Читать книгу: «Hölle und Himmel», страница 2

Шрифт:

Am Abend kamen wieder sein Stiefvater, seine Mutter und Karin, die aber nicht in meine Richtung guckte. Sie hatte nur Augen für ihren Bruder, über den sich ihre Mutter gebeugt hatte, um mit ihm leise und eindringlich zu reden. Dann richtete sie sich auf und gab dem Apotheker ein Zeichen, worauf er den Tisch neben dem Bett frei räumte, mit einem weißen Tuch belegte und auf ihm ein Kreuz, zwei Kerzen, ein Glas Wasser und Schälchen mit Salz und Wattebäuschen stellte. Er sah mich nur kurz an, aber es genügte, mir einen Schauer übe den Rücken zu jagen. Inzwischen war Karin hinausgelaufen und kehrte mit dem Kaplan zurück, den ich schon in der St. Marien-Kirche gesehen hatte. Er schritt betend an uns Kranken vorbei und besprengte uns mit Weihwasser. Ich wusste sofort, ohne es vorher gesehen zu haben, dass hier die letzte Ölung gespendet wurde. Würde Karl doch sterben müssen?

Sie hatten sich hingekniet und beteten mit dem Kaplan, der sehr ernst aussah und seine Brille nach oben rückte, während seine Hand durch das Haar fuhr und seine streng gescheitelte Frisur zerstörte. Er stieß schnell seine Gebete aus, so dass Karls Familie nicht folgen konnte. Schließlich warteten sie und sagten in den Pausen: Herr, erbarme Dich, Christus erbarme Dich. Herr erbarme Dich. Dann verließen sie den Raum, ich musste mich zur Wand drehen, denn jetzt wollte der Kaplan Karl die Beichte abnehmen. Ob Karl schon vorher gebeichtet hatte? Bestimmt! Denn ich war wegen meiner späten Ankunft in den Westen der Älteste in meiner Kommunionsklasse. Ob Karl das mit seiner Rache beichten würde? Er musste es! In der Beichte durfte man keine Sünden verschweigen, selbst die geringsten nicht! Ich hörte Murmeln und Flüstern, dann stand der Kaplan auf. Ich drehte mich um und sah, wie der Kaplan das Kreuzzeichen über Karl schlug. Dann war er von seinen Sünden befreit. Dann konnte ihm nichts mehr passieren.

Seine Familie kam wieder herein, und der Kaplan salbte Karl an Augen, Ohren, Mund, Händen und Füßen und sprach hastig und heiser etwas über Sünden und Verzeihen. Manchmal aber betonte er jedes Wort, so dass ich ihn gut verstand. Diese Worte gruben sich in mein Gedächtnis ein. Nichts soll der Feind gegen ihn vermögen, sagte der Kaplan. Und der Sohn der Bosheit soll ihm fürderhin nicht schaden. Möge ihn nicht das Feuer der Hölle verschlingen, sondern die göttliche Gnade erretten. Durch unsern Herrn. Amen.

Es grauste mich, als ich von der Hölle hörte. Oh, dass er bloß nicht starb und hören musste, ob er in den Himmel oder in die Hölle kam! Nein, er brauchte keine Angst zu haben, er war ja von allen Sünden gereinigt und gesalbt. Aber was meinte der Kaplan mit dem Feind und dem Sohn der Bosheit? Das musste der Teufel sein! Oh, wie schrecklich, wenn im Augenblick des Todes der Teufel auf die Seele lauerte! Aber Karl würde ja nicht sterben, er nicht!

Als sie gegangen waren und nur noch das trübe Nachtlicht schimmerte, hätte ich gern gewusst, wie es ihm ging. Er antwortete nicht, er war wohl eingeschlafen. Aber später weckte mich sein Weinen. Es war ein Wimmern und Winseln, das immer höher anstieg, bis es abbrach und von neuem begann, wie weinendes Schnarchen. Er schlief nicht, seine aufgerissenen Augen glänzten. Er flüsterte etwas von Feuer. Das hörte ich deutlich: „schreckliches Feuer!“

„Nein!“, schrie ich auf. „Denk nicht an das Feuer der Hölle! Du brauchst dich nicht zu fürchten! Du hast gebeichtet, Jesus wird dich vor der Hölle schützen!“

Sein Kopf ging hin und her, die Glut der Augen war fast erloschen, das Gesicht aschgrau. Satzfetzen stiegen hoch, kaum verständlich: etwas von Rache und Apotheker, von Flammen, wie er brannte.

Was wollte er bloß sagen? Sollte die Strafe für den Apotheker die Hölle sein? War das seine Rache? Aber das ging doch nicht! Man durfte keinen Menschen in die Hölle wünschen!

Ich stand langsam auf, musste aufpassen, dass mir Schlauch und Beutel nicht in die Quere kamen, beugte mich über ihn, rief seinen Namen, bat ihn, deutlicher zu sprechen.

Er schien mich nicht zu verstehen, sein Atem rasselte. Aber dann stieg es wieder hoch, in einem Gemurmel und Geröchel, das wie Rache und Apotheker und Feuer klang. Plötzlich glomm es in seinen Augen auf, als ob er mich erkannte. „Rache - Apotheker - in den Flammen - er brennt, er brennt!“, kam es stoßweise. Und dann etwas lauter: „Blutsbruder - Karin!“

Damit war ich gemeint! Und Karin war seine Schwester. Was wollte er von mir oder von ihr?

Er sagte aber nichts mehr, sein Atem ging ruhiger, er war eingeschlafen. Doch ich konnte nicht schlafen, ich versuchte herauszufinden, was er gesagt hatte. Es schien mir so, dass der Apotheker in den Flammen brannte, also selbst in der Hölle war. Mein Herz klopfte wie verrückt. Er wollte mit seinen Gedanken in meinen sein. Wenn der Augenblick der Rache kam, würde ich alles wissen. War das seine Botschaft? War das die Rache, dass der Apotheker in die Hölle musste?

Schließlich fing mich der Schlaf doch ein, er war unruhig und stieß mich hin und her. Ich träumte, dass ich in eine tiefe Grube sah, aus der hohe Flammen loderten. Unten aber lag der Apotheker und sein Gesicht war wie Papier, das an den Rändern vom Feuer erfasst wurde und zu brennen begann!

Schreiend wachte ich auf. Ich sah sofort nach Karl und hoffte, ihn nicht geweckt zu haben. Er lag regungslos im Dunklen, kaum sichtbar, aber schweres Atmen zeigte an, dass er noch lebte. Wie gut, dass er noch lebte! Wieder stand ich vorsichtig auf, um mich nicht zu verheddern, und beugte mich über ihn. Ich musste wissen, ob er den Apotheker tatsächlich in der Hölle gesehen hatte.

„Karl!“, rief ich.

Er hörte mich nicht.

„Was ist mit dem Apotheker? Muss er in die Hölle?“

Er gab mir keine Antwort. Nur sein Brustkorb hob und senkte sich und es knarrte und ächzte wie ein Schiff auf schwerer See.

Früh am Morgen wurde er hinausgerollt, mich schienen sie vergessen zu haben. Nach langem Warten, es musste Mittag sein, holten sie mich ab. Vor der Narkose betete ich flehentlich zu Jesus, dass er mich vor der Hölle rettete. Als ich aufwachte, lag ich wieder in meinem Bett, aber Karl fehlte.

Ich fragte die Schwester und sie sagte etwas von Intensivstation. Das klang bedrohlich. Sie beruhigte mich, es handelte sich nur um eine komplizierte Operation und da wollten sie auf sicher gehen.

Diesmal half es nicht, neben Winnetou und Old Shatterhand zu reiten. Sie sahen besorgt aus und fragten nach meinem Blutsbruder. Ich sollte ihn auf keinen Fall im Stich lassen. Auch die Schwester sah besorgt aus. Es wäre kritisch, aber die Ärzte würden es schon schaffen.

Am nächsten Morgen, als Muttel mich abholte, erfuhr ich von seinem Tod. Alle sprachen darüber, auch die Frauen am Eingang, wo Muttel etwas unterschreiben musste. Sie wollte von mir mehr wissen, aber ich schüttelte den Kopf. Sie machte einen neuen Anlauf, als wir in der Straßenbahn saßen. Sie dachte, er sei mein Freund gewesen. „Lass mich in Ruhe!“, schrie ich, was ich noch nie gewagt hatte.

Ihre Augen blitzten zornig, aber sie besann sich, als die Fahrgäste uns ansahen. Wir fuhren schweigend nach Hause und ich mied ihren Blick.

2. Karin

Nach dem Krankenhaus bekam ich Fieber mit Alpträumen, die Muttel und Omi so beunruhigten, dass sie mich für einige Tage nicht in die Schule schickten. Ich sollte mich schonen und es mir gut gehen lassen. Aber es ging mir nicht gut. Ich sah immer wieder das Gesicht des Apothekers wie Papier brennen. Aber konnte man ihn schon in der Hölle sehen, wenn er noch lebte? Vielleicht hatte Karl so etwas wie eine Vision gehabt, wo man in die Zukunft sah. Wenn das so war, was wollte er noch von mir? Ich brauchte ihn nicht zu rächen, der Apotheker würde auch ohne mich seine Strafe kriegen. Und Karl selbst brauchte keine Angst mehr vor der Hölle zu haben. Mit der Beichte und der letzten Ölung war er jetzt im Himmel, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Und weil er jetzt im Himmel war, durfte er nicht mehr an Rache denken. Also hatte sich die ganze Sache sowieso erledigt. Er brauchte mich nicht mehr und ich brauchte mir keine Gedanken mehr zu machen.

Aber warum träumte ich immer wieder vom Apotheker? Ich traute mich schon gar nicht die Augen zuzumachen. Schon sah ich sein brennendes Gesicht. Das musste an meinem Fieber liegen wie auch Karl im Fieber gesprochen hatte, das durfte man nicht ernst nehmen. Warum sollte der Apotheker Karl vergiften? Das war doch unsinnig! Karl war im Krankenhaus gestorben, weil er ein schwaches Herz hatte. Die Ärzte hatten alles versucht, waren aber gescheitert. Daran hatte doch der Apotheker keine Schuld!

Nein, ich wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Es war mein Fehler gewesen, mich auf den Blutpakt einzulassen. Die ganze Idee war verrückt. Was nützte es mir jetzt, Karls Blutsbruder zu sein? Wir hatten geglaubt, jeder kannte die Gedanken des anderen. Das war schon falsch. Wie sollte ich die Gedanken eines Toten wissen? Es war aus und vorbei. Punktum! Ich würde versuchen, alles so schnell wie möglich zu vergessen.

In der Nacht träumte ich von Karin. Sie sah mich an mit ihren großen, dunklen, leicht schielenden Augen. Warum kommst du nicht zu mir? Du hast es versprochen!, schien sie zu sagen. Ich wollte ihr antworten, brachte aber kein Wort heraus.

Als ich aufwachte, dachte ich, dass es dumm war, sie mit meiner Gewichtheberei angelogen zu haben. Was würde sie von mir denken? Sicher nichts Gutes. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Nein, ich konnte mich nicht vor ihr blicken lassen. Ich wollte es ja auch gar nicht. Ich wollte alles vergessen. Punktum!

Ich griff nach Karls Winnetou-Band und sofort sah er mich an, blass und mit brennenden Augen. Seine letzten Worte waren Blutsbruder und Karin gewesen. Das war sein Auftrag, sein letzter Wille, den konnte ich nicht übergehen. Ich hatte die Seite aufgeschlagen, wo Nscho-tschi, die schöne Schwester Winnetous, beschrieben wurde. Ihre Augen waren samtschwarz und lagen unter langen, schweren Wimpern halb verborgen wie Geheimnisse. So hatte mich Karin im Traum angesehen. Sie wollte, dass ich zu ihr kam. Sie würde mir sagen, was ich nicht wusste. Dann verstand ich, was Karl wirklich wollte. Er hatte ja gesagt, dass sie mir weiterhelfen konnte. Gut, sobald es mir besser ging, würde ich zu ihr gehen.

Nach dem Winnetou-Band wollte ich die Fortsetzung lesen, also brachte mir Omi das nächste Buch aus dem Tabakgeschäft von Frau Kreut. Der süßlich-würzige Geruch ihres Ladens blieb in den Seiten hängen. Kaum hatte ich ihn eingeatmet, ritt ich schon mit Winnetou über die Prärie, und er fragte mich, wie es Karl ging, Scharlih sagte er. Als er von seinem Tod hörte, schüttelte er traurig den Kopf. Dann müsste ich mich um seine Schwester kümmern. Ich versprach es ihm.

Einen Tag später ging ich selbst in das Geschäft, um Winnetou III zu holen. Da lagen vor mir eine Pfeife und eine Tabaksdose auf dem Ladentisch. Die bucklige, schwer bebrillte Frau Kreut war in den düsteren Hintergrund geschlurft und hinter einem Vorhang verschwunden. Ich war wie so oft ihr einziger Kunde. Ich öffnete unwillkürlich die Tabaksdose und mit dem Einatmen des Geruchs stand Karl neben mir und nickte. Ich nahm ohne Zögern Dose, Pfeife und Feuerzeug und sprang nach draußen. In der Nähe gab es ein Trümmerhaus, das wir nicht betreten durften, wo wir aber oft spielten. In einem Keller rauchte ich die Pfeife. Tatsächlich hatte ich ein deutliches Bild von Karl. Er nickte wieder und schien zufrieden.

Bald danach kam Frau Kreut zu uns nach Hause. Ihre rote Knollennase schnupperte mich an. Ich sollte ihr die Pfeife wiedergeben. Ich wollte es schon tun, als ich Karl heftig den Kopf schütteln sah. Also stritt ich alles ab. Ich konnte doch gar nicht rauchen!

„Schwöre bei der heiligen Jungfrau Maria, dass du die Pfeife nicht gestohlen hast!“

Frau Kreut saß drei Bänke schräg vor uns in der Kirche. Ich wusste, dass sie mich mochte, ich brauchte oft nicht nachzuzahlen, wenn ich die Leihfrist überschritten hatte. Ich konnte nicht weiterlügen. Wortlos zog ich Pfeife, Dose und Feuerzeug aus meinen Taschen. Omi sah mich entsetzt an: „Jedutmaria!“ Frau Kreut schüttelte zungeklickend den Kopf.

Die Tränen schossen mir ins Gesicht. Dann erzählte ich schluchzend von Karl und dass ich es für ihn gemacht hatte. Frau Kreut putzte sich die Brille. Sie verstand meine Treue zu einem toten Freund, es war ihr sogar nahe gegangen, aber es war Diebstahl. Nur weil sie mich gut kannte und keine böse Absicht dahinter sah, wollte sie von einer Anzeige absehen.

Omi dankte ihr und führte sie zur Tür. Sie sollte doch bitte schön nichts davon erzählen. Man wusste ja, wie schnell Gerüchte entstanden. Dann baute sie sich vor mir auf. „Wie kannste de nur so liegen und stehlen! Ich hätte das nie bei dir gedacht!“

Ich hob die Schultern. „Wenn es aber Karl wollte!“

Sie bekreuzigte sich und sah mich prüfend an. Da half nur die heilige Jungfrau und der Rosenkranz. Der hing an der Wand ihres Zimmers. „Geh und bete zwee Gesetze mit je eenem Vateronser, zehn Ave-Maria und eenem Ähre sei dem Vater!“

In ihrem Zimmer roch es nach Mottenkugeln und Weihwasser aus Lourdes. Wenn ich noch die Pfeife hätte, um dagegen anzurauchen! Ich nahm den Rosenkranz in die Hand und begann zu beten, als mir einfiel, dass Omi in einer ihrer Schubladen die alte Pfeife von Opa aufbewahrte. Ich suchte und fand sie tatsächlich. Wie gut sie sich anfühlte! Ich steckte sie in den Mund und stellte mir vor, wie ich mit Volldampf rauchte. Da stand Karl vor mir und machte eine Handbewegung: Raus! Natürlich, hier war es ja nicht mehr auszuhalten. Nur wie? Die Tür war verschlossen. Aber gab es nicht einen Ersatzschlüssel? Den würde Omi in ihrem Zimmer aufbewahren. Ich suchte wieder und Karl schien mir Mut zu machen, aber diesmal hatte ich kein Glück. Ich ließ mich enttäuscht aufs Bettsofa fallen und sah den Schlüssel an der Wand hängen, nicht weit von dem Bild mit den Betenden Händen. Wieso hatte ich ihn übersehen? Aber wie leichtsinnig von Omi! Oder vertraute sie mir? Ich hatte ihr auch vertraut und dann hatte der Arzt zugestochen! Ich zögerte, da hörte ich Karls „Raus, raus!“

Ich schloss vorsichtig die Tür auf, die Wohnung war leer. Es war die Zeit, wo Omi einkaufen ging. Sie machte es mir wirklich leicht. Oder lag es an Karl, der schon alles wusste? Ich steckte die Pfeife in meine Hosentasche und lief los, aus der Wohnung durch das Treppenhaus auf die Straße und die immer entlang, bis ich die Straßenbahn erwischte, die mich zu St. Marien brachte. Da würde ich nach dem Haus seiner Eltern fragen.

Ich klingelte an der Pfarrei und hatte Glück, der Kaplan kam an die Tür. Aber er erkannte mich nicht, so sagte ich ihm, dass ich Karls Bettnachbar im St. Georg-Krankenhaus gewesen sei. Karl Zimmermann, dem er doch die letzten Ölung gespendet hätte!

Er sah mich aus großer Brille an. Dann schob die eine Hand seine Haartolle nach vorn, während die andere sie sofort nach hinten glättete. „So früh gestorben, der arme Junge!“, sagte er traurig. Dann räusperte er sich, um laut und streng nach meinem Namen zu fragen.

„Hans Matkowski. Ich bin in der Kommunionsklasse von Pfarrer Hawighaus.“

„Kommst du aus Oberschlesien?“

Ich bejahte.

Seine Hand wollte wieder ans Haar, unterließ es aber. Dann nahm er die Brille ab und strich über die Augen, die sehr müde aussahen. „Was führt dich denn zu mir?“, fragte er sehr freundlich.

„Ich möchte gern wissen, wo Karls Eltern wohnen?“

„Warum?“

Was sollte ich ihm sagen? Ich spürte die Pfeife in der Tasche und sah Karl vor mir. „Er ist mein Freund“, sagte ich.

Der Kaplan nickte. „Dann geht dir sein Tod wohl sehr nahe. Ich glaube, das verstehen seine Eltern.“

Er bat mich einzutreten und führte mich in ein Büro, wo er vergeblich nach der Adresse suchte. Er schlug sich an die Stirn. „Seine Eltern heißen ja Wolfahrt!“ Er zog aus dem Schrank die richtige Karteikarte und schrieb mir die Anschrift auf einen Zettel. Dann wollte er wieder an sein Haar, aber seufzte stattdessen. „Ein schmerzliches Begräbnis! So ein junger Mensch! Nicht leicht zu begreifen. Und die Tränen und die Trauer!“ Jetzt war seine Hand auf meinem Haar und durchfuhr es behutsam. „Du warst nicht dabei?“

Ich bewegte heftig den Kopf, um die Hand abzuschütteln. „Ich weiß ja nicht, wo sein Grab liegt.“

„Ach so!“ Jetzt zog sich die Hand zurück, fuhr über den Schreibtisch, holte einen Friedhofsplan, kreuzte das Quadrat an. „Wenn du Karls Grab besuchst, vergiss nicht, für seine Familie zu beten. Die haben schwer daran zu tragen.“

Die Wolfahrts bewohnten eine richtige Villa in einer ruhigen Seitenstraße nicht weit vom Stadtsee. Ich war von der Marienkirche fast den ganzen Stadtsee hochgelaufen, als mir einfiel, dass Omi schon längst mein Fehlen bemerkt hatte und sicherlich sehr unruhig war. Vielleicht versuchte sie sogar, Muttel im Büro zu benachrichtigen. Ich blieb unschlüssig stehen, meine Hand berührte die Pfeife in der Tasche. Karl stand vor mir und sagte nur: ‚Geh schon!’ Dann sah ich das vornehme Haus, das mich wieder zögern ließ. Aber ich wusste, dass Karl es wollte, also klinkte ich die Pforte zum Vorgarten auf und stapfte zur Haustür, die sich öffnete und Karin herausließ.

Sie hüpfte auf mich zu und erkannte mich erst im letzten Moment. Sie riss die Augen auf, die leicht getrübt waren und an mir vorbeischielten. „Bist du wieder gesund? Willst du mich jetzt zum Gewichtheben einladen?“

„Nein, ich komme wegen Karl.“

„Karl!“ Sie zitterte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Oh Gott! Er liegt im Grab und ich denke an Gewichtheben!“

Sie trug ein schwarzes Kleid und an ihrem Ärmel sah ich den Trauerflor. Sie holte ein Taschentuch und schnäuzte sich. Als ich auf ihr straffes, in Zöpfen auslaufendes Haar blickte, hörte ich Karls Stimme: ‚Pass auf sie auf!’

Sie hob ihr Gesicht und sah mich forschend an. „Ich muss einkaufen gehen, aber meine Mutter ist zu Hause.“

„Ich möchte eigentlich nicht zu deiner Mutter.“

Sie nickte nur.

„Ich gehe lieber mit dir.“

Sie antwortete nicht, ließ mich aber mitgehen. Ich merkte, dass sie sich wunderte, aber sie sagte nichts. Und was sollte ich sagen? Ich dachte an Karl, dann konnte ich sprechen. „Weiß du, ich bin Karls Blutsbruder.“

Sie wusste nicht, was das bedeutete und ich beschrieb ihr, was wir gemacht hatten. „Dann weiß jeder, was der andere denkt. So kann man sich helfen.“

„Aber er ist doch tot!“, rief sie.

„Doch wenn ich fest an ihn denke, kann ich ihn sehen.“

Sie schloss ihren offenen Mund nicht.

„Ja, und er wollte, dass ich mit dir spreche.“

Ihre Augen hüpften hin und her, bis sie noch stärker auseinanderliefen. „Worüber?“, flüsterte sie.

„Über die Rache“, flüsterte ich zurück. Ich hatte sofort das Gefühl, dass es ein Geheimnis war, das keiner hören durfte.

Sie schlug auch sofort die Hand auf den Mund, schüttelte den Kopf und sagte gar nichts mehr. Dann lief sie los, als wollte sie mich hinter sich lassen. Im Geschäft, in dem sie einkaufte, las sie keuchend von ihrer Liste, und der Kaufmann gab uns erst mal ein paar Bonbons aus den großen Gläsern, damit sie sich beruhigte. Dann holte er alles, packte es ein, wog es ab und legte es in ihren Korb l und goss die Milch in ihre mitgebrachte Kanne. Als wir draußen waren, wollte sie wissen, ob ich ihn jetzt sah.

Ich schüttelte den Kopf. „Manchmal muss man warten. Er kommt nicht immer, wenn man will. Es hilft auch, wenn man Pfeife raucht.“

Ihr Mund blieb wieder offen.

„Es ist der besondere Pfeifengeruch. Man schließt die Augen und sieht ihn vor sich.“

„Richtig vor sich?“

„Na ja, nicht wie ich dich jetzt sehe, nicht zum Anfassen. Aber man sieht ihn deutlich im Kopf. Und er redet.“

„Und er redet“, wiederholte sie tonlos. Sie nickte, als ob sie es geahnt hätte. Dann richtete sie ihren Silberblick auf mich. Sie musste ihn unbedingt sehen. Ob ich die Pfeife nicht bei mir hätte? Ich schüttelte den Kopf und sie schwankte, als würde sie umfallen. Ich war froh, ihr den Korb und die Kanne abgenommen zu haben, die hätte sie bestimmt fallen gelassen.

Wir standen vor ihrem Haus und hörten, wie ihr Name gerufen wurde.

Ihre Mutter! Sie musste rein. „Kommst du mit?“

Ich gab ihr Korb und Kanne. „Noch nicht!“ Karls Blick traf mich. „Komm morgen zu seinem Grab! Nach der Schule!“

„Gut“, flüsterte sie, als ob sie sich schon mit mir gegen ihre Mutter verbündet hätte, die wieder rief. „Um halb zwei.“ Sie streckte sich. Bald würde sie größer sein als Karl. Sie sah mich bestürzt an, als hätte sie etwas Verbotenes gesagt. Dann lief sie ins Haus.

Bei mir zu Hause waren sie entsetzt. Einfach weglaufen, sie in Angst und Sorge zurücklassen, was hätte ich mir bloß dabei gedacht?! Omi lief hin und her: „Jedutmaria! Pjerunje bei Gleiwitz: So jong un so’n Strupp! Wie sull das endn?“ Muttel schüttelte den Kopf. Seit dem Krankenhaus wäre ich verändert, sie kannte mich nicht mehr wieder.

Ohne Karl hätte ich nichts zu sagen gewusst, mit ihm fühlte ich mich sicher. Ich erzählte, wie ich beim Rosenkranzbeten gedrängt wurde, in die Kirche zu laufen und für Karl zu beten. Der fürchtete sich so schrecklich vor der Hölle, da musste ich doch für ihn beten. Ja, und dabei hätte ich gar nicht gemerkt, wie spät es geworden war.

Omi seufzte erleichtert auf, Muttel aber musterte mich misstrauisch. Dann wandte sie sich an Omi. Ob sie es mit Beten und Andachten nicht übertrieb? Sie hätte nichts dagegen, dass der Junge durch die Kirche zu einem ehrlichen und verantwortungsbewussten Menschen wurde, aber mit Frömmelei könnte sie nichts anfangen.

Aus Omi gurgelte es, sie öffnete den Mund, riss das Gebiss heraus, presste die Lippen zusammen und rauschte aus dem Zimmer. Muttel blickte mich finster an. „Die Toten sollte man ruhen lassen, das weißt du doch!“

Karin wartete bereits am Grab. „Glaubst du, dass Karl im Himmel ist?“ Sie schaute mich an, mit den großen, leicht aus der Bahn laufenden Augen, der gewölbten Stirn, den rundlichen Pausbacken.

„Ja, bestimmt! Er ist ein Engel und schaut vom Himmel auf uns.“

Sie nickte ernst und wir blickten auf sein Grab, auf dem noch viele bunte, aber verwelkte Blumenkränze lagen. Auf allen Schleifen stand, dass sie Karl nie vergessen würden.

„Ich auch nicht!“, sagte Karin und wollte ihn sehen. „Hast du die Pfeife zum Rauchen?“

Ich holte sie aus meinem Schulranzen zusammen mit dem Winnetou-Band. Ich schlug die Seite auf, wo sie Blutsbrüder wurden. Auf die sollte sie eine Hand legen und mit der anderen die Pfeife halten. „Jetzt die Augen schließen und fest an Karl denken!“

„Aber wir wollten doch rauchen!“ Sie schüttelte den Kopf, dass die Zöpfe flogen. „Dazu braucht man Tabak.“

Ich musste zugeben, dass ich keinen hatte. Das wenige war verraucht und ich konnte keinen Nachschub kriegen, sagte ich. Aber es würde auch ohne gehen. Sie sollte nur fest an ihn denken.

Sie versuchte es und zuckte die Achseln. Sie sah ihn nicht. Das nächste Mal würde sie etwas mitbringen. Ihr Papi rauchte Pfeife. Dem stibitzte sie etwas, ohne dass er es merkte.

Ihre Stimme klang nicht begeistert. Es war klar, dass sie sich mehr vorgestellt hatte. Sie konnte sich an Karl erinnern, hatte ihn auch vor Augen, wenn sie an ihn dachte, aber sie wollte mit ihm reden. Er sollte ihr sagen, dass er im Himmel war.

Ich glaubte nicht, dass er es sagen würde.

Sie wandte sich zu mir. Ihre Augen liefen auseinander. Auf einen Schlag sah sie anders aus, nicht mehr niedlich und kindlich, sondern voll von Wut, die ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog. „Du denkst, ich habe keine Ahnung! Ich bin ein kleines, dummes Mädchen! Aber ich kenne Karl viel besser als du. Ich bin seine Zwillingsschwester. Vergiss das nicht!“ Sie ballte die Fäuste und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Als ob sie auf mich losgehen wollte.

Ich musste sie beruhigen. Natürlich kannte sie Karl viel besser. Deshalb war ich doch bei ihr, um mehr über ihn zu hören. Wenn ich Karl sah, sagte er etwas zu mir, aber nie etwas über sich selbst.

Sie sah mich nicht an, nahm die Pfeife in die Hand und legte die andere auf das Buch. Da entdeckte sie den Zettel, den ich hineingelegt hatte, um die Stelle zu finden, wo Winnetou und Old Shatterhand Blutsbrüder geworden waren. Sie las die Seite, ihr Gesicht hellte sich auf. Dann sprach sie feierlich: „Dein Gedanke ist mein Gedanke und mein Gedanke ist dein Gedanke!“ Sie klappte das Buch zu und lachte. Jetzt wusste sie, warum sie mit Karl nicht sprechen konnte. „Ich muss es auch mit Blut machen“, wandte sie sich an mich. „Mit Karl geht es nicht mehr, aber du bist für ihn da, darum machen wir es auch wie Winnetou und Old Shatterhand. Jetzt sofort!“

Ich schüttelte den Kopf. „Das geht nicht zwischen Jungen und Mädchen! Das können nur Männer machen.“

„Du und Karl, ihr wollt Männer sein?!“, rief sie höhnisch.

„Jungen können das auch, aber nicht Mädchen!“

Sie schien wieder wütend zu werden, aber dann sagte sie ernst: „Es geht nicht um Junge und Mädchen, sondern um Karl!“

Ich schaute sie überrascht an.

„Wir wollen doch mit Karl sprechen. Das geht bestimmt besser, wenn wir unser Blut trinken. Dann gehören wir alle drei zusammen. Dein Gedanke ist mein Gedanke und mein Gedanke ist dein Gedanke!“

Ich hätte nie gedacht, dass ich auch Karins Blutsbruder werden würde, aber jetzt nickte ich. Weil ich Karl deutlich vor mir sah, der es wollte.

Sie kramte in ihrem Ranzen, zog einen Zirkel aus dem Kasten. „Pass auf!“ Sie stach mit der Zirkelspitze in ihre Fingerkuppe, bis ein Tröpfchen Blut herausquoll, das ich ablecken musste. Dann stach sie in meinen Finger und leckte mein Blut ab. Darauf sagte sie sehr zufrieden, dass wir durch unser Blut mit Karl verbunden waren. „Jetzt gehören wir zusammen und kennen unsere Gedanken.“ Sie fand das wunderbar. Dann wurde sie ernst. Sie kniete sich vor Karls Grab nieder und legte die Hände über die Augen. So verharrte sie regungslos für einige Minuten. Als sie aufstand, hatte sich ihr Gesicht entspannt und sie blickte mich ruhig an. Sie hatte ihn gesehen und er hatte auf mich gezeigt. Ich war jetzt an seine Stelle getreten. Ob ich das gut fand?

Ich sah sie an und sagte, dass ich meine Schwester Hanna im Osten verloren hatte. „Jetzt bist du für sie gekommen. Karl wusste, dass ich keine Schwester mehr hatte. Ich glaube, er wollte, dass ich eine neue bekam.“

Sie nickte ernst. „Er wollte auch, dass ich einen neuen Bruder bekam.“

Dann hielt sie mir ihre Hand hin, ich sollte sie anfassen. Verwundert nahm ich sie. „Was denkst du jetzt?“ Unsere Hände wurden warm. Sie lächelte und sah mir geradewegs in die Augen. Ich merkte, dass mir das Blut ins Gesicht schoss, weil ich fühlte, dass sie mich mochte.

„Du weißt, was ich denke?“

Ich nickte.

„So einfach ist es.“ Sie lächelte immer noch. „Wir brauchen unsere Gedanken nicht zu sagen, wir wissen sie.“

Bei Hanna war es auch so gewesen. Ein Blick genügte, und sie wusste, was ich dachte. Wir hatten einmal mit den polnischen Kindern im Dorf Himmel und Hölle gespielt. Hanna konnte schon ganz gut polnisch, ich kaum. Aber die Zahlen wusste ich und für jedes Feld, auf das ich hüpfte, sollte ich sie nennen: jeden, dwa, tschi, tschtere, pjengsch. Die Kinder lachten sich halbtot, als sie mich hörten, und riefen mir meine Zahlen nach, denn sie wollten, dass ich einen Fehler machte und raus musste. Hanna stand an der Seite und blickte mich mit ihren dunklen Augen an. Sie wusste, dass ich Angst hatte, und sagte nur: „Du kannst es!“ Da wurde ich ruhig und sprang richtig.

Karin sah mich an. „Ich wette, du denkst an deine Schwester.“

Ich lachte überrascht. „Du weißt wirklich meine Gedanken!“

„Einfach! Ich denke ja auch an Karl.“ Und dann fragte sie nach Hannas Alter. Als sie hörte, dass Hanna drei Jahre älter gewesen war als ich, zog sie die Stirn in Falten. „Sie wusste bestimmt alles besser und wollte herumkommandieren.“

Ich schüttelte den Kopf. „Jeden, dwa, tschi, tschtere, pjengsch! Sie half mir immer, wenn ich nicht weiterwusste.“ Dann erklärte ich, dass es die Zahlen eins bis fünf auf polnisch waren und wie Hanna mich richtig über Himmel und Hölle geführt hatte.

Die Zahlen musste ich wiederholen. „Jeden, dwa, tschi, tschtere, pjengsch! Hanna war ein guter Mensch!“, reimte sie und klatschte in die Hände. So wollte sie auch sein. Mir immer helfen, wenn ich nicht weiterwusste.

Karl hatte mir auch gesagt, dass Karin mir helfen würde, wenn ich nicht weiterwusste.

„Karl!“, sagte sie und erriet wieder, dass ich an ihn gedacht hatte, „der war ja eine halbe Stunde älter als ich, aber er glaubte, er wäre der große Bruder, der auf die kleine Schwester aufpassen müsste. Das wollte ich nicht und das will ich nicht, hörst du? Du musst mir versprechen, dass du mich nie wie eine kleine Schwester behandelst, auf die man aufpassen muss.“

Hatte Karl nicht gewollt, dass ich auf sie aufpasste? Sie richtete ihren Silberblick auf mich, und ich konnte nicht Nein sagen. Sie konnte sehr niedlich aussehen, aber ich merkte doch, dass ich auch auf mich aufpassen musste. Sonst würde sie mich um den Finger wickeln. „Aber du musst mir versprechen, mich nie wie einen kleinen Bruder zu behandeln!“, sagte ich.

Ihre Augen wurden groß und rund und hüpften nicht mehr. „Du bist doch viel größer als ich!“

„Das allein zählt nicht. Und du kannst ja noch größer werden.“

„Gut, wenn ich größer bin, verspreche ich’s dir.“

Ich wollte protestieren, da sagte sie schnell, dass sie das nächste Mal Tabak mitbringen würde. „Dann rauchen wir zusammen und sehen Karl. Aber morgen geht es nicht, da habe ich Ballett, am nächsten Tag Chor und Flöten, also überübermorgen!“

Als wir in der Straßenbahn zurückfuhren, musste ich ihr noch etwas versprechen. „Keiner darf wissen, dass wir unser Blut getrunken haben, auch die Eltern nicht. Alles, was wir machen, ist geheim, nur wir wissen es.“ Sie lächelte triumphierend. „Ich weiß genau, dass du auch so denkst.“ Ich sagte Ja und lachte.

Бесплатный фрагмент закончился.

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
150 стр.
ISBN:
9783844231045
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
161