Читать книгу: «Abstufung dreier Nuancen von Grau», страница 2

Шрифт:

Die Angst vor Wiederholungen hat sich in mir verstärkt, seitdem ich meinen Kopf wieder nach links und nach rechts drehen kann. Auch die Zeit hat seitdem angefangen, ihr Tempo zu beschleunigen. Und es gibt auch wieder Leute, die vorgeben, mich zu kennen, mich schon irgendwo gesehen zu haben. Wie diese Frau im Bett rechts vom Fenster. Sie will meine Erinnerung auffrischen. Heute morgen hat sie es schon einmal versucht, jetzt versucht sie es wieder.

Die neugieriglangweilige Frau rechts vom Fenster versucht mich wieder anzupeilen, ich schüttele, rüttele den Wortschwall ab. Nachdem die Betten gemacht worden sind und die Frau am Fenster einen zweiten Anlauf nimmt, heult schon der Rettungswagen draußen vor dem großen Tor und rettet mich. Er fährt zum Tor herein, die Treppe herauf, den langelangen Flur lang, fährt ein in unser Krankenzimmer, hält vor dem leeren Bett in der Mitte, niemand steigt aus, keiner steigt ein, es war falscher Alarm.

Die Tablettenschwester kommt herein, bringt auf ihrem Tablett die Pillen gegen den Unschlaf, gegen die kommende Unnacht, gegen den ablaufenden Untag. Die Oberschwester bringt mir die Krücken. Kurz darauf kommt eine Unterschwester, die mir zeigt, wie man damit vorankommt. Sie kommt besser voran als ich. Ich probiere es noch einmal und immer wieder auf dem langen Flur. Dann im Treppenhaus. Fünf Stufen hinauf und dann die fünf Stufen wieder hinab. Die Schwester sagt »Bravo«, die Nachmittagsschwester. Ich bin so stolz, dass ich mich am Abend mit meinen Krücken gleich zehn Stufen hochquäle. Und wieder hinunter.

Am nächsten Vormittag wieder. Die Vormittagsschwester sagt aber nicht »Bravo«. So schnell gewöhnt man sich an den Erfolg. Um die Mittagszeit gehe ich fünfzehn Stufen hoch, auf dass die Mittagsschwester »Bravo« sage. Sie sagt, dass »wir gut vorankommen«, sie ist stolz auf uns, sie ist überzeugt, mich motiviert zu haben, und wartet so lange unten am Treppenabsatz, bis ich zwanzig Stufen schaffe.

Schon schreiten wir den langen Flur auf und ab, ich und mein spärlicher Schatten, von einem spärlichen Licht verursacht. Vom Flurfenster hat man einen Ausblick auf die Hausdächer der Innenstadt, links der Schacht eines Innenhofs, rechts die tiefe Schlucht einer Straße, die von einer blauen Straßenbahn durchfahren wird.

Diese bedrückende Stille, die sich wie ein langgezogener Heulton anhört, alles, was hier geschieht, vollzieht sich in der Stille eines langgezogenen Heultons, der zu Besuchszeiten abgelöst wird von einem immerwährenden, abgedämpften, undramatischen Summton, einem Abschnitt der Zeitlosigkeit. Dieser Summton wird an einem Sonntag unterbrochen von der Ankunft eines Hubschraubers auf dem Hausdach. Er fliegt aber bald wieder weg, hatte sich verflogen, war auf einem nestlosen Dach gelandet.

Der Professor lächelt im Vorbeigehen die rechte Wand an, jetzt weiß ich, wie er aussieht, sie hatten alle von ihm gesprochen, an der kalten Flurwand kondensiert das skeptische Lächeln des weißen Mannes. Die Wand trieft. Nur kurz sehe ich die Frau im blaugrauen, samtschimmernden Morgenmantel unten am Treppenabsatz stehen und höre sie lachen. Ein Sonnenstrahl fällt aus dem langen Fenster hoch oben und trifft sie in voller Grelle. Sie lacht tötend laut, hysterisch, ohnmächtig, mit einem Schrei, der alles übertönen will, was ihr widerfährt. Sie ist außerstande, die Treppe hochzusteigen, und versucht nun, diese Treppe totzulachen. Die bleibt aber unberührt stehen, sie steinert schon über hundert Jahre hier und wird in abgewetztem Zustand jedoch standhaft weitersteinern. Keine Tageszeitschwester ist in der Nähe, und ich kann der Frau im blaugrauen Morgenmantel nicht helfen.

Die Wunde zerreißt das Gewebe aus sonntäglichen Summtönen, das Fieber meldet sich wieder, die ungnädige Schwester von den Schwestern verschleiert den Tischstuhl mit der verkrampften Einbuchtung, bitte locker, ganz locker, Nachtfalter schweben zum Fenster herein, lösen die Tagesfalter ab, die Vereinten Nationen walten ihres Amtes, Kanonendonner nähert sich, lichterloh schlägt eine Granate ein, doch die Vereinten Nationen walten weiter, am Bettfuß steht der Name. Der Vorsitzende hält eine Rede über den Frieden, eine Rede an die Wunde, an die Wände, die Nachrichten sind vorbei, und wir atmen erleichtert auf, wir müssen den Frieden festigen, wie geht es uns heute.

Die Neue, die heute freiwillig hier eingetroffen ist und neben der Tür liegt, hat ein Fernsehgerät mitgebracht. Jetzt geht dort einer durch den Sand, er geht ständig auf und ab, von einem Rand des Bildschirms zum anderen, er hat nicht viel Platz, es ist ein kleiner, handlicher Fernseher, der Mann, der da durch den Sand geht, hat nur eine kleine Fläche zur Verfügung, kann sich nur in der eng eingerahmten Landschaft bewegen, er geht über eine weite Sandebene, die in einem kleinen Rechteck eingefangen ist.

Jeden Tag das gleiche Zeremoniell der Visite: Geheimsprache, heute etwas feierlicher als am Vortag, der große Professor ist dabei, Beschwörungsformeln werden an die Assistenzärzte weitergegeben, alle sind mit Notizblöcken zur Zeugenaussage erschienen, die Presse ist geladen, sich vor dem Professor zurückziehende, kittelflatternde Schwesternschülerinnen verstecken sich in Nischen und flüstern, Pazifisten werden versackt, verschnürt und abgeliefert, es donnert und flammt hinter der Rede bei den Vereinten Nationen, ich erwache immer wieder aus dem gleichen Traum, die Patientinnen ziehen die Decke bis zum Kinn, die Oberschwester enthüllt sie wieder, bietet sie dem Professor an, Finger an die Wunde, der Professor schaut den Oberarzt bedeutsam an, der Oberarzt den Unterarzt, immer noch bedeutsam, der Unterarzt die Medizinstudenten, die Schwester schaut nichtssagend den Bruder an, nicht meine Schwester, nicht deine Schwester, Schwester schlechthin, nicht mein Bruder, kein Muttervater, sich im Schatten der Geräte versteckende Schwesternelevinnen.

Ich bin eingenickt und wache wieder auf, als ich die Tür höre: Mit dem Gipsabdruck eines Lächelns bringt die Oberschwester ein schlimmes Telegramm auf dem Tablett. Ihr Gang ist gerade, die Spur ihrer Schritte mit dem Lineal gezogen, zielschnurstracks eingestellt. Die korrektstraffe Haltung der Schulter ermöglicht die vorgeschriebene Spannung der weißen Kittelknöpfe über dem Busen. Sie bietet das Telegramm dar, doch keiner will es haben, die Patientinnen drehen sich um in ihren Betten und ziehen die weißen Decken über das freiliegende, ungeschützte Ohr. Demzufolge schaltet die Oberschwester das Licht aus und versucht es nochmal im nächsten Krankenzimmer: »Klingeln Sie die Nachtschwester, ziehen Sie die Notbremse, tasten Sie die Vernarbung ab.« Ich schlafe wieder ein, die Schwestern schweben irgendwo durch den Raum, Schwester Oberin, oben steht der Große Bär, den wir vergeblich anrufen: Kurz vor meinem Traum oder bereits darinnen schmiede ich Fluchtpläne.

Ich weiß nicht, welches der beiden so unterschiedlichen Prinzipien ausschlaggebend gewesen ist für meinen endgültigen Entschluss auszubrechen, das Tag- oder das Nachtprinzip, das Traumschweben ohne Krücken oder die harte Arbeit tagsüber im Treppenhaus. Sobald der Nachtfalter im Morgengrauen verschwunden ist und die weißen Tagesschmetterlinge sich noch nicht entpuppt haben, nehme ich heimlich meine scheintoten Kleider aus dem Schrank. Ich werde sie wieder zum Leben bringen, sie werden sich wieder bewegen. Die neugierigen Frauen schlafen noch, die Frischoperierte stöhnt ab und zu im Traum. Ich möchte in ihre Träume nicht eindringen, lasse sie alle schlafen, ohne einen Blick auf ihre schlafenden Gesichter zu werfen, möchte ihre Träume nicht beeinflussen, meine Absichten niemandem übertragen, meine Fluchtpläne nicht verraten. Da ich mit den Krücken keinen Lärm machen möchte, kann ich mich mit diesen sperrigen Plastikkonstruktionen unter dem rechten Arm nur sehr langsam fortbewegen, indem ich mich mit der linken Hand an dem jeweiligen Bettrand festhalte. Auf dem Flur muss ich nicht mehr so viel Vorsicht üben.

Die Treppe hinuntergehen habe ich in den letzten Tagen reichlich geübt, sie bereitet mir keine großen Schwierigkeiten mehr. Unten angekommen, bleibe ich vor dem Ambulatorium stehen, um mich ein bisschen auszuruhen. Die Tür steht einen Spalt offen. Ich nähere mich der Tür, um einen Blick in den dahinterliegenden Raum zu werfen.

Vielleicht sitzt sie immer noch da, die violette, zusammengeschnürte Frau mit dem blassen Jungen neben sich. Wer weiß, ob man ihr den Jungen wieder zurückgebracht hat, es sah damals so aus, als hätte man ihn für immer weggebracht. Vielleicht aber sitzt er wieder neben seiner Mutter und fürchtet sich. Oder die violett zugeschnürte Frau sitzt noch immer hier und wartet auf ihn. Durch den schmalen Türspalt sehe ich die Spitze eines schwarzen Schuhs, kann aber nicht feststellen, ob es ein Damenschuh, ein Herrenschuh oder ein Kinderschuh ist.

Sie hatte ganz harmlos und unscheinbar dagesessen, stumm eingepuppt. Mit unbeteiligten Fischaugen saß sie auf ihrem Klappstuhl, ins Leere stierend, sie saß ihr zerrinnendes Warten ab, regungslos wie in der Fotografie einer trostlosen Bahnhofshalle, in diesem wandumstellten Wartezimmer. Ein müder Schein des schrumpfenden Tages fiel durch die Fensterscheibe herein. Als er weitergezogen war und im Raum das elektrische Licht angeknipst wurde, weiteten sich plötzlich die Wände und strebten auseinander. Die in ihrer violetten Mitte festgeschnürte Frau wartete ihr raumträchtiges Warten zwischen den sich weitenden Innenwänden. Sie saß stumpf und unbewegt, nur ein klitzekleines Lauern in den Augenwinkeln des noch tiefschwebenden Meerestiers war da, ein Bläschen, das hochstieg, kurz auftauchte und an der Oberfläche platzte. Ihr Blick mit dem geborstenen Lauern sah aus wie der eines Kraken: Ab und zu zuckte das Meerestier zwischen den Aquariumwänden.

Die Sprechstundenhilfe war schon lange nicht mehr im Türspalt erschienen, um einen Namen auszurufen oder die mannigfaltigen Geschehnisse zu verkünden, die sich da draußen abgespielt haben mussten, die sich lange vorher angekündigt hatten, weil sie ständig sich ablösende Kunden, aber in keiner Weise kundig sind. Die Kunde wird sie jedoch hier nie erreichen, sie warten immer wieder vergeblich.

Der blasse, dicke Knabe neben ihr, der stilldicke Knabenstill, blass und fromm, er saß im Schweben, der Sohn eines Kraken. Er war mit seinem Klappstuhl verwachsen, der Klappstuhl schwebte mit. Die Mutter, in rosa Söckchen gezwängt, mit violettstrotzenden Adern, in denen das verbrauchte Blut pulsierte. Die Füße mit den rosa Söckchen waren eingezwängt in enge pechschwarze, glänzende Lackschuhe, einer davon entschieden in die linke Zimmerecke weisend.

Mit der kohlrabenrechten Schuhspitze, raumteilend und präzisierend, wies sie in eine bestimmte Richtung: Von ihrer Schuhspitze ging eine Linie aus, die den wartenden Raum in zwei Warteteile trennte. Es gab nun nach dieser Einteilung die rechts von der Schuhspitze Wartenden und die links von der Schuhspitze Wartenden. Die Hüften der Frau aber flossen fliederfarben und weit auseinander und übergossen sich unter der Schürze des modischen Dirndls. Aus dem Brusttuch kroch schließlich der langerwartete Regenwurm heraus, die Blindschleiche taub und stumm, es könnte auch eine kleine Schlange gewesen sein, ich glaube, es war eine Schlange. Das Tier schlängelte sich hoch, über den lilagespannten Busen nach unten, schlang sich um die festgeschnürte Taille, so fest, dass die Hüften bei jeder Bewegung immer weiter auseinanderzulaufen schienen, der Fladenrock ergoss sich und überschwemmte den ganzen Fußboden.

Man hatte es versäumt, die Überschwemmung einzudämmen, das Aquariumviolett in seine Schranken zu weisen, man hielt es immer noch für harmlos und ignorierte es, rosa und fliederfarben, wie es war, mit violett durchschimmernden Adern. Dann breitete es sich wie ein unflätiger Fladen aus und feuchtete die wenigen Möbelstücke an, die im Raum standen. Giftige Düfte stiegen hoch, da man es versäumt hatte, sie rechtzeitig zu neutralisieren, weil der spitze Schrei dazwischengekommen war, unerwartet hereingeplatzt durch die linke Wand.

Der Schrei hatte alles weggewischt, alle Möglichkeiten der Abwehr lahmgelegt, so dass die Gegenstände im Raum andere Farben bekamen, die Geräusche und Wörter eine andere Klangfarbe, auch die kleinsten kriechenden Laute, das Knistern, Räuspern, Hüsteln, Scharren, alles wurde untereinander vertauscht und unkenntlich gemacht, die weißen Wände waren violett, die violetten Hüften der eingeschnürten Frau gewitterblau. Der blasse Knabe schrak zurück. Neuankömmlinge drängelten zur Tür herein und ergossen sich ins Wartezimmer, lösten sich in der dunkelvioletten Feuchtigkeit auf, des Knaben weißes, glattgebügeltes Hemd leuchtete durch, brav und still saß er in seiner schwarzen Hose, mit dem Klappstuhl verwachsen, klapp und still stand der Knabenstuhl da, einsam zwischen den anderen Stühlen, schwarzweiß stumm saß der Knabe, mit einem gipsverlorenen Lächeln im Barockengelgesicht, der dicke, stille Knabe in des Wartezimmers Ecke, sockenrosa, wachsam die Mutter daneben, mit großen, zusammengezwängten Brüsten unter dem bunten Tuch.

Die Tür wurde draußen mit Tesafilm zugeklebt, auf dass keiner mehr hereindränge oder sich unerlaubt entferne, nur ein leiser Summton erhob sich darauf, sank, fiel und blieb liegen vor den angefeuchteten Schuhspitzen von irgendjemandem, der da war ein Wartender oder eine Wartende. Nach dem Schrei hörte sich das Säuseln und Summen wie die Stille an, die darauffolgende, erwartungsvolle, als Stille gemeinte Stille, wie Fliegeralarm mitten im Frieden. Dieser Warnton überheulte das Klappern der Schlange. Nach so vielen Verfälschungen, räumlichen und farblichen Mutationen achtete keiner mehr auf die fliederfarben- und violettgemusterte Schlange, die man sonst kaum hätte übersehen können. Nur der stille, dicke Knabe nahm sie für einen Augenblick wahr: Einen Augenblick stand Entsetzen in seinem Gesicht. Dann wurde es wieder engelhaft ruhig, er wird sich getäuscht haben. Er hatte sich jedoch nicht getäuscht: Die Schlange meldete sich nur, solange die anderen wegschauten, sie zeigte sich nur dem stillen, blassen Knaben, solange die anderen mit ihren Sinnen abwesend waren. Allein der Knabe war schwarzweiß geblieben und hatte nicht die tiefviolette Farbe des Raums angenommen wie die anderen Wartenden.

Als keiner mehr hinschaute, stürzte sich die Schlange hundeartig mit einem Satz auf das Stuhlbein des Knabenklappstuhls und biss ein Stück Holz aus. Sie bellte den Knaben kurz an und verschwand, sobald die anderen, vom Bellen wachgerüttelt, aufschauten. Es sah so aus, als wäre nichts geschehen im spätvioletten Raum. Sie alle dachten, sie hätten sich getäuscht, das Stuhlbein des Knabenklappstuhls jedoch war angebissen, es fehlte ein Stückchen Holz, eine kleine helle Wunde war im dunkelbraun gestrichenen Vorderbein sichtbar.

Die Wartenden waren bereits wieder eingeschmolzen worden in die violette Masse, als die Schlange ein zweites Mal angriff. Sie schnappte nach dem schwarzen Lackschuhfuß des Knaben, das braune Stuhlbein jedoch schlug aus mit seinem beschlagenen Huf und traf die Schlange mitten auf die Stirn, so dass sie jaulend zurückweichen musste.

Da keiner hinschaute, griff sie wieder an, diesmal ganz sanftesanft, mehlgepudert kam sie wieder und verstellte ihre Stimme, säuselte süßviolett mit schmaler Zunge, so dass ihr der Knabe für einen entscheidenden Augenblick glaubte, sich ihr auf die Art zuwandte, die man den Normalfall nennt und Antwort gab auf eine unflätige Knabenart, es aber im nächsten Augenblick bereute, denn die Schlange biss zu. Zum Glück bekam sie nur die Schuhspitze zu fassen, die der Knabe mit einem kurzen Schrei befreite, so dass die anderen Wartenden aufschraken und ihn sehr strafend anschauten: Die Schlange aber war weg und die harmlose, dösende Wartestille wieder eingetreten.

Solange ihn die Augen der Wartenden musterten, drohte ihm keine Gefahr von der Schlange, und so versuchte er diese Mitwartenden wach und bei Laune zu halten. Der dicke, blasse Knabe war nicht mehr still und kämpfte um sein Leben. Er wurde immer lauter, bis die Sprechstundenhilfe den Tesafilmstreifen von der Tür löste, sie öffnete, hereintrat, sich den blassen Knaben schnappte, um mit ihm durch die Tür zu verschwinden. Danach wurde die Tür wieder geschlossen und zugeklebt. Spät am Abend erst wurde sie wieder geöffnet, der Pförtner des Krankenhauses kam herein und schickte die noch verbliebenen Wartenden nach Hause. Die Sprechstundenhilfe und der Arzt seien schon längst nach Hause gegangen, sagte er. Ich befand mich unter den letzten, die den Warteraum verließen, schaute mich noch einmal im Raum um, um mich zu vergewissern, dass ich nichts liegengelassen hatte, und da sah ich sie: Die in das violette Mieder gezwängte Frau saß allein auf dem Stuhl und wartete weiter, ihr Rock floss immer noch aus ihrem Leib und bedeckte nun fast den ganzen Fußboden. Sie traf keine Anstalten, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ich ging.

Ich gehe an der Tür vorbei, die man anscheinend vergessen hat, mit Tesafilm zu sichern, aus irgendeinem Grund bleibt ein dünner Spalt offen. Bis zum Ausgang habe ich noch zwei Stufen zu bewältigen, dann sind es noch einige Schritte durch die Eingangshalle, die jetzt für mich die Ausgangshalle ist. Die Ausgangshalle mit den zwei großen, oben abgerundeten Holztoren, das zweite Tor führt zum Garten, in dem ich das vorige Mal, als ich freiwillig hierhergekommen war, öfter spazierengegangen bin. Das Wesen der Tore ist alt, das Holz aber hat man erneuert, vielleicht schon mehrfach, es sieht hell und frisch aus und ist mit Holzschutz angestrichen. Der schwarze Metallgriff der Klinke windet sich wie ein trockenes, sich einrollendes Blatt im Herbst. Ob es noch die ursprüngliche Klinke ist, kann ich nicht beurteilen. So überlasse ich das Geheimnis seinem dazugehörigen Tor und entferne mich langsam auf meinen Krücken, strebe zäh und verbissen der Straßenbahnhaltestelle zu, steige in die erste Straßenbahn, die kommt, ein und bin entschlossen, bis zur Endhaltestelle zu fahren.

Es ist die Neunzehn, die kommt, und sie ist voll. Ich muss stehen, es ist kein Platz mehr frei. Die Krücken lehne ich an die Waggonwand und halte mich mit beiden Händen an einer Lehne fest. An der ersten Haltestelle steigt niemand aus, einige steigen noch zu. Ich entschließe mich, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, vielleicht finde ich irgendwo eine Parkbank.

Die nächste Haltestelle ist an einem Marktplatz: Überall Stände mit Obst und Blumen, eine Menge Leute. Er sieht genauso aus wie jener Marktplatz in Turmstadt. Auch hier steht ein Kirchlein auf der anderen Seite, jenseits dieses bunten Gewimmels, es scheint meilenweit entfernt zu sein. Zwischen mir und dem Kirchlein hat sich eine ganze Welt aufgetürmt, die vielen grellen, bunten Schirme haben die Häuser des Platzes verdrängt und in den Hintergrund geschoben. Da war doch unweit der Kirche dieser Italiener mit seinem Obststand. Ich nannte ihn Luigi, wie er in Wirklichkeit hieß, weiß ich nicht, vielleicht hieß er auch Luigi. Bei Luigi kaufte ich immer mein Obst. Er hatte wunderschöne große Birnen, rotgoldene Aprikosen, knackige Kirschen. Jedesmal wartete eine lange Menschenschlange vor Luigis Obststand. Eines Tages kaufte ich Birnen, jede Birne so groß wie eine Orange. In einer braunen Papiertüte, wie immer. Zu Hause angekommen, nahm ich die Riesenbirnen einzeln aus der Tüte und musste feststellen, dass die unterste gänzlich verfault war. Ich war sehr enttäuscht von Luigi, war verärgert und nahm mir vor, es ihm heimzuzahlen. Ja, das war’s: zahlen!

Einige Tage lang sammelte ich Pfennigstücke, so lange, bis ich den passenden Betrag für vier Pfund Luigi-Kirschen beisammen hatte. Mit dem gezählten Geld, lauter Einpfennig-Münzen, ging ich zum Marktplatz und stellte mich vor dem Obststand des kleinen Gauners an, um ihn mit kleinen Münzen zu bezahlen. Ich ließ mir die Kirschen im Korb reichen und legte ihm dann die zwei Handvoll Kupfermünzen auf den Tisch, es sei alles abgezählt er dürfe nachzählen. Luigi wurde so rot wie seine Kirschen und wollte das Geld nicht haben. Er solle es nur nehmen, sagte ich, es passe gut zu ihm, ich hätte es mühsam für ihn gesammelt und genau abgezählt, er solle nachprüfen, ob es stimme. Ohne sein Nachzählen abzuwarten, ging ich, ich nehme an, er hat es nie nachgezählt, er war viel zu sehr beschäftigt mit lautem Schreien, es muss Italienisch gewesen sein, ich habe kein Wort verstanden, stellte nur fest, dass jedermann auf seine Muttersprache zurückgreift, wenn Emotionen plötzlich wie ausgespuckte Kirschkerne nach außen drängen. Ich ließ ihn schreien und ging weiter. Er war sehr verärgert, und das hat meinen eigenen Ärger über die faule Riesenbirne aufgewogen: Ich war ihm nicht mehr böse.

Da ich ihm nicht mehr böse bin, würde ich ihn gerne wiedersehen zwischen all dem schönen Obst. Da fällt mir ein, dass ich in einer anderen Stadt bin. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht: Ich hatte Luigi nicht betrogen, das Geld war auf den Pfennig abgezählt. Da Luigi nicht hier ist und mir alle anderen Obst- und Blumenverkäufer unbekannt sind, gehe ich zurück zur Haltestelle und steige wieder in die erste Straßenbahn ein, die gerade einfährt. Erst an der zweiten Station merke ich, dass es die falsche Richtung ist, ich muss am Marktplatz an der falschen Stelle eingestiegen sein. An der nächsten steige ich wieder aus. Es ist ein großer Platz, auf dem anscheinend eine Kundgebung stattfindet, viele Leute stehen umher, sie scheinen auf etwas zu warten. Die Gegend ist mir fremd, ich war nie zuvor hier gewesen. Vielleicht aber trügt mich das Gefühl des Fremdseins, wie mich auch das Gefühl des Vertrautseins auf dem Marktplatz getäuscht hat.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 339,67 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
180 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783946046325
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают