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Vergessenes Bayern

Die von Ingvild Richardsen und Waldemar Fromm im Münchner Volk Verlag herausgegebene Buchreihe Vergessenes Bayern möchte »wenig bekannte oder gänzlich unbekannte Seiten der Kulturgeschichte Bayerns« zeigen, weshalb sie von vornherein ein weites Herz haben muss: »Interessante Persönlichkeiten, einmalige Ereignisse und faszinierende Entwicklungen haben darin ebenso ihren Platz wie vergessene Texte oder Chroniken, einstige Bräuche oder alte Rezepte und Esstraditionen … Das Themenspektrum umfasst vergessene Künstlerinnen und Künstler, Schriftsteller, Poeten, Satiriker, Musiker, Maler und Architekten. Erfinder haben ebenso ihren Auftritt wie Juristen, Herrscher und Politiker, Auswanderer, die Bayern in die Welt hinausgetragen haben, Freigeister und Universaltalente.« Wow! Eine beeindruckende Ansage!

Vor zwei Jahren, 2017, erschien der erste Band – Ingvild Richardsen wandelte Auf den Spuren der vergessenen Künstlerinnen von Frauenchiemsee (Untertitel) und legte ein umfangreiches, mit eindrucksvollen Fotos attraktiv ausgestattetes Buch mit dem Titel Die Fraueninsel vor. Dass es Dichter und Maler seit Anfang des 19. Jahrhunderts auf die kleine Insel mit ihrer uralten Geschichte zog, ist bekannt – doch dass gleich mehrere bis heute interessante Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen zur dortigen Künstlerkolonie gehörten, stand nie im Vordergrund und ist inzwischen fast vergessen. Warum das so ist und weshalb das nicht so bleiben sollte, erläutert die Autorin in ihrer konzisen Einleitung – und noch einmal im Epilog. Dazwischen geht es um Leben und Werk von Emma Haushofer-Merk (1854–1925), Carry Brachvogel (1864–1942), Marie Haushofer (1871–1940) und Eva Gräfin von Baudissin (1868–1943). Ingvild Richardsen führt behutsam hin zu den von ihr mit Bedacht ausgewählten Novellen, Versen und Essays, die die immer besondere Atmosphäre der Fraueninsel umspielen und neue Blicke auf vier für ihre Zeit ungewöhnlich moderne, also auch politisch engagierte Künstlerinnen ermöglichen. Und sie so dem Vergessen entreißen. Dass sie, wie Ingvild Richardsen nicht zum ersten Mal betont, als Autorinnen »ersten Ranges« angesehen werden müssten, wird man allerdings nicht unbedingt unterschreiben wollen.

Der zweite Band gilt einer Frau, die mit Sicherheit nicht vergessen ist – ihre Bezeichnung »Wahnmoching« für das Bohème-Schwabing vor 1914 kennt jeder, und auch als Autorin und nonkonformistische Lebens- und Liebeskünstlerin ist Fanny von Reventlow keine Unbekannte. Ob sie als Schriftstellerin wirklich bedeutend ist? Als mutige Frau, energische Mutter und engagierte Zeitgenossin jedenfalls ist sie das, und wer’s nicht glaubt, der lese ihren ohne literarische Spielereien auskommenden Bericht Die Kehrseite des deutschen Wunders, der in Wirklichkeit ein authentischer, traurig düsterer, entschieden antibellizistischer Bodensee-Krimi mit glücklichem Ausgang ist. Dass dieser in der Tat vergessene Bericht, ursprünglich in französischer Sprache verfasst und mit dem Titel L’Envers du miracle allemand versehen, nach hundert Jahren in der Übersetzung von Aline Coulombeau-Ottinger auf Deutsch vorgelegt wird, ist sensationell. Reventlow schildert, wie sie ihrem »Bubi«, dem heiß geliebten, damals zwanzigjährigen Rolf, im August 1917 bei der Flucht über die schwer bewachte Bodensee-Grenze in die neutrale Schweiz geholfen und ihn so vor weiteren Fronteinsätzen bewahrt hat – eine Mutter, die den unbedingten Mut besaß, »einfach nicht mitzutun«, wie ihre Schwiegertochter einunddreißig Jahre später schreiben wird. »Es existiert nicht, dieses deutsche Vaterland, das man immer zu entdecken oder zu erfinden sucht«, heißt es einmal. Franziska von Reventlow artikuliert mehrfach ihre Verachtung von Krieg und Militär und beglaubigt ihre Haltung durch schlichtes Berichten davon, wie es, jenseits aller Politparolen, in den Jahren des Ersten Weltkriegs in München wirklich herging – ernster, rigider und ungemütlicher nämlich als vor 1914. Wohl empfinde sie eine »tiefe Verbundenheit« mit ihrem Land, auch und gerade mit den schönen Landschaften Bayerns, »aber dieses intensive Gefühl des Daheimseins unter Meinesgleichen, des Einsseins mit der eigenen Nation und allem, was ein Vaterland ausmacht, das habe ich vergebens gesucht«. Die Weltkriegsdeutschen gehen ihr vor allem auf die Nerven: »Und was hatte ich mit ihnen, mit dem Krieg, mit all dem zu tun? … Ich war eine Frau, ich war unabhängig. Ach nein, ich war es nicht mehr, ich hing wohl von diesen Uniformen ab und von dem, was sie verordnen würden.« Ja, sie hing von ihnen ab – aber eben nicht ganz, und so endet der Text mit einem Triumph: »Ich hatte dem Kaiser meinen Sohn weggenommen.« Kontrastiert wird Reventlows intensiver Bericht mit entsprechenden Passagen aus den Erinnerungen ihres Sohnes, und alles Wissenswerte drum herum wird im Vor- wie im Nachwort der Herausgeber derart liebevoll dargelegt, dass man ihnen gerne bis ins letzte Detail folgt. Auch dieser Band enthält Fotos – nicht nur den Text irgendwie illustrierende Abbildungen, sondern seltene, ausdrucksstarke und instruktive Fotografien –, und insgesamt zeigt er, was Vergessenes Bayern im allerschönsten Sinne bedeuten kann.

Der dritte, wiederum mit aussagekräftigen Fotos ausgestattete Band, der über den Hofsänger und Gastwirt Joseph Leoni, hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck. Die Geschichte dieses Musikus aus Palermo, der am Münchner Hof nur mäßig erfolgreich war und stets im Schatten seiner Frau Marianna Schmaus stand, ist auf jeden Fall der Darstellung wert. Für die an Münchner Stadtgeschichte Interessierten schon allein deshalb, weil man von einem einst unweit des Hofbräuhauses gelegenen »Leoni-Weiher« bisher recht selten gehört hat, und natürlich auch, weil die aus eher spärlichen Quellen gearbeitete Studie des Musikwissenschaftlers Christian Lehmann eine Fülle von Einblicken in das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Stadt in der Goethe-, Napoleon- und Biedermeierzeit bietet.

Mit seinem Freund, dem Staatsrat Franz von Krenner, fuhr Joseph Leoni immer mal wieder nach Assenbuch am Starnberger See, wo Krenner einen Obstgarten erworben hatte – und dieses idyllische Fischernest wird bald dafür sorgen, dass der Name »Leoni« bis heute bekannt ist. Denn 1824, nach dem Tod seiner Frau, kommt der Sänger zu Geld; im Jahr darauf heiratet er die Schuhmachertochter Rosina Oehler, kauft das Assenbucher Seegrundstück, baut dort ein »ländliches Lusthaus« und erhält das »Tafernrecht«. Das ist der Anfang einer späten Karriere – »Leonihausen«, wie der Ort bald genannt wird, entwickelt sich zu einem beliebten Ausflugslokal, das nicht nur prominente Maler wie Cornelius, Overbeck, Kaulbach oder Rottmann anzieht, sondern auch durch einen Besuch König Ludwigs I. geadelt wird. Joseph Leoni stirbt Ende 1834, Rosina führt das Wirtshaus bis 1861 weiter – da redet niemand mehr von Assenbuch, denn der Ort samt Schiffsanlegestelle heißt nun Leoni, und so heißt er bis heute. Eine Wahnsinnsgeschichte eigentlich!

Christian Lehmann breitet sie in wirklich allen Einzelheiten aus, und das macht sein Buch vor allem im ersten Teil etwas langatmig – dass er »prima erzählen« kann, wie der SZ-Rezensent behauptet, wird man nicht unbedingt unterschreiben wollen. Sicher ist, dass ein wenig Komprimieren der Lesbarkeit nicht geschadet hätte. Dennoch wird man den erhellenden Recherchen des verdienstvollen Autors seinen Respekt nicht versagen – und außerdem macht Joseph Leoni. Ein Italiener am Starnberger See dem Reihentitel alle Ehre.

Man darf gespannt sein, wie es mit Vergessenes Bayern weitergeht. So einleuchtend es ist, dass sich die Herausgeber thematisch nicht einschränken oder gar festlegen möchten – aufpassen müssen sie schon, damit sich ihre Buchreihe nicht allzu heterogen und damit auch ein wenig beliebig gestaltet. Bestimmt werden sie auch im Auge behalten, dass »Bayern« doch wesentlich größer ist als Alt- oder gar nur Oberbayern. Nach drei Bänden lässt sich noch nichts Definitives sagen – unverwechselbare Konturen, also ein »Gesicht«, hat Vergessenes Bayern noch nicht. Aber das kann sich schnell ändern.

Ingvild Richardsen: Die Fraueninsel. Auf den Spuren der vergessenen Künstlerinnen von Frauenchiemsee. München 2017: Volk Verlag. 362 S.

Kristina Kargl / Waldemar Fromm (Hrsg.): Die Kehrseite des deutschen Wunders. Franziska von Reventlow und der Erste Weltkrieg. München 2018: Volk Verlag. 174 S.

Christian Lehmann: Joseph Leoni. Ein Italiener am Starnberger See. München 2018: Volk Verlag. 240 S.

Lustig ist das alles nicht. Über Anna Croissant-Rust

Ob ich eigentlich die Anna Croissant-Rust kenne, hat mich Bernhard Setzwein einmal gefragt. Ich kannte sie nicht. Das war vor einem Vierteljahrhundert, kurz bevor sein wunderbares Buch Käuze, Ketzer, Komödianten erschien, mit elf Aufsätzen über Literaten in Bayern, unter ihnen ein Porträt dieser »bayerisch-pfälzischen Erzählerin«. In seinem prägnanten und einfühlsamen Essay – Setzwein hat ihm den Titel Naturalistin im Biedermeierhäuschen gegeben – steht schon alles drin, was man über diese 1860 in Bad Dürkheim geborene, in Amberg und München aufgewachsene, vor allem zwischen 1893 und 1914 durchaus namhafte und mit einigen Texten sogar recht erfolgreiche Schriftstellerin wissen könnte. Dass ihr äußerst vielfältiges und umfangreiches Werk – Anna Croissant-Rust wurde fast dreiundachtzig Jahre alt – heute nahezu unbekannt ist, haben diverse Wiederbelebungsversuche, zum Beispiel der von Heinz Puknus in der Verlagsanstalt Bayerland, nicht verhindern können. Ob das ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg anders werden könnte? In einem verdienstvollen Lesebuch mit exemplarischen Prosatexten bayerischer Schriftstellerinnen ist sie mit der eindrucksvollen, 1896 erstmals publizierten Erzählung Kirchweih vertreten. Nicht nur ihr düsteres Thema – Armut, Krankheit, Verzweiflung, schließlich ein totes Kind – mag nicht jedermanns Sache sein, sondern auch ihre höchst expressive Stakkatosprache: »Nach! nach! – Jetzt! – Endlich! Sie halten an, starren … Sie stößt das junge Mädchen zur Seite, stürzt auf ihn, hoch hält sie das Kind. – ›Du! – – du!‹ – – Schrill, vergurgelnd.« Das war auch um 1900 harte Kost, literarisch gewiss innovativ, für die meisten Leser aber doch zu ungewöhnlich.

Das Elend der Welt, besonders die haarsträubenden Lebensumstände von Frauen aus der Unterschicht, die oft nicht wissen, wie sie sich und ihre kleinen Kinder durchbringen sollen, hat Anna Croissant-Rust zeitlebens tief bewegt. Lustig ist das alles nicht. Das muss man aushalten als Leser von heute, denn sonst wird man den von Edda Ziegler nach dem Text der Erstausgabe von 1914 neu herausgegebenen Erzählzyklus Der Tod erst gar nicht in die Hand nehmen wollen. In diesen siebzehn Prosatexten von maximal je drei Seiten Umfang, die durch siebzehn meisterliche Zeichnungen des berühmten Willi Geiger (1878–1971) eher aufgeschlossen als nur illustriert werden, sind großartige Entdeckungen zu machen. Bilderreiche, ausdrucksstarke expressionistische Dichtung ist das, die mit den weithin bekannten Prosastücken der großen zeitgenössischen Wortkünstler spielend mithalten kann. Im Zentrum dieser tief bewegenden Prosaskizzen steht natürlich, vielfach variiert, eine alle Träume, Wünsche oder Erinnerungen der grundsätzlich sozial deklassierten Protagonisten am Ende unweigerlich bezwingende Gestalt – der Tod. Dass diese Geschichten so faszinierend sind, hat vor allem, wie die Herausgeberin ganz zu Recht betont, mit der »metaphorisch aufgeladenen Sprache einer belebten, vermenschlichten Natur« zu tun: »Der Föhn stöhnt«, »ein blasser Mond stürmt«. Oder der erste Satz von Frühlicht: »Grauweißer Schnee zergeht in den Straßen, fällt faul vom Nachthimmel und klebt sich an die Fenster der Kellerwohnung.« Klar: Wer mag sich ausgerechnet den Tod aufs Nachtkästchen legen? Wenige wahrscheinlich. Die anderen aber haben was versäumt.

Anna Croissant-Rust: Der Tod. Ein Zyklus von siebzehn Bildern mit siebzehn Zeichnungen von Willi Geiger. Hrsg. und mit einem Nachwort von Edda Ziegler. München 2014: Allitera Verlag. 91 S.

Dietlind Pedarnig / Edda Ziegler (Hg.): Bayerische Schriftstellerinnen. Ein Lesebuch. München 2013: Allitera Verlag. 235 S.

Bernhard Setzwein: Käuze, Ketzer, Komödianten. Literaten in Bayern. Pfaffenhofen an der Ilm 1990: W. Ludwig Buchverlag. 299 S.

Von wegen gute alte Zeit. Vor hundert Jahren ging Lena Christ in den Tod

Geldsorgen begleiteten ihr Leben. Irgendwann versah sie unbedeutende Ölgemälde mit Signaturen bekannter Maler und verkaufte sie zu überhöhten Preisen. Sie wurde angezeigt und verstrickte sich in ein Netz von Lügen. Lena Christ sah sich nicht mehr hinaus, wie man im Baierischen sagt. Am 30. Juni 1920 verließ sie ihre Wohnung in der Schwabinger Bauerstraße 40, winkte noch einmal den Kindern, fuhr mit der Trambahn zum Harras und ging zu Fuß den weiten Weg zum Waldfriedhof hinaus. Peter Benedix war schon da, gab ihr, wie sie das vereinbart hatten, das Fläschchen Zyankali und verabschiedete sich. Dann war sie allein. Ihr Grab findet man in Sektion 44 des Münchner Waldfriedhofs.

So schildert Günter Goepfert in seiner noch immer maßgeblichen Biografie die letzten Stunden einer Frau, die mit ihren Lausdirndlgeschichten (1913), mit zahlreichen Prosatexten wie etwa der großartigen Erzählung Die Rumplhanni (1916), mit den Romanen Mathias Bichler (1914) und Madam Bäurin (1919), vor allem aber mit ihren Erinnerungen einer Überflüssigen (1912) in die Literaturgeschichte Münchens und Bayerns eingegangen ist. Ihre Geschichten hatten zu ihrer Zeit einigen Erfolg, waren jedoch schon 1930 weitgehend vergessen und wurden erst in den 1980er-Jahren neu entdeckt. Eine schöne Werkausgabe erschien 1990, Auswahlbände und Taschenbücher gibt es mehrere.

Die harte und traurige Lebensgeschichte der Lena Christ kann noch heute erschüttern, und die immer um Lakonie und Entdramatisierung prekärer Situationen bemühten Erinnerungen bleiben weiterhin eine bedrückende Lektüre. Sie dürfen, wie Josef Hofmiller 1930 feststellte, als »Lena Christs wirklicher Lebenslauf« angesehen werden.

Die 1881 in Glonn bei Ebersberg als lediges Kind einer Handschusterstochter und eines Handlungsreisenden geborene und bei den Großeltern aufgewachsene Lena sei »mit Leib und Seele« daheim gewesen in der von harter Arbeit geprägten, lieblosen und derben, selten auch mal fröhlichen grundkatholischen Bauernwelt ihrer Zeit, betont Goepfert.

Als sie sieben Jahre alt war, holte sie die Mutter nach München. Die große Stadt, gewiss ein gewaltiger Schock für das vom Bauernleben geprägte Landei, sollte sie nicht mehr loslassen. Als die Mutter 1891 einen Sohn bekam und ihm ihre ganze Liebe zuwandte, fühlte Lena sich immer mehr als Überflüssige. Sie wurde in der Schule oft gehänselt, früh zum Mithelfen im Wirtshaus herangezogen und von ihrer herzlosen Mutter erniedrigt und immer wieder brutal misshandelt.

Mit siebzehn flüchtete die »Wirtsleni« ins Kloster Ursberg, ohne dort das erhoffte Seelenheil zu finden, mit zwanzig flüchtete sie in eine Ehe, für die ihr die Mutter am Hochzeitsmorgen wünschte, sie solle »koa glückliche Stund haben, solang’st dem Menschn g’hörst, und jede guate Stund sollst mit zehn bittere büaßn«. So ähnlich kam es dann auch.

Neunundzwanzig musste sie werden, bis sich ihr Leben entscheidend änderte. Sie wurde Diktatschreiberin bei Peter Jerusalem, der sich später Benedix nannte und ihr Ehemann wurde, für kurze Zeit jedenfalls. Er erkannte ihr ungeheures Erzähltalent und ermutigte sie zu den Erinnerungen. Lena Christ wurde Schriftstellerin. Fast neun Jahre lang ging das gut.

Wer einen literarischen Text immer noch als Sprachkunstwerk begreift, sollte sich mit den Erinnerungen nicht zu lange aufhalten. Eine glaubwürdige, überzeugende Autobiografie ist das, gewiss, ein herzzerreißender Aufschrei einer gequälten Seele und ein herausragender Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte der Prinzregentenzeit. Eine »künstlerisch reife Prosadichtung«, wie Hofmiller sagt, ist aber erst Mathias Bichler – und danach Die Rumplhanni. Wahnsinn, diese Sprache! Was für ein wunderbares, kraftvolles und melodisches Süddeutsch! Lena Christ braucht kein Kunstbaierisch wie später die Fleißer oder der Horváth. Sie hat viel Faszinierendes, Denkwürdiges und Nahegehendes zu erzählen.

Aber sie kann mehr. Lena Christ gestaltet unvergessliche Figuren, und sie strukturiert ihre Texte auf erzähltechnisch raffinierte Art und Weise. Sie ist Sprachkünstlerin, nicht nur Zeitzeugin. Das gilt auch und gerade für ihre oft geschmähten, beim Publikum sehr beliebten Prosaskizzen aus dem ersten Kriegsjahr, die heute zu Unrecht kaum mehr gelesen werden: Unsere Bayern anno 14 (1914–1916). Einakter hat sie übrigens auch geschrieben, ohne rechten Erfolg.

Sei’s drum: Wer wissen möchte, wie es vor hundert und mehr Jahren in Oberbayern zuging, kommt um Lena Christs Werke nicht herum. Ihre eigenwillige, unverblümte, manchmal auch saftige Sprache, immer hart an der Grenze zur Mundart, sollte niemanden abschrecken. Solche Texte kennenlernen zu dürfen ist ein Gewinn, den keine Krise dieser Welt zunichtemachen kann.

Lena Christ: Gesammelte Werke. Hrsg. von Walter Schmitz. Drei Bände. München 1990: Süddeutscher Verlag.

Günter Goepfert: Das Schicksal der Lena Christ. Dritte überarbeitete und ergänzte Auflage. München 1989: Süddeutscher Verlag.

Eine Liebeserklärung von gestern. Josef Ruederer – zu Recht in Thomas Schatten

Josef Ruederer, 1861 am Münchner Rindermarkt geboren und 1915 in seiner Vaterstadt gestorben, war, was hauptsächlich dem geschäftstüchtigen Vater zu verdanken war, ein für seine Zeit recht vermögender Mann. Zum Leidwesen des Vaters aber wurde er – ein Schriftsteller. Nicht nur die bayerische Literaturgeschichte kennt seinen Namen bis heute: Er gehörte zu Michael Georg Conrads »Gesellschaft für modernes Leben«, war mehr oder minder eifriger Beiträger viel gerühmter Zeitschriften wie der Jugend oder des Simplicissimus und nahm, wenn man Hans F. Nöhbauer (1984) folgen will, in seinem heute vergessenen Roman Ein Verrückter – Kampf und Ende eines Lehrers (1894) das Thema von Ludwig Thomas Andreas Vöst um zehn Jahre vorweg. Mit seiner 1896 in Berlin uraufgeführten Komödie Die Fahnenweihe hatte er großen Erfolg, acht Jahre später auch mit Die Morgenröte, und nicht zuletzt war er einer der Gründer der »Elf Scharfrichter«. Im Jahr nach seinem Tod erschien der Roman Das Erwachen, der das Residenzstadtleben zur Zeit Ludwigs I. schildert und, wie Albrecht Weber (1987) zusammenfasst, als »Ruederers beste Leistung« gelten darf. Gleichwohl – die Theater und Feuilletons wandten sich bald anderen Themen und Künstlern zu, und viel gelesen hat man den Urmünchner, den Heinz Puknus als »ersten Autor« der Moderne in Bayern bezeichnet hat, nach 1918 dann auch nicht mehr. Die fünfbändige Werkausgabe von Hans-Reinhard Müller (1987) hat daran wenig ändern können.

1907 hat Josef Ruederer München veröffentlicht, zunächst als Beitrag zu einer Stadtführer-Buchreihe. Bald galt diese Hauptstadt-Satire als eines seiner Hauptwerke. Das Schlusskapitel wurde – eine gar nicht so kleine Kanonisierung – 1981 im fünften Band der Bayerischen Bibliothek abgedruckt. Es ist verdienstvoll, dass München unlängst in die von Elisabeth Tworek herausgegebene edition monacensia aufgenommen wurde. Zwei Briefe von Leo Greiner an den Autor, Ludwig Thomas Erinnerungen an Josef Ruederer, die München-Rezension von Josef Hofmiller aus den Süddeutschen Monatsheften sowie Anmerkungen zur Edition, ausführliche Erläuterungen und ein instruktives Nachwort von Waldemar Fromm und Walter Hettche ergänzen den Text. Ein interessantes Zeitdokument in einer originellen Mischung aus Fakten und Fiktionen, auch mit selbstkritischen Erzählerreflexionen, meist grantig im Ton, nicht selten höchst polemisch – gut, dass es wieder bequem greif- und lesbar ist.

Ruederer sieht, das macht schon das erste Kapitel über den Fasching klar, die Mitte des 19. Jahrhunderts blühende und glitzernde Kunst- und Künstlerstadt München immer tiefer untergehen, und er weiß ganz sicher, dass »der Münchner« ein eher behäbiger, auf sein Sach’ achtender, nicht immer humoriger Bierdimpfl ist und keinesfalls ein weltoffener kreativer Kopf. Und dass dieser Münchner die Vergangenheit seiner Stadt, um die es im zweiten Kapitel geht, immer etwas rosiger geschildert haben möchte als sie war, und zwar von einem Einheimischen und nicht von Leuten wie dem Ritter Heinrich von Lang, dessen Memoiren Josef Ruederer zu Recht schätzt und lobt. »Ihn zerriss man gerade nicht in Stücke, aber man tat ihm, was man in Bayerns Hauptstadt jedem tut, der kritisiert und eine halbe Stunde nördlich der Donau geboren ist: man nannte ihn öffentlich einen Preußen, heimlich einen Saupreußen.« Ruederers Kritik richtet sich vor allem gegen den Verfall herkömmlicher Lebensformen und Werte. Die »große, faszinierende Zeit« Ende der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts, »wo eine Aufführung des Siegfried noch ein Ereignis war, von dem man drei Wochen vorher und drei Wochen nachher sprach«, ist 1907 längst vorbei – »heute, wo die Eintrittspreise ums dreifache teurer sind und die Aufführungen aufs dreifache schlechter«.

Der Münchner Bürger, dem Ruederers drittes Kapitel gilt, geht schon auch einmal in den Kunstverein – natürlich ohne dort ein Bild zu kaufen. Viel wichtiger aber ist es ihm, beim Salvator auf dem Nockherberg seine »Spezln« zu treffen. Und weil nicht nur die Kunstferne dieses von Carl Spitzweg wohl am treffendsten porträtierten Münchners unüberwindbar scheint, schiebt Ruederer im folgenden, merkwürdigerweise »Die Landschaft« betitelten Abschnitt eine veritable apokalyptische Vision ein: Wenn »Unglaube, frecher Übermut, Sittenlosigkeit und Gottesleugnung« überhandnehmen, wird das erschreckliche Untier, das den Walchensee umklammert hält, seinen Schweif strecken, der Kesselberg wird bersten und eine »neue Sintflut« wird über Bayerns Hauptstadt hereinbrechen. Seinen darob wahrscheinlich ungläubig den Kopf schüttelnden Lesern aber sagt der Autor: »Und wenn man das Allerunglaublichste behauptet, zum Beispiel, dass augenblicklich in Deutschland vernünftig regiert wird, dann müsst ihr ebenso daran glauben, als wenn ich den Walchensee ausbrechen lasse.«

Da hat man den selbstironischen Ruederer, den literarisch-feuilletonistischen Polemiker, der im nächsten Kapitel behauptet, ganz anders als das Berliner Theaterpublikum schlucke das Münchner wirklich alles hinunter und wiederhole nur immer wieder: »Besser wie im Schauspielhaus wird nirgends gespielt.« Was der Münchner von 1907 wohl wirklich geglaubt hat – denn Preußens Hauptstadt besucht er äußerst selten, und wenn er’s doch tut, geht er keinesfalls ins Theater: »Der Münchner weiß, dass der Berliner von Kunst nichts versteht.« Dem bürgerlich-wohlhabenden, kunstfernen und klatschsüchtigen München seiner Zeit gilt Ruederers bissige Kritik. Für die Dichtkunst hätten seine Bewohner noch nie viel übrig gehabt, schreibt Ruederer – und wenn, dann höchstens für Ludwig Thoma, den man gern lese, weil seine Schriften niemals verletzend wirkten und er doch so schön auf die Preußen schimpfen könne. Echte Kritik ist das nicht: »Vor Thoma verbeugt sich Ruederer im München-Buch, nicht ohne kleinere Seitenhiebe«, schreiben die Herausgeber in ihrem luziden Nachwort.

Nach ausführlicher Kollegenschelte – zwei, drei Ausnahmen gibt es – kommt Ruederer dann ausführlich auf die Neuesten Nachrichten zu sprechen, die Zeitung, die den »Weißwurstphilistern« allzu oft nach dem Munde redet: »Die ewige Sucht, es allen recht zu machen, die allgemeine Schmuserei, das behäbige Gwapplhubertum … Man ist ja in München, man steckt mitten drinnen im angestammten Spezltum, das sich überall breitmacht, das alles vergiftet, das alles Werdende mit seiner fetten Duzbrudersauce übergießt und jeden ehrlichen Gegensatz auflöst in einen großen, molligen Schnadahüpfl-Akkord.«

Auf der Auer Dult, wo man die Bücher eines gewissen Josef Ruederer für zehn oder fünfzehn Pfennig verhökert, lässt der Autor sein München mit einer bemerkenswert selbstironischen Geste ausklingen: »Das Buch über München ist gut, es ist zum Schieflachen. Ob er recht hat, der wackere Antiquar mit seinem ehrenden Nekrologe? Ob mein Buch wirklich gar so zum Lachen reizt? Ob es gut ist?« Richtig enden aber lässt Ruederer seine Schrift auf dem Turm des Alten Peter, mit einem liebevollen, nicht ganz ernst gemeinten, auf jeden Fall aber alles Kritische entschlossen zur Seite schiebenden Rundblick auf seine Vaterstadt: »Mag die bayrische Regierung noch so fromm werden, mag der Landtag den letzten Groschen nur noch für Heugabeln verwenden oder für Rosenkränze, mögen die Künstler selber die größten Dummheiten begehen – diese Luft können sie alle zusammen nicht umbringen. Und der Polyp im Norden mit den großen Fangarmen kann sie nicht nachmachen.«

Eine zornige, bissige, ätzende Liebeserklärung an das München der Prinzregentenzeit hat man da gelesen – wenn man denn so weit gekommen ist! Denn diese Liebeserklärung ist zuallererst eine von gestern. Sicher, den vom Autor umkreisten »Grundfehler des Münchner Lebens«, dass nämlich einfach »zu viel gelobt« wird, wie Josef Hofmiller 1907 schrieb, den gibt es womöglich auch heute noch, und man darf und muss ihn immer wieder kritisieren. Doch selbst wenn das notorische Spezltum oder die klatschinteressierte Literaturverachtung im heutigen Munich noch lebendig sind – aktuell kann man Ruederers Schrift wirklich nicht nennen, und populär wird sie auch durch diese schöne Neuausgabe nicht werden. Wie denn auch?

Heutige München-Lektüre ist vor allem Lesearbeit. Selbst wenn man Experte für die Sozial- und Kulturgeschichte Münchens ist und einem Namen wie Otto Julius Bierbaum, Frank Wedekind, Max Halbe oder sogar Ernst von Possart durchaus geläufig sind, wird man nicht alles auf Anhieb verstehen. Das Buch ist derart eng an die Zeit seiner Entstehung gebunden, dass es sage und schreibe einhundertundacht oft längere Fußnoten braucht, um dem Text einigermaßen folgen zu können. Dazu kommen die oft willkürliche, durchwegs inkonsequente »Faction«-Mischung und der unkonzentriert fahrige, alles andere als elegante Erzählstil – die legitime Empfindung Leo Greiners, »dass hier etwas gestaltet wurde«, bleibt einigermaßen rätselhaft. Für die Herausgeber ist es gerade der »hohe Grad an Authentizität«, der Ruederers Buch weiterhin lesenswert macht: »Die Widersprüche der Stadt, die Zerrissenheit des Autors und ihre Spiegelungen ineinander sind nicht geglättet.«

Das ist zwar durchaus richtig, macht den Text jedoch nicht unbedingt lesenswerter. Immer drauf auf den bierseligen Spießbürger, zwei witzige Bemerkungen hier, drei originelle Neologismen dort, dazu eine Prise Selbstreflexion – das reicht nicht wirklich aus, um mit den Großen der bayerischen Literatur mithalten zu können, mit einer Marieluise Fleißer etwa oder einem Ödön von Horváth. Dass Josef Ruederer zu keiner Zeit aus dem Windschatten Ludwig Thomas treten konnte, dürfte nach der Lektüre seines München eigentlich niemanden besonders wundern. Tut es aber offenbar doch, wie die Rückseite der Neuausgabe zeigt. Moderne Schreibe hin oder her, offene Form oder geschlossene, Kritik oder Affirmation – nein, einen Vergleich mit Thoma hält dieser Schriftsteller nicht aus. Es ist zu wünschen, dass die Neuausgabe dennoch ihre Leser findet und dass sie mehr befriedigt als nur das antiquarische Interesse und das der Germanistik. Zu erwarten ist es nicht.

Josef Ruederer: München (1907). Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche und Waldemar Fromm. Kommentiert von Walter Hettche, Waldemar Fromm und Marlies Korfsmeyer (edition monacensia). München 2012: Allitera Verlag. 180 S.

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