promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Gehen, um zu bleiben», страница 3

Шрифт:

Die große Gefahr

Für mich war eine Zugfahrt durch den Dresdener Elbkessel und durch das obere Elbtal immer eine große Freude, wobei ich mir natürlich einen Sitzplatz auf der linken Zugseite suchte, um das Panorama des Dresdener Umlandes besser genießen zu können. So auch bei diesigem Herbstwetter wie an jenem 1. November 1982, als ich am späten Vormittag nach Aussig fahren wollte.

Hinter Pirna war ich in meinem Personenzugwaggon der Deutschen Reichsbahn völlig allein, kein Mensch teilte meine Freude an der herbstlichen Sächsischen Schweiz. Vielleicht hatten die Leute auch noch nicht aus den Betten gefunden, denn es war ein Sonntag, wie ich mich erinnere. In den Kurorten auf der anderen Elbseite, in Wehlen und Rathen, zeigte sich gegen elf Uhr ebenfalls noch keine Lebendigkeit, kein Mensch stieg an den Haltepunkten ein oder aus.

Nur in Bad Schandau stieg die Zolltruppe der DDR in Begleitung von zwei bewaffneten Grenzpolizisten zu. Gewöhnlich kontrollierten und durchleuchteten sie auf der Strecke bis Děčín die Fahrgäste. Wenn sie bis zur ersten Station in der ČSSR, Děčín, nicht fertig wurden damit, dann musste eben der Zug im Bahnhof warten, an diesem Tag ging es aber schnell, nach wenigen Minuten waren sie bei mir.

Personalausweiskontrolle und Abgleich mit einer Fahndungsliste war das Erste, dann folgte die Frage nach meinem Reisegepäck. Ich zeigte meine Zahnbürste in der Innentasche der Jacke und zuckte nur mit den Schultern, wollte ja nur einen, maximal zwei Tage in Aussig bleiben, wohin auch die Fahrkarte lautete.

Einer der Zöllner schraubte schon in meinem Zugabteil die Bilder von der Wand, um dahinter nach Conterbande zu suchen. Mein Zöllner untersuchte derweil meine Brieftasche, ließ sich das Bargeld vorzählen und verglich die Summe mit der Umtauschquittung von der Staatsbank der DDR. Hier stellte er fest, dass ich 180 Krčs (60 Mark) eingetauscht hatte, in meiner Brieftasche sich aber 300 Krčs (100 Mark) befänden.

„Bei Ihnen liegt ein Devisenvergehen vor!“, stellte er erfreut fest.

Ein Zivilist erschien und wies den zweiten Zöllner in das Nachbarabteil zum Bilderabschrauben. Ich wurde aufgefordert, den Zug zu verlassen und den Zöllnern in die Zollbaracke in Děčín zu folgen. Als ich mit den Zöllnern, den Grenzsoldaten und dem Zivilisten über den Bahnsteig zur Zollbaracke ging, fuhr mein Zug ab.

Im Verhörraum der Zollbaracke musste ich alle Einzelheiten aus meinen Hosen- und Jackentaschen auf den Tisch legen. Der Zöllner schaute sich nun jedes Teil, jeden Zettel und jedes Notizheft genau an. Das währte ca. eine halbe Stunde, keinerlei Anschuldigung wurde vorgebracht. Dann steckte der Mensch meine Gegenstände in einen Zollbeutel.

Nun wurde mir aber doch bange. Bisher hatte ich noch an eine gewöhnliche Schikane gedacht, wie sie in einem autoritäres Regime wie der DDR normal war und die Leute kaum erregte. Nun dachte ich aber, sie hätten etwas gegen mich, die Frage war nur: was? Ich hatte bisher noch nicht im Geringsten gegen ihre Gesetze verstoßen, wenn ich mal von meiner Valutadeponierung absehe, doch das hätten sie nicht an der Grenze zur ČSSR verfolgen müssen. Ich dachte nun an eine Retourkutsche für meine verbale Attacke gegen die Grenzpatrouille in Sonneberg. Vorsicht war also geboten, auf keinerlei Provokation durfte ich mit Aggressivität eingehen, denn ein Haftbefehl gegen mich hätte auch zwingend zu einer Wohnungsdurchsuchung geführt, und dann wäre auch mein Valutadepot, mit dem ich ja meine Italienreise finanzieren wollte, verloren gewesen und ich wäre als Devisenverbrecher zu einigen Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden, nach dem Einzug des gesamten Vermögens. Die Gefahr war also gewaltig, ängstigte mich mehr als das nun Folgende.

Nachdem der Zolltyp meine Utensilien in dem Beutel verstaut hatte, wurde ich in ein Nebenzimmer gebracht, wo die vergitterten Fenster nach der Stadt hin, ähnlich wie in Toilettenräumen, eingetrübt waren. Ich wurde angewiesen, mich nackt auszuziehen, was ich natürlich tat. Jedes einzelne Kleidungsstück, das ich ablegte, wurde von einem der beiden Zöllner akribisch durchsucht und abgetastet.

Als ich dann splitternackt dastand, musste ich mich bücken, und einer der uniformierten Ekeltypen schaute mir in den Anus. Dann nahm er einen groben Stielkamm und strich mir damit durch Bart und Schamhaar. Die Prozedur brachte natürlich keinerlei Erkenntnis zutage, war nur als Demütigung gedacht. Als ich mich wieder ankleiden durfte, kam ein bewaffneter Grenzsoldat in den Raum, den die beiden Zöllner verließen, sie gingen einfach weg. Noch immer gab es keinerlei Anschuldigung gegen mich, es gab auch niemanden, den ich hätte fragen können, der Grenzsoldat war dafür gewiss nicht kompetent.

Es waren ungefähr zwei Stunden in jedem traurigen Raum vergangen, als die beiden Zöllner wieder den Raum betraten und mich aufforderten, ihnen zu folgen. Wir stiegen nun zu dritt in den Zug Richtung Bad Schandau, wo wir in einem Dienstabteil Platz nahmen.

Meine Frage, was man mir vorwerfe und wo man mit mir nun hinwolle, beantwortete einer der beiden: „Das erfahren Sie in der Dienststelle der zuständigen Organe in Bad Schandau!“

Inzwischen fertigten die Zöllner das Konfiszierungsprotokoll meiner tschechischen Zahlungsmittel aus. Am Bahnhofsvorplatz in Bad Schandau stand schon einer jener „Lieferwagen“ bereit, mit denen die Sicherheitsorgane der DDR ihre Kunden transportierten. Nach wenigen Minuten Fahrt in dem verdeckten, fensterlosen Gefährt erreichten wir ein Gebäude auf der rechten Elbseite, das ich zwar schon kannte, dessen Schild „Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR“ mir bisher aber gar nicht aufgefallen war. Ich wurde in einen vergitterten Raum geführt, in dem ein Posten in der Uniform der Grenztruppen der DDR saß, ohne Stahlhelm und ohne Kalaschnikow, nur mit Dienstmütze und Pistole am Koppel. In dem Raum standen mehrere Stühle um einen Tisch, hier sollte ich Platz nehmen. Wieder geschah lange Zeit nichts, der Posten gab keinerlei Auskunft, sagte nur: „Ich darf mit Ihnen nicht sprechen!“

Nun überlegte ich, was sie in meinen Notizzetteln und -heften gefunden hätten, das mich belasten könnte. Immerhin hatte ich darin Konzepte für Reiseanträge und Listen für die Nachrüstung meiner Jolle verzeichnet und in meinem aktuellen Taschenkalender mit Kürzeln meiner privaten Vorhaben in den nächsten Wochen und Monaten viel von meiner Planung preisgegeben. Und dort stand auch das Kürzel „Valdep“, das mich für die ersten Tage nach meiner Rückkehr nach Rostock an die Neuanlegung eines Valutadepots erinnern sollte. Valdep, was könnte das sein?

„Geht Sie nichts an!“ zu sagen, war nicht möglich, das hätte zur Verhaftung und zur Wohnungsdurchsuchung geführt. Einen klaren Gedanken zu fassen, war in meiner Situation ebenfalls schwer, ich suchte krampfhaft nach einer Erklärung, wenn der Vernehmer fragte: „Was bedeutet Valdep?“

In der Stasidienststelle Bad Schandau waren zwar die Fenster ebenfalls vergittert, doch konnte man durch die Glasscheiben die auf der linken Elbseite stehenden Wälder sehen. „Du schöner deutscher Wald“ oder Karl-Hermann Roehrichts dritter Band seiner Autobiographie „Waldsommerjahre“ kamen mir in den Sinn. „Valdep“ bedeutet „Waldepos“, ich schreibe an einem Waldepos. Das Waldepos mit W und nicht mit V geschrieben wird, kann ich leicht mit Schludrigkeit erklären, das war die Lösung. Welches Problem gab es in meinen Zetteln und Heften noch? Ich war noch in Gedanken, als ein hässlicher, unangenehmer Kerl hereingeführt wurde. Erst im Raum wurden ihm die Handschellen abgenommen. Der Bursche setzte sich neben mich an den Tisch und begann sofort über die schlechte Behandlung zu räsonieren, die ihm zuteilgeworden sein sollte. Er erzählte von seinem Plan, mit seiner Freundin über die Tschechei in den Westen abhauen zu wollen, aber man hätte sie erwischt. Seine Freundin sei schon beim Vernehmer und würde gewiss nun schon von dem gefickt. Mir würde das erst passieren, wenn ich im Knast wäre, denn dort gibt’s keine Weiber, dort würden die Knastologen solche Kerle ficken wie mich.

Der Kerl war vielleicht doch ein Knastbruder, er hatte an den Unterarmen primitive Tätowierungen und eine fürchterliche Aussprache im anhaltinischen Tonfall, plapperte und plapperte. Erst als er sagte, ich solle beim Verhör besser gestehen, denn beim Gericht würde es als gut angenommen, ohne Geständnis aber werde es teuer – „beim Gericht haben die nämlich Jahre wie Mist“ sagte er noch – da war mir klar, das ist ein Provokateur.

Wenn er ein professioneller Stasimann war, dann hatte er seine Rolle vorzüglich gespielt, wahrscheinlich war er aber ein echter Knastologe, den die Stasi nur für diesen Job angeworben hatte. Gegen 19 Uhr, draußen war es schon dunkel, brachte man einen abendlichen Knastimbiss (Wurstscheiben, Gummikäse, mit Margarine beschmierte Brotscheiben und einen Klecks Fleischsalat) auf je einem Plasteteller mit Plastelöffel herein. Der Posten bekam das Gleiche wie wir beiden „Gefangenen“. Ich rührte nichts davon an. Der Knastbruder, der inzwischen hastig losspachtelte, sagte zu mir: „Iss mal, wer weiß, wann du wieder so etwas Gutes bekommst! Solche herrliche Fleischwurst und den feinen Fleischsalat gibt’s nicht in jedem Knast.“ Ich schob ihm wortlos meinen Teller hin, den er sofort mit vertilgte.

Weiterhin wortlos verbrachte ich nun dort Stunden um Stunden, der Provokateur wurde auch ruhiger, da ich ihm von Anbeginn seines Hierseins an mit keinem einzigen Wort bedachte. Plötzlich sagte er zu dem Posten: „Ich muß mal pinkeln!“ Der Posten drückte auf einen Knopf, und es kam ein Grenzsoldat herein, der den Typ hinausführte. Der kam aber nie wieder zurück.

Die Stunden gingen weiter, nach Mitternacht holte man mich zum Verhör in einen Nebenraum. Ohne eine Anschuldigung begann die Fragerei. Name, Adresse, Geburtsdatum und -ort, wohin, wie lange und warum? Der Verhörende hatte nun meine Notizzettel vor sich und fragte tatsächlich nach einzelnen Personen aus meinem Notizbuch und nach Kürzeln aus meinem Taschenkalender, unter anderem auch nach „Valdep“. Das größte Interesse allerdings bereitete der Stasi mein Antrag auf Mitgliedschaft in der Liga für Völkerfreundschaft, Sektion „Italien“, und mein Adressbuch.

Der Vernehmer machte sich immer mal handschriftliche Notizen, kurz nach drei Uhr wurde ich, ohne ein Protokoll unterzeichnet oder eine Anschuldigung gehört zu haben, aus der Stasidienststelle entlassen. In nächtlicher Finsternis ging ich, froh, aus der Stasimangel entkommen zu sein, über die Elbbrücke zurück zum Bahnhof Bad Schandau, war etwa dreiviertel vier dort angekommen. Um 4.15 Uhr fuhr der erste Arbeiterzug elbabwärts in Richtung Dresden. In dieser halben Stunde Wartezeit auf dem kalten Bahnsteig war ich noch immer hellwach, vielleicht waren sie mir noch auf den Fersen. Pünktlich fuhr der Zug aus Schmilka ein, er war schon halbvoll, die Chemiefabriken bei Pirna begannen zeitig mit ihrer Frühschicht und dort wollten die in den Elbdörfern wohnenden Arbeitermassen hin. Noch vor sechs Uhr, wo auch in Dresden der Berufsverkehr begann, war ich auf dem Hauptbahnhof eingetroffen und fuhr mit der gerammelt vollen Straßenbahnlinie 11 hinauf auf den Weißen Hirsch, wo ich wohnte.

Nun musste das dicke Bündel Westgeld schnellstens aus dem Hause und professionell wieder unter die Erde. Ich steckte also sofort, als ich in der Wohnung war, das noch immer wasserdicht verpackte Valutadepot in die Jackentasche, ging sofort wieder aus dem Haus, tat nun so, als wolle ich im Parkhotel-Restaurant frühstücken, ging aber nicht die Bautzener Landstraße entlang, sondern nahm den Weg durch die Dresdener Heide. Diffuses Tageslicht gab mir die Sicherheit, nicht verfolgt zu werden, das nahm ich dann als Gelegenheit wahr, im Wurzelwerk einer großen Buche ein professionelles Depot anzulegen. Ich grub mit dem Taschenmesser und mit der freien Hand ein mehr als ellentiefes Loch, in das ich das Valutadepot vergrub. Ich hatte es mit einem markanten Zweig gekennzeichnet, so dass ich später die Unversehrtheit des Schatzes überprüfen konnte, ohne ihn erneut ausbuddeln zu müssen.

Kurz danach fuhr ich wieder nach Rostock, erfuhr dort vom Tod Leonid Iljitsch Breshnews und von den tödlichen Rüpeleien des DDR-Zolls gegen westdeutsche Reisende, die nach der Kanzlerschaft Helmut Kohls plötzlich zunahm, aus dem Westfernsehen. Viele der Opfer waren schlicht vor Angst tot umgefallen, als man sie aus den Interzonenzügen holte. Einer wurde mit dem Kopf an einen Heizkörper in der Zollbaracke geschleudert, was ihn vom Leben zum Tode brachte. Die bundesdeutschen Politiker nahmen das ohne größere Aufregung hin, wollten die durch den Nachrüstungsbeschluss verschärften Beziehungen zwischen Osten und Westen nicht weiter anheizen. Nur Franz Josef Strauß nannte die Mörder deutlich Mörder.

Mir war noch nicht klar, wie ich das Valutareisegeld in den Westen bekommen könnte, ich wollte es aber auf alle Fälle in Rostock haben. Ende November fuhr ich also wieder nach Dresden, grub das Depot aus und brachte es mit der Eisenbahn an die Ostseeküste.

Der nächste Fehler, den ich beging, war nicht so existenziell wie in Bad Schandau, er soll nun erzählt werden.

Am nächsten Tag fuhr ich gegen Mitternacht mit dem Škoda, der noch immer das Dresdner Kennzeichen hatte, nach Warnemünde, um das Valutadepot im Stolteraner Küstenwald professionell anzulegen.

Warnemünde war in den frühen 80er Jahren im Herbst und im Winter nachts ein totes Nest. In der Parkstraße, in der Nähe des Hotels „Haus Stoltera“, war nicht ein Parkplatz besetzt. Ich stellte also kurz nach Mitternacht den Škoda dort ab, wollte mich schon auf den vier Kilometer langen Weg zum Naturschutzgebiet Stoltera machen, als mich eine Polizeistreife anhielt. Personalausweis und Fahrzeugpapiere wollten sie sehen, dann die Frage: „Was machen Sie um diese Zeit in Warnemünde?“

Ich sagte, dass ich im Kurhaus eine Kollegin abholen wolle, die dort in der „Achtern Strombar“ arbeite. Das erschien logisch, sie ließen mich laufen und gingen weiter in Richtung Kirchplatz. Nun ging ich in Richtung Kurhaus zur Standpromenade hin, wo das Kurhaus liegt; ich hatte immerhin 4.000 DM in eingewachsten Scheinen am Körper, wollte also nicht nochmal mit den Bütteln des real existierenden Sozialismus zu tun haben.

Der Weg zum Stolteraer Wald war bald geschafft. Ich kannte dort auf dem ca. drei Kilometer langen Gang an der Steilküste entlang jeden Baum, jede Wegbiegung, jedes Detail der Landschaft und war mir auch sicher, dass mich nachts gegen ein Uhr niemand beobachtete, und legte hier, wiederum perfekt, mein Valutadepot an. Endlich war, meiner Meinung nach, der wichtigste Punkt zur Finanzierung meiner Italienreise geklärt.

Der Leser, wird erstaunt sein, dass ich so viel Mühe auf mein Geldbündel legte, seine Erhaltung geradezu als existenziell betrachtete. Es ist aber so, dass Unterschichtler, von denen ich ja abstamme, bei der Erkennung von Wünschen sich immer selbst fragen müssen: „Wie will ich das bezahlen?“ Die Finanzierung ist daher die erste Frage, bevor die Hauptfrage: „Wie willst du es tun?“, angegangen werden kann.

Wie gefährlich das Grenzsystem der DDR sein kann, hatte ich nun gerade erlebt, musste sogar mit Niedertracht und Dummheit rechnen, denn sie hatten meine harmlose Rundreise mit Penelope durch das periphere Thüringen als Vorbereitung zum illegalen Grenzübertritt gewertet, wie ich erst nach der Wende aus meinen Stasiunterlagen erfahren konnte. Der Bande war es aber doch gelungen, mir durch meine eigene Dummheit Angst zu machen, und das kreidete ich ihnen schwer an. Wer mich bestiehlt, betrügt oder verprügelt, der kann mit Nachsicht rechnen, bin ja in solchen Fällen auch meist selbst schuld, wem es aber gelingt, mir Angst zu machen, was schwer genug ist, den betrachte ich als Todfeind.

Alle Furcht vor dem Misslingen meines großen Plans, der letzte „Italienreisende“ oder „Romantiker“, im Gegensatz zu den Touristen, zu werden, war nun verschwunden, die Polizeistreife in Warnemünde hatte meine Vorsicht nur noch geschärft. Aber auch mein Willen, dieses System zu überlisten, es mit meinen schwachen Mitteln zu besiegen, war jetzt unwiderruflich gefestigt.

Alle Rationalität aus meinem bisherigen Leben als quasi Kleinbürger, das Rechnen nach Kosten und Nutzen, verdrängte ich von nun ab völlig. Ich musste mal raus, um bleiben zu können in diesem wunderbaren, von moskowitischer Misswirtschaft verunstalteten Land.

2. KAPITEL: DIE VORBEREITUNG

Segelsommer

Mit dem Anfang des Jahres 1983 begann auch mein Kursus zum Erwerb des Segelscheines für die Binnengewässer und die Seewasserstraßen, deren praktischen Teil ich am Zicker See schon abgelegt hatte. Der theoretische Teil zum Erwerb des Segelscheins wurde in einem Hörsaal der Rostocker Universität abgehalten, die Teilnehmer waren alle, wie ich meine, Universitätsmitarbeiter oder hiesige Studenten, ausschließlich männlichen Geschlechts.

Ein Dozent brachte uns Kursteilnehmern die theoretischen Grundlagen des Bootsbaus, der Meteorologie, der terrestrischen Navigation und der Segelkunde bei. Das Hauptgewicht der Veranstaltung lag aber auf den Bestimmungen des Seeverkehrs und der Betonung, speziell des Lateralsystems und den Besonderheiten des Grenzsystems an den Seegrenzen der DDR.

Mit einem kecken Unterton sagte der Dozent, mit erhobenem Finger: „Und vergessen Sie nie, die Sicherungskräfte der ‚Grenzbrigade Küste‘ haben das Recht der Nacheile, können also Grenzverletzer auch noch außerhalb der Staatsgrenze der DDR in internationalen Gewässern aufbringen und ihrer verdienten Strafe zuführen!“

Der Winter war noch nicht zu Ende, da hielt ich meinen Segelschein in den Händen, er war DIN A6 (Postkartengröße) groß und auf einem wachstuchähnlichen Gewebe aufgedruckt, den ich nun ständig bei mir in der Brieftasche trug.

Über den Winter 1982/​83 war ich, nach einer 14-tägigen Schnellausbildung, als Filmvorführer im Rostocker Filmtheater „Capitol“ tätig, und dort wurde mir eine wichtige Erkenntnis für die Vorbereitung meines Vorhabens zuteil.

Die exakten Ränder des Leinwandbildes werden durch schwarze Stoffvorhänge bewirkt, welche die Leinwand umrahmen. Die äußeren Ränder des Lichtstrahls, der aus der Vorführmaschine in den Zuschauerraum auf die Leinwand fällt, werden durch dieses schwarze Tuch völlig absorbiert, das schwarze Tuch bleibt trotz Lichtstrahl schwarz. So sollten auch meine Segel wirken, wenn ich nachts über die Ostsee segeln würde.

Soweit die Tarnung der Segel gegen Scheinwerferlicht, doch wie stand’s mit dem Radar?

Radar war eine Zaubertechnik, mit der schon die Engländer während des Zweiten Weltkrieges deutsche U-Boote geortet hatten und die von der Sowjetunion und ihren Satrapen zur Aufbringung von Flüchtlingen aller Art genutzt wurde. Die Radartechnik in ihrer Wirkungsweise wurde in jenem Theoriekursus zum Erwerb des Segelscheins zwar erläutert, hauptsächlich aber in ihrer Unüberwindlichkeit angedroht. Es musste aber auch eine militärische Radartarnung geben, dachte ich mir, schaute daher in der militärtechnischen Abteilung der „Norddeutschen Buchhandlung“ in der Kröpeliner Straße in Rostock, in ein entsprechendes Lehrbuch, das für die Ausbildung der Marineoffiziere der „Volksmarine der DDR“ gedacht war und das ich sogar hätte kaufen können. In diesem Buch war tatsächlich ein ganzes Kapitel über Radartarnung vorhanden.

Mit heutigem Wissen muss ich sagen, dass dieses Lehrbuch noch veraltete Techniken unterwies. Immerhin hatte damals schon die US-Airforce ihre Steltbomber und entsprechende Überwasserschiffe, welche das Radar rein formgestalterisch zu unterlaufen suchten. Hier wurden aber Techniken aufgezeigt, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, wo man die Aufbauten der Überwasserschiffe mit genoppten Gummiplatten belegt hatte, in der Hoffnung, so das gegnerische Radarbild zu stören. Die Erläuterung für die Wirkungsweise leuchtete mir aber ein.

Ich beschaffte mir also gummierten und genoppten Fußbodenbelag von einem Meter Breite, diesen schnitt ich in sieben Streifen von 20 bis 26 Zentimeter Länge, um den Mast von oben sieben Zentimeter bis unten neun Zentimeter Durchmesser belegen und mit einem Spezial-Kunststoff-Haftkleber anbringen zu können. Natürlich musste ich jeden dieser unterschiedlichen Streifen nummerieren und für die am Mast befindlichen Beschläge und die Anbringung mit verschiedenen Ausschnitten versehen.

Es wurde eine langwierige und komplizierte Arbeit, die ich während eines Aufenthaltes bei meinen Bekannten vom Segelverein in Groß Zicker bewältigte. Natürlich wurde die Anprobe der Noppenstreifen am Mast nachts vorgenommen, jeder Zuschauer hätte ja geahnt, was hier von einem „Straftäter“ gegen die DDR geplant wurde.

Die fertiggestellten und maßgerechten Tarnstreifen verpackte ich mit mehreren Büchsen des Spezialklebers und einer Büchse Lösungsmittel, Spachteln zum Bestreichen der Streifen und des Mastes sowie vier Schraubzwingen in einem größeren Plastesack und vergrub das auf dem Hügelkamm des Großen Zicker, exakt zwischen zwei großen Findlingen, die seit der letzten Eiszeit dort lagen. In den Ecken des Rasenausstichs, den ich mit einem Campingspaten gegraben hatte und nach dem Vergraben des Plastesacks wieder einsetzte, pflanzte ich zwei Strauchgewächse aus der Umgebung der Findlinge ein, damit ich das Vergrabene leichter wiederfinden würde, wenn ich es brauchte.

Das Ganze war natürlich eine Schnapsidee, wie ich bald bemerkte, denn das exakte Anbauen dieser Tarnung nur am Mast hätte ohne Tageslicht und ohne Helfer mindestens die halbe Nacht gedauert, und in dieser Zeit sollte ich schon weit draußen sein.

Zuvörderst musste ich aber erst einmal die xy-Jolle allein beherrschen lernen; dafür benötigte ich einen ganzen Segelsommer, ohne von schwerer und fortwährender Arbeit gestört zu werden. In Thiessow im Mönchgut, vis à vis von Groß Zicker, hatte ich einen Büffetleiterjob in einem größeren FDGB-Ferienheim im Blick, wollte das aber nur im Jobsharing betreiben, damit ich immer mal einige zusammenhängende Tage für meine Segelpraxis nutzen könnte. Ich hatte wieder Monsieur Bernard als Partner im Auge, musste aber bei telefonischer Anfrage in Berlin von seiner Mutter erfahren, dass der Bursche leider einsitzt. Er war bei seinem Militariahandel mit der staatlichen Außenhandelsorganisation KoKo des Schalck-Golodkowski in Konkurrenz geraten, hatte westdeutschen Interessenten gegen DM seine Erwerbungen verkauft, und das brachte ihm zwei Jahre Knast ein. Allein wollte ich den Prachtjob in Thiessow aber nicht übernehmen, ich gönnte mir daher einen Segelsommer gänzlich ohne Arbeit. Der Sommer 1983 wurde deshalb für mich auch zu einer perfekten Schule des Segelns. Ich war in allen mir zugänglichen Segelrevieren im heutigen Vorpommern mit meiner xy-Jolle unterwegs, bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit, auch nachts, obwohl das nicht erlaubt war, aber im Großen Jasmunder Bodden nicht kontrolliert und daher auch nicht verfolgt wurde.

Natürlich bin ich auch einmal gekentert, hatte vor Barhöft bei Starkwind aus West eine Halse gewagt, musste dann die relativ große Jolle wieder aufrichten und klitschnass zur Insel Ummanz segeln, wo ich die Jolle und mich selbst wieder in einen ordentlichen Zustand bringen konnte.

Eines anderen Vormittags kam vor der Halbinsel Zudar, bei der Ausfahrt vom Strelasund in den Greifswalder Bodden, ein solch heftiger Nordwest auf, dass ich es nicht wagte, mit einer Jolle im Einhand über das große Gewässer ins anzusteuernde Groß Zicker zu segeln, ich wollte daher bei Palmer Ort mit der Jolle an Land gehen.

Ich war schon gelandet, bei sommerlichen Temperaturen nur in Takelhose und barfuß, hatte die Jolle bereits halb an den Strand gezogen und wollte nun die nass gewordenen Klamotten abstreifen, um sie an Land trocknen zu lassen. Da sah ich, wie eine steife Böe die Jolle in die See trieb. Sofort die Klamotten vom Leib und dem Plasteboot hinterhergeschwommen. Ich konnte sie aber nicht mehr erreichen, war schon selbst in Gefahr, vom Strom hinausgetrieben zu werden. Also mit Kraft zurück an Land geschwommen und die noch feuchten Klamotten auf den Leib gebracht. Glücklicherweise war damit auch meine Brieftasche noch am Mann, mit Geld und allen Dokumenten. Nun fuhr ich über Mittag und Nachmittag jenes Tages barfuß in Bussen und mit der Eisenbahn über Stralsund und Greifswald nach Ludwigsburg an der dänischen Wieck. Von hier aus suchte ich bis zur Steilküste bei Loissin die Küste nach meiner Jolle ab. Dort fand ich tatsächlich das völlig verkrautete Plasteboot am Strand, es war vom Nordwest über den Bodden getrieben worden, konnte ja durch seine seitlichen Hohlkörper nicht untergehen und hatte auch kaum Wasser in der Pflicht.

Zuerst holte ich Schlafsack und Luftmatratze aus dem Heckschapp und baumelte sie an das Luvwant zum Austrocknen, dann säuberte ich den Bootskörper, was bis in die Nacht hinein dauerte. Nach diesem anstrengenden Tag, es war nun schon fast Mitternacht, legte ich mich in meiner wiedergefundenen und noch intakten Wanderjolle zur Ruhe. Der Tag war also nicht sonderlich glücklich gewesen, aber wiederum höchst lehrreich für mich.

Im Laufe dieses Sommers wurde mir klar, dass der Weg mit einer Jolle auf die offene Ostsee hinaus und an westliche Küsten nicht nach Osten, sondern von Hiddensee aus über die Priele an den Sandbänken vor den beiden Ausfahrten Bessin-Bug oder Gellen-Bock führte. Da die dänische Insel Møn von Dornbusch aus in fünfzig Kilometer Entfernung so verlockend zu sehen war, war mein erster Gedanke natürlich, den Weg nach Norden durch den Libben zu nehmen. Es lag nahe, vor dem Bessin über die Priele des Hahnentiefs in den Libben zu schlüpfen, von wo die Ostsee nach wenigen Meilen erreicht war. Seglerisch wäre das aber höchst kompliziert geworden. Ich hätte nachts auf einen Nordnordostwind warten müssen, der dann obendrein noch während der Nacht nach rechts hätte drehen müssen, damit ich bei anbrechendem Tageslicht weiter nach Norden gelangen konnte. Das war äußerst selten, es hätte bedeutet, dass der Kern des Tiefs sich hätte in westlicher Richtung bewegen müssen – was fast unmöglich ist – oder ein Azorenhochkeil sich nach Skandinavien ausbreitet, ohne Mitteleuropa zu berühren – auch selten. Aber zuerst musste ich persönlich überprüfen, ob vor der östlichen Spitze des Neubessin, der ja schon Sperrgebiet war, auch tatsächlich ein Priel verläuft. Bei der westlichen Spitze, dem Altbessin, konnte ich den Priel beim Törn nach Kloster zumindest sehen, wenn auch nicht genau erkunden.

Ich hatte also die Jolle für einige Tage an einem Liegeplatz nahe dem Hafen von Kloster festgemacht und genoss die herrliche Landschaft und die Strände des nördlichen Teils von Hiddensee. Der nördliche Teil des „Söten Lännekens“ ist landschaftlich zweifellos der schönste, wenn auch die Strände des südlichen Teils sich noch paradiesischer ausbreiten. Der über sechzig Meter hohe Dornbusch neigt sich sanft nach Süden und beschreibt in der West-Ostrichtung eine Biege, so dass hier, nach der Gemarkung Grieben zu, eine Kuhle entsteht, die zudem in der Leeseite der sommerlichen Hauptwindrichtung liegt. Verschlungene Wege lassen den Wanderfreund gemächlich am Hang hinabschreiten, nach der langgestreckten Halbinsel Bessin oder in den Ort Grieben. Der Dornbusch, eine Moräne aus der letzten Eiszeit, ragt also mächtig aus der flachen Insel empor, ist bei klarer Sicht schon von der Mole des Stralsunder Hafens zu sehen. Der Dichter Jot Es verglich ihn später mit einer erregten Klitoris.

Für mich waren diese Schönheiten an diesem Tage erst einmal zweitrangig; ich strebte aus dem Hafen von Kloster, zum Bessiner Strand, der sich zum Libben hin, also bis zur offenen Ostsee, erstreckt.

Eines Nachts, Ende Juni 1983, um die astronomische Mitternacht herum, ging ich am Strand des Bessin zum Libben hin nach dem Neubessin, jener Südspitze, die schon Sperrgebiet war. Tatsächlich verlief an dieser Stelle ein Priel, den eine Jolle mit Halbschwert durchaus hätte passieren können.

Am nächsten Vormittag lag ich wieder, mich sonnend, am Bessiner Strand, als eine Motorradstreife der Grenztruppen nahe am Wasser mein Blickfeld passierte. Ein Soldat im Kampfanzug schob keuchend ein Motorrad durch den Sand, und ein Offizier in Sommer-Dienstuniform stapfte voraus. Sie suchten den Strand bis zu jener Südspitze ab. Mir war klar, sie hatten mich in der vergangenen Nacht, trotz Finsternis, eventuell per Infrarotgerät von ihrem Kontrollpunkt auf der Halbinsel Bug aus gesehen. Der Weg nach Norden war also nicht ideal, wenn nicht gar unmöglich.

Ich überlegte nun, ob ich nicht vielleicht doch mittels Spezialtrailer die wenigen hundert Meter Land südlich von Neuendorf zwischen Bodden und Ostsee mit der Jolle bewältigen könnte, hatte einen solchen Trailer schon einmal konstruiert. Es stand aber auch noch die Frage des Tarnsegels. Ich kaufte also in Stralsund in der HO „Spowa“ (Handelsorganisation „Sport und Wandern“) ein Großsegel für eine 420er Jolle, das etwas kleiner war als das für die xy-Jolle, setzte es für einen Probetörn, um zu sehen, ob es die xy-Jolle auch zieht. Später kaufte ich noch eine neue Kreuzbock hinzu. Diese beiden neuen Segel versuchte ich dann in der heimischen Badewanne mit dunkelblauer Textilfarbe einzufärben. Das Polyestergewebe nahm aber keine Farbe an. Die Farbe ließ sich sogar leicht mit der Duschbrause abspülen und verschwand ohne Rückstände im Ausguss. Ich benötigte also fachlichen Rat, wie man ein helles Polyestersegel deutlich dunkel einfärbt.

Während eines sommerlichen Kurzbesuches in Dresden sah ich am Hauptbahnhofsvorplatz an einer hier stehenden Baracke das Schild „Drogerie“. Ich dachte: ‚Hier holst du dir Rat, so weit von der Küste entfernt denkt kein Mensch an die Vorbereitung eines nächtlichen Grenzdurchbruchs über See.‘ Der Drogistin log ich vor, als Bandleader eine helle Polyesterplane dunkel einfärben zu wollen, um die goldenen Sterne, die später aufgenäht werden sollten, besser als Überdachung zur Geltung zu bringen, nun nehme das Polyestergewebe aber das Färbemittel nicht an. Die ahnungslose Verkäuferin gab mir den fachlichen Rat, das Färbebad mit reichlich Essigessenz aufzufüllen.

1 475,74 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
274 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783954623822
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают