglichst vielen Reisenden zugute kommen zu lassen. Das gepflegte, gediegene Reisen wollte gekonnt sein – also musste es auch erlernbar sein und in demokratisch pädagogischen Schritten vermittelt werden können.

Die 1871 mit Sitz in Luzern gegründete Gotthard-Eisenbahngesellschaft bediente sich öffentlichkeitswirksamer Werbemassnahmen. Zu diesen zählte auch die Idee, einen prominenten und populären zeitgenössischen Schriftsteller einzuladen, über diese neue Bahnstrecke und ihre Reisemöglichkeiten eigens ein Büchlein zu verfassen. Spitteler, der als Wahl-Luzerner ohnehin gleichsam vor Ort war und von seinem literarischen Profil her eine ideal erscheinende Synthese aus traditioneller Stilistik und moderner Wirkungsästhetik darstellte, nahm den Auftrag freilich erst nach längerem Zögern an, fürchtete er doch zunächst um sein künstlerisches Renommee angesichts dieses «schnöd prosaischen Promotionsauftrags», und dies sogar «trotz des offerierten Spitzenhonorars von 7000 Franken».7 Und noch nachdem er sich zu der Arbeit entschlossen hatte, wahrte Spitteler eine gewisse Distanz zu dem Unternehmen. Mehrfach betont er in dem Buch sowohl seine laienhafte Position im Hinblick auf viele der dargestellten Sachverhalte als auch den dienstleistenden Charakter dieser Prosa.

Der Band erschien in einer Auflage von 4000 Stück, wovon ein grosses Kontingent zu Werbezwecken in europäischen Grandhotels und an Bord der grössten Ozeandampfer ausgelegt wurde, weil man hier den genuinen Adressatenkreis eines alpinen Reisevorhabens vermutete oder den Hotel- oder Schiffsgästen bereits mit der Lektüre das Eintauchen in eine abenteuerliche Bergwelt ermöglichen wollte. Tatsächlich bietet Spittelers Gotthard-Vademekum sowohl für den Touristen, der die beschriebenen Sehenswürdigkeiten in situ zu erkunden riskiert, wie auch für den Lehnstuhl-Reisenden eine prickelnde, mit einer gehörigen Portion Reisefieber infizierende Lektüre. Dies gelingt dem Schriftsteller dadurch, dass er die Situation des Bahnreisenden als verbindliche und konstruktive Vorgabe für den eigenen Schreibprozess nimmt. Spitteler versetzt sich nicht in die Lage eines zeitgenössischen Benutzers dieser Bahnlinie, er ist selbst dieser kompetente Passagier, dem die Abfolge der Wegstücke, Aussichtspunkte und Stationen durch vielfaches Abfahren der Strecke schon in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Literarische Beschreibungskunst stellt sich in den Dienst einer wohlpräparierten, durch vorbereitendes Quellenstudium wie durch geschärften Beobachtungssinn bestens instruierten Bahnkennerschaft. Über die Flora in den verschiedenen Gebirgszonen vermag Carl Spittelers Band ebenso Auskunft zu geben wie über die geologische Beschaffenheit der Region. Seine Darstellung versammelt den aktuellen Kenntnisstand zur Bedeutung der Orts-, Berg- und Flurnamen im Gotthard-Gebiet, greift weit in die Geschichte der Erschliessung der Innerschweizer Bergwelt zurück und charakterisiert auch die Eigenart der vier wichtigsten Seitentäler, die der Schriftsteller unter Nutzung der neuen Haltestationen der Bahn intensiv durchwandert und erkundet hat. Selbst über die jahreszeitlich obwaltenden Klimabedingungen und Wetterschwankungen erstattet sein Reisebuch detailliert Bericht, sodass die zur Reise Entschlossenen abwägen können, unter welchen Gesichtspunkten sie die für ihre Unternehmung geeignete Jahreszeit wählen und als Reisegelegenheit ergreifen möchten.

Die eigentliche Besonderheit der Gotthard-Fahrt liegt, wie Spittelers Büchlein nicht müde wird zu betonen, in der Möglichkeit, auf engem Raum, in beschränkter Zeit und in rascher Folge denkbar verschiedenste Arten der Landschaft, der Besiedlung, des Lebens kennenzulernen. «Gibt es doch», wie Spitteler schon zur Einstimmung auf die grosse Fahrt festhält, «kaum ein Gebiet, das der Gotthard nicht trennte. Sprache, Sitte, Rasse, Politik, Geschichte und Kultur; Pflanzen- und Steinwelt, Klima, Farbe und Licht, alles ist drüben anders als hüben.»8 Besonders dramatisch kommt die sich ändernde Intensität des Lichtes und der Wärme beim Austritt aus dem südlichen Tunnelende zur Geltung, wenn die Uhr des jahreszeitlichen Vegetationszyklus im Tessin schon ein gutes Stück vorangerückt ist – so im Frühjahr – oder wenn im Herbst das südliche Alpental noch länger die Sommerwärme bewahrt als die Gebiete auf der Nordseite. Der Kundige empfiehlt deshalb: «Die Jahreszeit, in welcher der Wärmegewinn für eine Reise nach dem Süden wirklich Vorteil bringt, ist der Spätherbst, Oktober und November, wo meistens die Temperaturerhöhung zugleich durch Sonnenschein verschönt wird, und das Frühjahr: März, besser noch April und Mai.»9 Es scheint fast, als könnte der unerbittlichen Ökonomie des jahreszeitlichen Wechsels durch den simplen Erwerb einer Gotthard-Passage ein freches Schnippchen geschlagen werden: «Um zehn Uhr vormittags aus dem Winter von Luzern fort, um vier Uhr nachmittags im Sommer von Locarno, welch eine herrliche Möglichkeit!»10

Der hedonistische Aspekt einer unstatthaften Vermehrung der den Mittelländlern zugemessenen Sonnentage ist ein Lockmittel erster Güte. Doch tut Spitteler gut daran, diesen Drang an die südliche, palmenbestandene Seenküste nicht zum alleinigen Attraktionsfaktor zu machen. Würde man ihm restlos stattgeben, so nährte und förderte man noch jenen ohnehin drohenden Effekt der Vernachlässigung aller zwischenliegenden Landschaft. Denn weckt nicht jede durch Viadukte überbrückte Schlucht, jeder durch Kehren gestreckte Anstieg, jedes ein Bergmassiv traversierende Tunnelstück im Denken und Erleben der Bahnreisenden das Gefühl, dass man von der durchquerten Gegend eigentlich absehen, ihre Topografie ganz und gar ignorieren könne? Mit der Eisenbahn gewinnt die Fortbewegung «Zug» im vollsten Sinne des Wortes; alles ist ausgerichtet auf Spur und Bahnung, auf das Vorankommen, ohne sich von den Hindernissen des Weges länger Mühsamkeiten und Beschwernisse auferlegen zu lassen.

Je rascher, je reibungsloser die Fahrt von Göschenen nach Airolo gelingt, desto mehr schwindet die Achtung für die zu dieser Bequemlichkeit erforderten und erbrachten Leistungen. Zu sinken droht auch die Aufmerksamkeit für das – zumindest nach traditionellem ästhetischem Verständnis – erhabene Naturspektakel, welches links und rechts der Trasse vorbeizieht oder nun eben unbemerkt liegenbleibt. Ausgedünnt würde durch den Gewöhnungseffekt nicht nur die Beachtung, welche die technischen Leistungen dieser Bahnstrecke verdienen, sondern auch der Respekt vor dem eigentlichen Kernstück und Wesen der Gotthardregion, somit auch vor den geschichtsmächtigen Innerschweizer Pass-Einrichtungen und ihrer Bedeutung für das eidgenössische Selbstbild.

Es ist Spitteler enorm wichtig, die Bedeutung des Gotthards für die Schweizer Geschichte nicht aus dem Blick zu verlieren, bildeten doch die ersten Erwähnungen dieses Passes im 13. Jahrhundert und der legendäre Ursprung der eidgenössischen Nationalgeschichte seit je eine merkwürdige, zu mythischer Identifikation förmlich einladende Koinzidenz. «Die Anfangsperiode des Gotthardpasses fällt mit der Zeit der Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft zusammen, und zwar auffallend genau zusammen»,11 hält der Alpen-Cicerone im historischen Teil seines Buches fest. Und er schraubt die Beziehung des zeitgleichen Auftritts dieser Phänomene – und damit natürlich auch die Dignität seines eigenen Gegenstands – noch eine Windung höher, wenn er hieran anknüpfend spekuliert: «Sollte vielleicht gar ein innerer Zusammenhang zwischen der Erschliessung des Gotthard und der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft obwalten?»

Was der zeitgenössische Bahnreisende mit solchen Überlegungen zur Supra-Semantik des Gotthards anstrebt, ist, mit Hans Blumenberg gesprochen, «Arbeit am Mythos». In methodischer Hinsicht war Spitteler freilich durchaus bewusst, aus welch unscheinbaren Anfängen dieser Zentralmythos seinen wirkungsgeschichtlichen Weg genommen hatte. Die früheste Erwähnung belegt, dass am 24. August des Jahrs 1230 auf dem Monte Tremolo ein Kirchlein geweiht wurde, im Namen und Zeichen des Hildesheimer Bischofs Godehard, den sich auch das Kloster in Disentis zum Schutzheiligen erkoren hatte.12 Jener Godehard war 1038 gestorben und 1131 heiliggesprochen worden, wobei seine mehreren Romreisen eine gewisse Rolle gespielt haben dürften, die ihn zum Namenspatron des Verkehrsweges über die Alpen prädestinierten. Die Bezeichnung Gotthard nahm über die Zeiten hin eine helvetische Färbung erst dadurch an, dass Ort und Name durch verklärende Deutungen überhöht wurden.

Passagen in Echtzeit

Carl Spitteler ist stilökonomisch versiert genug, um sein Reisebuch nicht mit bedeutungsschwerer Gotthard-Mythologie zu überfrachten. Nimmt man den Traditionspfad einer Verklärung des Berges zum Kern und Ursprung der Schweizer Geschichte als die eine mögliche Extremvariante der Darstellung, das völlig legere Vorübergleiten an diesem Geschichtsmassiv hingegen als die gegenteilige Option, so bewegt sich Spittelers Duktus angesichts dieser Alternative in einem unangestrengten, aber nicht spannungslosen Zwischenkorridor, gleich weit entfernt von beiden stilistischen Extremen. Nach der Auffassung Spittelers – die ich mit Begriffen der strukturalen Poetik reformuliere – verkörpert die Gotthard-Fahrt eine nicht etwa paradigmatisch geballte, sondern syntagmatisch gespreizte Form der Bedeutungsgebung, sie entspricht damit der metonymischen Bild- und Blickordnung des Interessanten. «Natur und Kunst», so verheisst der Autor vielversprechend, haben «längs des Weges eine lückenlose Reihe von grossartigen Landschaftsbildern» aufgestellt, «sodass von Luzern bis Como kein Fleck zu finden ist, der nicht bedeutend wäre, der nicht das Verweilen und die nähere Bekanntschaft lohnte».13 Ein Übriges habe nun noch die Eisenbahn selbst dazu gefügt und mit ihren technischen Behelfen «das Merkmal des Interessanten, das dem Gotthard ohnehin anhaftet, verstärkt».

Nicht mehr «erhaben» also, sondern «interessant»: die Streckenführung ist abwechslungsreich, nach vor- und rückwärts mit Veränderungen und Vergleichsmöglichkeiten gespickt und schafft dadurch eine reizvolle Abfolge. Die Wirkungsästhetik des Interessanten eröffnet sich bei dieser Bahnfahrt in einem Zusammenspiel von landschaftlich gereihter Sequenz zum ersten, subjektiver Beobachtung respektive Mitempfindung derselben zum zweiten sowie nacherzählender Beschreibungskunst zum dritten. Zur landschaftlich gereihten Sequenz wird die durchfahrene Gegend durch die räumliche Disposition der Schneisenbildung und den hierauf sich gründenden Bewegungsvorgang der Bahnfahrt; diese wird zum Fahrerlebnis durch den subjektiv beteiligten Beobachter, der das eigene Fortkommen als Vorübergleiten der Aussenwelt wahrnimmt. Durch die Zugfahrt wird die Landschaft mit einem Zeitvektor versehen, der sie in rasch aufeinanderfolgenden Stadien als herannahende, als gegenwärtige und als entschwindende dramatisiert – je überraschender, desto intensiver.

Nicht immer aber liebt es der Bahnreisende, völlig überrascht zu werden, denn es drohen ihm dadurch wichtige Aussichten und Anblicke zu entschlüpfen. Spitteler steckt deshalb besonderen Ehrgeiz in den Versuch, den Reisenden eine ausführliche und genaue, verständliche und verlässliche Beschreibung der Ausblicke und Situationen an die Hand zu geben, welche während der Fahrt zu gewärtigen sind. In welche Richtung die Gotthard-Fahrt angetreten werden soll, ist klar: Es zählt der Weg von Nord nach Süd, die zu erwartende doppelte Steigerung erst durch die beklemmende Bergwelt und sodann durch den Kontakt mit dem Tessiner Sonnenlicht. Für diese Lockungen der Fahrt kann das Büchlein immerhin ein «Vorausempfinden» herbeiführen, wie es auch der Gotthard seinerseits im Hinblick auf die Verheissungen «der jenseitigen Landschaft» darstellt.14 Aber schon die Frage, auf welcher Seite man sich niedersetzen und zum Fenster hinausschauen solle, ist Gegenstand ausgefeilter Ratschläge und Empfehlungen, die obendrein je nach Situation variieren. Der Kundige hat hier die Pflicht, den Neuling sorgsam vorzubereiten, ohne ihm zugleich auch schon die Freude des eigenen Entdeckens zu nehmen.

Als Wegbegleiter gibt Spitteler den Passagieren ein anschauungsreich ausgestaltetes Raumgefühl, das sogar schon auf Lektürereisende enorm suggestiv wirkt und das beim Gebrauch dieses Itinerars vor Ort noch einen stärkeren, fast magischen Effekt der Vergegenwärtigung ausübt. Indem er die Benennungen und Beschreibungen des Sichtbaren strikt an der Abfolge und Geschwindigkeit des Fahrerlebnisses ausrichtet, ermöglicht es Spitteler seinen Lesern, während der Fahrt einen an Anschauung und Erkenntnissen mitwachsenden Wahrnehmungsvorgang zu vollziehen. Hierzu dienen auch Erklärungen, die jeweils einen grösseren Zusammenhang oder geschichtlichen Entstehungsgrund einzelner Beobachtungen andeuten. So etwa sein Hinweis auf den sich ändernden Landschaftscharakter ab Flüelen. «Zunächst werden wir beobachten», so schreibt er, «dass die Mitte des Talbodens leer steht; die Niederlassungen haben sich links und rechts am Fusse der Berge gruppiert. Sie sind dem Gewässer ausgewichen, der Reuss und dem Schächenbach, welche früher in der Mitte des Tales ein unwirtliches Delta mit Geschiebe und Überschwemmungen bildeten.»15

Auf der weiteren Fahrt durch die Talschaft Uri lenkt Spittelers vorsorgliche Blickregie die Aufmerksamkeit des virtuell oder manifest mitreisenden Lesers. «Hinten über Altdorf, auf einem Hügel, genau in der Mitte der Berglücke, auf der Schwelle des Schächentales erhebt sich das anmutige Bürglen»;16 die Nennung der beiden aus der Tell-Sage bekannten Ortschaften modelliert sowohl das Landschaftsrelief der stufenförmig ansteigenden Bergflanke nach wie auch die Geschwindigkeit der an diesen Dörfern vorbeiführenden Zugfahrt. Und schon bald naht rechterhand wiederum die ebenfalls an Schillers Tell gemahnende Burgruine Attinghausen. Dies alles dränge, warnt der Reiseführer, «im engsten Raume zusammen, während der Schnellzug ohne jede Haltstation daran vorüberfliegt. Da sehe eben jeder zu, was er davon erhasche. Zum Schlummern oder Fahrplanstudieren jedenfalls ist hier ein schlecht gewählter Augenblick.»17

Spitteler rechnet mit geografisch wenig versierten, im Eisenbahnwesen noch unkundigen Lesern; er wird womöglich seine Schilderungskunst vor oder während der Niederschrift sogar an einigen Passagieren erprobt haben. Sie bewährt sich auch und gerade dann, wenn ein persönlich mitfahrender Reiseführer ob der schieren Ballung von Aufmerkenswertem in ein heilloses Gedränge käme. Geradezu schulmässig demonstriert dies der Abschnitt vor der Durchquerung des Bristenstocks. Hier hat auch Spitteler alle Hände voll zu tun, wenn sich nach einer Tunnelausfahrt zur Linken und nur sekundenweise die Öffnung ins Maderanertal zeigt und nahezu zeitgleich zur Rechten rückwärtig schon der Anblick des Brückendorfs Amsteg vorbeihuscht oder schon vorbeigehuscht ist.

«Sobald wir in den Windgellentunnel eingefahren sind, empfiehlt es sich, auf der linken Wagenseite Platz zu nehmen und das Auge bereitzuhalten, um beim Austritt aus dem Tunnel den Einschnitt des Maderanertals nicht zu übersehen, für welches bloss wenige Sekunden übrig sind. Denn jenseits der Brücke fahren wir gleich wieder in den Berg. Gleichzeitig erscheint zur Rechten, unten in der Tiefe, Dorf Amsteg mit der ersten Aufwärtswindung der Gotthardstrasse. Beides zu sehen, die Maderanertalschlucht und Amsteg, hält bei der Kürze der Zeit schwer, ja ist wohl überhaupt nur in der Weise möglich, dass man links sitzend zuerst das Maderanertal erschaut und hernach, sobald dieses verschwunden ist, unverzüglich nach der rechten Wagenseite hinübereilt, um auf Amsteg zurückzublicken.»18

Ausgebuchte Züge oder allfällige Zusammenstösse mit anderen Reisenden können selbstredend bei diesen dramatisch geballten Sicht-Verpflichtungen nicht mehr mit ins Kalkül gezogen werden. Wie oft aber muss man wohl selber besagte Strecke mit scharfer Aufmerksamkeit abgefahren sein und wie zupackend hierbei die eigene Beobachtungsgabe eingestellt haben, um eine solche genaue Sequenzanalyse der Bewegtbilder von der Gotthardbahn anstellen zu können? Spittelers Eisenbahn-Reiseführer ist ein stilistisches Kabinettstück seiner Art, weil er auf eine nachmals schon rührend anmutende Weise noch mit Trassenführung und Tempo der Gotthardbahn wetteifert, die unter Volldampf bergwärts jagt, während der Schriftsteller seine Zeilen notiert. Wollte das Auge des Lesenden ihnen weiterhin in Echtzeit folgen, es müsste für die beschriebenen Schönheiten der Strecke erblinden und also entweder diese – oder eben den Text – anschliessend gleich noch einmal durchlaufen.

Warum der Gotthard so wichtig ist
Der Einklang von Ursprung und Fortschritt als nationaler Traum

Peter von Matt

Folgender Textausschnitt stammt aus dem ersten grossen Essay «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation» in Peter von Matts Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Nach einer historischen Kontextualisierung von Rudolf Kollers Bild Die Gotthardpost (1873) zeichnet von Matt die Entstehung des eidgenössisch-alpinen Ursprungsmythos bei Albrecht von Haller (1708–1777) nach, der im Lauf des 19. Jahrhunderts durch den technischen Fortschritt sichtlich unterlaufen wird. Der durch Alfred Escher geförderte Gottfried Keller deutet – wie schon sein Kontrahent Jeremias Gotthelf zuvor – die Risse an, welche sich durch den noch jungen modernen Bundesstaat ziehen. Das individuelle Vertrauen in den sittlichen Kern und in die Vernunft des Volkes schwindet, um in eine äussere Nationalsymbolik umgegossen zu werden: in eine neue paradoxe Fiktion einer Einheit von Ursprung und Fortschritt, von der die Schweiz noch heute zu zehren scheint.

Das Ereignis, dass Ursprung und Fortschritt in sichtbaren Einklang treten, ist ein geheimer Wunschtraum der Schweiz geblieben. Er stand als Antrieb hinter der legendären Landesausstellung in Zürich 1939, als die Schweiz mit den faschistischen Diktaturen im Norden und Süden konfrontiert war und Europa bereits am Rand des Kriegs stand. Dieser brach dann auch noch während der Ausstellung aus. Wie immer man jene Veranstaltung von heute aus auch beurteilt, die Bevölkerung der ganzen Schweiz erlebte sie damals als die Verwirklichung eines Traums; sie war das realisierte Idyll in dem hier pointierten Sinn und stand darin in der Tradition der von Keller verherrlichten nationalen Feste. Das war aber nur möglich, weil sie auch den technischen, industriellen und architektonischen Fortschritt emphatisch inszenierte. Dass daraus keine Dissonanz zwischen Rustikalität und Moderne entstand, dass das eine sich zu dem andern vielmehr in einer freundlichen Balance halten konnte, war nicht nur eine Leistung der Verantwortlichen, zu denen führende Architekten und Designer der Schweiz gehörten, sondern entsprach auch dem Gegenwartsbewusstsein der Bevölkerung. Die Eidgenössische Technische Hochschule von Zürich prägte die Ausstellung wesentlich mit und verhinderte mit der Präsenz ihrer Forschung das Abgleiten in den Schollenkult, der so sehr im Zug der Zeit lag. Er fand hier zwar schon auch seine Altäre, aber die drohende Dominanz wurde doch zurückgebunden. Ideologie- und zivilisationsgeschichtlich ist die Landesausstellung von 1939 wahrscheinlich das faszinierendste Ereignis der Schweiz im 20. Jahrhundert. Das Raffinement, mit dem hier Selbstverklärung mit präziser Information verbunden wurde und politische Bruchlinien um der Gemeinschaftserfahrung willen aus dem Gesichtsfeld verschwanden (die Flüchtlingsfrage zum Beispiel), ist nach wie vor das Studium wert. Gerade weil das Land von aggressiven Nachbarstaaten bedroht war, entwickelte es einen Mikrokosmos der Zeichen und Bilder, in denen es sich selbst erkannte und unverblümt feierte. Dabei galt die Regel der Überbrückung aller Gegensätze. Es herrschte ein kategorischer Imperativ der Versöhnung, der sich auch in der kulturellen Produktion jener Jahre niederschlug und der von der Politik leicht instrumentalisiert werden konnte. Als die Fronten nach dem Krieg wieder aufbrachen, war es dieser Geist, der «Landigeist», wie man ihn beschwörend nannte, der einer kritischen Aufarbeitung etwa der Flüchtlingspolitik den härtesten Widerstand entgegensetzte und der die Eingliederung der Schweiz in die starren Kampflinien des Kalten Kriegs beförderte.

Dass dieses Ereignis eines fast unwahrscheinlichen Zusammenklangs von Ursprung und Fortschritt in Zürich stattfand, der grössten Stadt, dem Zentrum der zivilisatorischen Dynamik, war ein zusätzlicher Glücksfall. Damit wurde die Disharmonie von Stadt und Land, die sich seit je in der Gereiztheit gegenüber der Stadt Zürich manifestierte, im Voraus neutralisiert. Schon bei Haller stand die Ursprungsvision im pointierten Gegensatz zu den «großen Städten», und tatsächlich hat sich die Schweiz als Ganzes nie von ihren Städten, vom Kernphänomen Stadt her definiert – wie es etwa Frankreich mit Paris oder England mit London tun. Der symbolischen Gewalt der Berge waren die Städte nie gewachsen, obwohl in ihnen alle historischen Durchbrüche geschahen, von ihnen alle Energien der Veränderung, des Fortschritts also, und des Anschlusses an die «beschleunigten Processe» der Weltzivilisation ausgingen. Noch am Ende des 20., zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat ein Schriftsteller wie Hugo Loetscher leidenschaftlich geklagt und geschimpft gegen die Übermacht des alpinen Symbolpotenzials; niemand hat ihm widersprochen, aber genützt hat es nichts. Die Fantasie regiert die Menschheit, also auch die Schweiz, und wenns drauf ankommt, sich mittels Bildern über sich selbst zu verständigen, tauchen auch heute weder die Zürcher Bahnhofstrasse noch das Genfer Bankenviertel noch der Basler Rheinhafen auf, sondern wie eh und je der nebelverhangene Gotthard, dieser helvetische Sinai.

Dass Max Frisch mit seinen Freunden Lucius Burckhardt und Markus Kutter zusammen für die erste Landesausstellung nach dem Krieg eine neue Stadt vorschlug, ein präzis gezieltes Gegensymbol, war auch der Versuch einer Umpolung der nationalen Zentralfantasie, und er scheiterte glorios. Es ist daher von einer verblüffenden Logik, wenn die stärkste nationale Symbolkraft heute vom neuen Eisenbahntunnel durch den Gotthard ausgeht. In diesem technischen Spitzenwerk verschmelzen wieder einmal Ursprung und Fortschritt, und sie setzen auch diesmal mächtige Gefühle frei.

Dabei ist der Gotthard eigentlich kein sehr alter Pass. Die Römer und ihre Kultur kamen über die Bündner Pässe in das Gebiet der heutigen Schweiz. Auch Furka und Grimsel sind in Verbindung mit den Walliser Pässen die historisch ehrwürdigeren Übergänge. Was den Gotthard auszeichnet, ist nur die Nähe zur Landschaft der Gründungsgeschichte um den Vierwaldstättersee und die dramatische, vielbeschriebene Gefahrenzone der Schöllenenschlucht. Am seltsamsten aber erscheint, dass dieser exemplarische Berg gar kein Berg ist, sondern ein Sattel zwischen Bergen und also kein markantes Gesicht hat. Das Matterhorn kann man als plastische Gestalt zeichnen, auch die Jungfrau und den Pilatus, den Gotthard nicht. Auf Kollers Bild von der Gotthardpost wird dies zum eklatanten Ereignis. Der Gotthard erscheint als die blaue Lücke am oberen Bildrand, in der ein leichtes Wölkchen schwebt. Wo er wäre, wenn es ihn gäbe, ist nichts. Und trotzdem wurde er während des Zweiten Weltkriegs zum Inbegriff des Widerstandes, und die Mitrailleure, die dort Dienst leisteten, die «Gottertmitr», galten im Volk als die Elitetruppen der Schweiz. Die kollektive Fantasie geht ihre eigenen Wege, und wo nichts ist, kann sie auch dies zum Zeichen machen. Mythisches Potenzial hatte nur der Weg zum Gotthard. Goethe hat ihn mit vier Zeilen in dieser Eigenschaft erfasst, nachdem er am 21. Juni 1775 die Route selbst abgeschritten hatte:

«Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,

In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.»

Nicht den Teufel und seine Brücke also erwähnt er, obwohl der genaue Ort dieser Sage ins Blickfeld kommt, sondern das ungreifbar Urtümliche der Drachen, einer schauerlichen Vorwelt, durch die passieren muss, wer in das heiterleuchtende Italien will. Das Stichwort Maultier aber bindet die archaische Vision an die konkrete Praxis des damaligen Passverkehrs. Goethe hat die Maultierkolonnen, die täglich über den Gotthard zogen und mit kleinen Glocken behängt waren, damit sie im häufigen Nebel nicht verlorengehen konnten, mehrfach beschrieben. Die erste Fahrstrasse über den Pass wurde erst 1830 eröffnet. Goethe hat sie nie gesehen.

Im Gegensatz zur gewissermassen zeitlosen Existenz der ragenden Berge war der Gotthard von Anfang an ein Ort der technischen Herausforderungen. Seine Geschichte ist bis heute auch eine der Ingenieurskunst. Schon als Ort der Sage war er zugleich ein Ereignis des Fortschritts: Der Teufel, der die erste Brücke baute, war technisch begabt, während die Urner, die ihn überlisteten, indem sie ihm die versprochene Seele in Form eines Ziegenbocks überstellten, nur Bauernschläue vorweisen konnten.

Erheiternd ist übrigens, dass schon Haller vor der Frage stand, wie er den Gotthard denn beschreiben solle. Dessen symbolisches Gewicht verlangte nach einer Erwähnung. So machte er ihn kurzerhand zu einem himmelstrebenden Berg und liess eine Strophe mit dem Vers beginnen: «Denn hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget …» Ein solches Haupt sucht man auf dem Gotthard nun wirklich vergebens.

Es hätte allerdings die Möglichkeit gegeben, die zwei Gipfel, die dem Pass am nächsten stehen, den Pizzo Centrale im Osten und den Pizzo Lucendro im Westen, zu einer Zwillingsgruppe zu stilisieren, mit dem Übergang in der Mitte, und so doch noch ein plastisches Gebilde zu gewinnen. Das ist aber nie versucht worden, obwohl die beiden Berge, je knapp 3000 Meter hoch, von eindrücklicher Kontur sind. Ihre Namen sind indessen nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen und auch heute nur den Alpinisten und Soldaten bekannt; im 18. Jahrhundert waren sie wahrscheinlich noch namenlos. Dagegen findet sich schon früh, auch etwa bei Scheuchzer, der Versuch, den Gotthard symbolisch aufzuwerten, indem man ihn zum Ursprung aller großen Flüsse Europas erklärte. Rhone und Rhein, Ticino und Reuss, Aare und Inn (mithin die Donau) sollten seiner Felsenbrust entspringen, wodurch er, in Analogie zum menschlichen Blutkreislauf, als das Herz nicht nur der Schweiz, sondern des Kontinents hätte gelten können. Aber geografisch ist die schöne Vision leider unhaltbar. Haller, den der mythische Gedanke vom zentralen Ursprung der Gewässer durchaus beschäftigt hat, zog dafür nie den Gotthard in Erwägung, sondern zuerst den Furkapass, später überraschenderweise das Schreckhorn. Die sechste Strophe vor dem Ende des Gedichts begann ursprünglich so:

«Aus Furkens kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen

Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt,

Entspringt die helle Aar …»

Wozu Haller in einer Anmerkung erklärt, dass mit den «Seen» zwei Meere gemeint seien: «Der Rhodan nach dem mittelländischen Meere, die Reuß und Aare in den Rhein und die Nord-See.» Der Rhodan ist die Rhone, und was die Furka betrifft, stimmt die Aussage, dass die Wasser von hier zu den «beyden Seen» fliessen. Nur für die Aare trifft es nicht zu, obwohl geografisch wenig fehlt. An der Aare aber war dem Berner sehr gelegen; schliesslich strömte sie mitten durch seine Vaterstadt, und der Rest der Strophe ist ein Hymnus auf sie. Also liess Haller die Aare in den späteren Auflagen am Schreckhorn entspringen, was geografisch nicht ganz falsch ist, obwohl das Lauteraarhorn, das Finsteraarhorn oder das Wetterhorn ebensogut in Frage gekommen wären, aber mit dem Ursprung der Rhone hat das Schreckhorn leider gar nichts zu tun, also auch mit dem Mittelmeer nicht. Die definitive Fassung ist demnach sachlich falsch, auch wenn sie prächtig tönt: «Aus Schreckhorns kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen / Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt …»

Das scheinbar kleinliche Kritteln an einem großartigen Gedicht rechtfertigt sich hier insofern, als dabei die Schwierigkeit sichtbar wird, den nationalen Wunschgedanken vom Ursprung der europäischen Flüsse aus einem einzigen Berg im Herzen der Schweiz zwingend zu begründen. Wieder einmal stellt die empirische Wirklichkeit der patriotischen Fantasie ein nüchternes Bein. So hält man sich denn in der Gegenwart lieber an das Werk der Ingenieure und Mineure, an den ruhmreichen Tunnel.

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9783039199136
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