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Die Süßholzwurzel wurde jedoch nicht nur über die Handelszentren eingeschifft und in den Handels- und Messestädten angeboten, sondern auch in heimischen Gefilden angebaut. Wo es die Bodenbeschaffenheit und die klimatischen Bedingungen zuließen, war die Wurzel ein Bestandteil der Kräutergärten. Diese waren nach dem Vorbild der Klostergärten ausgebaut und gehörten den Apotheken oder wurden von Städten und Gemeinden angelegt. In solchen Gärten, so genannten Viridarien, zogen die Apotheker einen Teil ihrer Arzneipflanzen, die zur Ergänzung des Drogenbestandes, aber auch dem Studium dienten, selbst heran. Erst durch einen solchen Anbau wurde die Süßholzwurzel vollständig in den europäischen Arzneimittelschatz integriert.

Frühe Anzeichen für den Pflanzenanbau liefert bereits die erste christliche Weltchronik des Sextus Julianus Africanus aus Jerusalem (3. Jh. n. Chr.). Er schrieb, dass der Wein fruchtbarer werde, wenn man Süßholz dazwischen pflanze. Enthalten ist diese Empfehlung in der ›Geoponica‹, einem Sammelwerk über den Landbau, das Kaiser Konstantin VII. von Byzanz während seiner Regierungszeit (912-959) anlegen ließ. Noch zu seiner Zeit galt, dass Süßholz die Fähigkeit habe, Weinstöcke zum reichlichen Tragen zu bringen.22

Ungeachtet dieser Quelle konkurrierten bis ins 20. Jahrhundert vor allem Spanien und Italien um die Vorherrschaft, die Pflanze als erste kultiviert zu haben, obwohl in beiden Ländern Regionen mit wildwachsendem Süßholz vorhanden sind. Vor allem in Italien gilt Plinius’ Bemerkung über die sizilianische Wurzel als Beweis, das älteste süßholzkultivierende Land in Europa zu sein. Doch erst 1076 wird ein möglicher Anbau in Florenz erwähnt, der durch Steuerabgaben an ein städtisches Kloster in Form von ›rigritia‹ nachweisbar sei.23 Dies ist jedoch kein Beweis für einen Anbau in Italien. Vielmehr bedurfte der Süßholzstrauch in diesen Regionen keiner besonderen Pflege, sondern er war als Wildwuchs verbreitet. Erst am Anfang des 14. Jahrhunderts (1305-1309) beschrieb der Botaniker und Jurist Petrus de Crescentiis (1230-1321) aus Bologna in einem weit verbreiteten und viel gelesenen Buch einige Sätze über die Regeln beim Anbau. 1518 kam dieses Werk in einer deutschen Übersetzung in Straßburg heraus.24 Darin heißt es, dass die Wurzel einen leichten sandigen Boden begehre, um darin zu wachsen, und wenn sein junger Stängel in die Erde gesteckt werde, entstünden daraus andere Wurzeln.

Jedoch ist kaum anzunehmen, dass in Italien die Nutzung der Pflanze im 14. Jahrhundert schon so bedeutend entwickelt war, wie die heutige Ernte vermuten lässt. Vielmehr äußerten sich im Mittelalter die italienischen Autoren etwas verhalten über die italienische Glycyrrhiza. Der italienische Arzt und Botaniker Pietro Andrea Mattioli (1501-1577) schreibt zwar, dass es in großer Menge unter anderem in Apulien und auf dem Berg Gargano wachse und damit gehandelt würde. Doch da, »wo Süßholz einmal hin gepflanz wirdt / da kreucht es hin und wider / und kann schwerlich außgereuttet werden.« Er benennt zudem einen Wildwuchs der Pflanze in der Nähe von Montpellier, der in anderen Kompendien nicht aufgeführt wird.25

Dies alles sind jedoch keine Belege für einen sorgfältigen Anbau der Glycyrrhiza. Ein solcher lässt sich erstmals im 16. Jahrhundert in deutschen Landen finden. Frühe Hinweise liefern zum Beispiel die botanischen Abhandlungen der »Väter der Botanik«, allen voran das »Kreuterbuch« (1539) des Botanikers und Gartenbauinspektors Hieronymus Bock (1498-1554) aus Zweibrücken. In seinen Beschreibungen berücksichtigt er vor allem die Pflanzenwelt seiner engeren Heimat, des Wasgau. Daneben bezog er einige importierte Pflanzen ein, die im Wasgau kultiviert wurden, wie den Mandelbaum, die römische Kamille und das Süßholz.26 Sein Lieferant für die Süßholzpflanze könnte der Besitzer der Nürnberger Apotheke »Zum weißen Schwan«, Georg Öllinger, gewesen sein, der um 1540 einen Kräutergarten anlegte und Hieronymus Bock mit den seltenen Gewächsen aus seinem Garten versorgte.27

Im 16. Jahrhundert trat aber vor allem eine Stadt aus dem Frankenland ins Rampenlicht des Süßholzanbaus – Bamberg. Die Bamberger Gärtnerei – ein Lieferant für jeglichen Genuss – war spezialisiert auf den Anbau von Arznei- und Gewürzkräutern und den Handel mit Gemüsesamen. Das berühmteste Erzeugnis der Bamberger Gartenflur war jedoch das Süßholz.28

Der früheste Bericht über dessen Anbau stammt aus dem Jahre 1520 von Boemus Aubanus (Johannes Boemus, 1485-1536).29 Er schreibt über den Süßholzanbau als eine altgewohnte, längst bekannte Sache, was die Vermutung nahe legt, dass es schon im 15. Jahrhundert angepflanzt wurde. Denn laut Boemus sei die Ernte so reichlich, dass ganze Wagenladungen des begehrten Wurzelwerks abgefahren wurden. Tatsächlich wurden in dem nachfolgenden Jahrhundert mit dem Bamberger Süßholz nicht nur die umliegenden Apotheken, sondern auch das gesamte Frankenland und Städte wie Worms (1609), Goslar (1631) und Frankfurt a. M. (1656) beliefert. Darüber hinaus fuhren Wagen, mit dem Bamberger Süßholz bepackt, nach Böhmen, Österreich und Ungarn, und selbst in Kopenhagen wurde 1619 die Liquiritiae aus Bamberg in den Apotheken geführt, wie aus deutschen und dänischen Apothekertaxen jener Zeit ersichtlich ist.30

Wie das Süßholz jedoch nach Bamberg gelangt ist, wird ein unlösbares Rätsel bleiben. Einerseits besteht die Möglichkeit, dass Benediktinermönche der Bamberger Abtei St. Michaelsberg die Stammpflanze im 14. Jahrhundert mitbrachten und ihre Kultur in der dortigen Gegend einführten. Schließlich kommt in einer Urkunde des Klosters Michelsberg von 1390 der Name »Heinrich Lackritzen« vor. Diese Benennung könnte tatsächlich einen Gärtner bezeichnen, der Süßholz anbaute, oder einen Händler, der vom Verkauf seiner ›Lakritze‹ lebte. Andererseits kann die Wurzel durch den Handel von Venedig nach Augsburg in die Gärtnerei eingeführt worden sein. Schließlich betrieb auch die Nachbarstadt von Augsburg, Ulm, um 1562 den Süßholzanbau.31

Für die Kultivierung der Pflanze eigneten sich vor allem das milde Klima und der leichte Sandboden an den Ufern der Regnitz, jene Bodenstücke und Parzellen, auf denen der Sage nach das Kaiserpaar Kunigunde und Heinrich im 11. Jahrhundert geschritten sein soll, und dadurch an diesen Stellen den Süßholzanbau ermöglichten. Zu jener Zeit war ein Anbau der Pflanze wohl kaum bekannt, doch wird mit dieser Legende die hohe Wertschätzung angedeutet, die der Glycyrrhiza entgegengebracht wurde.

Mit ebensolcher Wertschätzung und gebührender Verwunderung erwähnen auch Ärzte und Botaniker den Bamberger Süßholzanbau in ihren Kompendien. Hieronymus Bock schreibt beispielsweise:

»Wie andere Völker sich des Zuckers rühmen / dürfen wir Deutschen uns des Süßholz nicht schämen / besonders wird der Bamberger Acker gelobt / dass er genügend Süßholz liefern kann / und ist ja solche süße Wurzel samt desselben Saftes lobenswert / und auch nützlicher / bequemer und gesünder / als der Zucker. Sollte ich je zwischen den Beiden eins entsagen müssen / wollte ich lieber den Zucker als das Süßholz entbehren / denn für den Zucker kann ich wohl Honig wählen …«32

Ebenso erwähnt ein enger Freund von Martin Luther, Phillip Melanchthon (1497-1560), das Bamberger Süßholz an einer Stelle seiner 1538 verfassten »Declamatio de encomio Franciae«. Für ihn ist die künstliche Art des Anbaus bewundernswert: »… hier streitet nämlich die Kunst mit der Natur in staunenerregendem Wetteifer.«33 Das gleichfalls im 16. Jahrhundert (1558) erschienene Schwankbüchlein »Katzspori« von Michael Lindener erzählt uns, »daß in Bamberg gute Zwiffel wachsen und das süße Holtz das wie Lebkuchen schmeckt und ein guter trunck safft darauf tut …«34

Einen weiteren Hinweis für die Bamberger Süßholzkultur liefern die Hofkammerrechnungen aus den letzten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Sie enthalten Einträge, wonach Süßholzkränze, hergestellt in einer speziellen Flechttechnik, als Ehrengeschenk an benachbarte und befreundete Fürsten offeriert wurden.35 So übersandte beispielsweise 1598 der Fürstbischof Neithard von Thüringen dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz, der ein Bewunderer des Bamberger Süßholzanbaus war, eine Wurzel »welche 42 Werkschuhe« (etwa 12 Meter) maß.

Schließlich bildete der Landvermesser Peter Zweidler das Süßholz 1602 in einer kleinen Vignette, die drei Stauden mit einem langen Wurzelgeflecht und zwei Wurzelkränzen zeigt, auf einem Stadtplan ab.


Abb. 9 Süßholzvignette auf dem Bamberger Stadtplan (1602)

Damit seien genügend Beweise erbracht, die die Vermutung untermauern, dass Bamberg ein mittelalterliches Zentrum des Süßholzanbaus war.

Parallel zu der Entwicklung in Bamberg finden sich zu dieser Zeit auch Belege für einen Süßholzanbau in einem anderen europäischen Land – in England. Hier wird der Handel mit ›griechischem‹ Süßholz von italienischen Kaufleuten zum ersten Mal in einer Haushaltsliste (1264) von Heinrich III. erwähnt.36 Der Bischof Richard de Swinfield verzeichnet in seiner Rechnungsführung aus den Jahren 1289 bis 1290 den Kauf von Süßholz als Gewürz.37 Danach führt das Testament (ca. 1303-1310) von Thomas Button, Erzbischof von Exeter, 13,5 Pfund Liquiricie auf.38 Zeitgleich erhob Eduard I. nach einer Ordonanz von 1305 in London einen Brückenzoll auf Süßholz und anderen Kräutern, um damit die Reparaturkosten der London-Bridge abzudecken.39

Dies sind frühe Hinweise für einen englischen Handel mit der Glycyrrhiza, die aus der Levante und Spanien eingeführt wurde. Den Anlass, die Wurzel auch vor Ort anzubauen, könnte eine Veränderung der englischen Trinkgewohnheiten gegeben haben. Um 1425 wurde Englands wichtigstem alkoholischem Getränk, dem mit Malz bereiteten Ale, erstmals Hopfen hinzugefügt, um es haltbarer zu machen. Hierdurch veränderte sich auch der Geschmack, und das vormals süße Bier wurde bitter. Um diese Bitterkeit auszugleichen, wurde das Ale nun mit Süßholz angereichert, wodurch sich auch der Süßholzbedarf erhöhte und ein eigener Anbau zweckmäßig wurde. Einen frühen Hinweis für den Anbau der Pflanze liefert der Botaniker Thomas Tusser (ca. 1524-1580) jedoch erst im darauffolgenden Jahrhundert in seinem Buch ›Fünfhundert Punkte für gute Landwirtschaft‹ (Five hundred points of good husbandry, 1573). Darin listet er Süßholz als eine der notwendigen Pflanzen auf, die in jedem Arzneigarten angepflanzt werden sollen.40

Wesentlich präziser legt der Chronist John Stow (ca. 1525-1605) den Beginn für den Süßholzanbau in das erste Regentschaftsjahr von Königin Elisabeth I. (1558).41 Aber William Turner (1508-1568), der Gründer der britischen Botanik, benennt als einzigen Anbauort der Glycyrrhiza die Berge in Deutschland. In England hat er die Pflanze niemals wachsen sehen.42

Das Süßholz war zu jener Zeit jedoch nicht nur für die englische Ale-Brauerei oder als Gewürz für Lebkuchen unabdingbar, sondern fand als Pharmakon eine breite Verwendung. Elisabeth I. ließ sich noch im Jahre 1563 von ihrem Botschafter aus Madrid berichten, dass der spanische König Philipp II. (1527-1598) aufgrund eines zu hohen Alkoholkonsums an Gicht litt und sein Hausarzt Dr. Vessalius ein Getränk aus Süßholz und Gerste verschrieb.43 Während sich der englische Hof um das Wohlergehen des spanischen Königs sorgte, stand für die Londoner Untertanen jedoch die Bedrohung durch die Beulenpest auf der Agenda. Eines der Krankheitssymptome dieser Seuche war ein blutiger Auswurf, begleitet von starkem Husten, der mit Kampfer und Süßholz behandelt wurde. Hierdurch, wie auch bereits während der großen Pandemie auf dem europäischen Festland, konnte sich die Glycyrrhiza vollends im englischen Arzneischatz etablieren.44

Im 17. Jahrhundert pflanzte der Londoner Apotheker und seiner Majestät königlicher Botaniker John Parkinson (1567-1650) das Süßholz in seinem Garten in Holborn, jenem Hügel mit der ehemaligen Richtstätte vor den Toren Londons. Eine weite Verbreitung fanden auch seine Rezepte, die oft von nachfolgenden Ärzten kopiert wurden: Destilliertes Süßholz mit Rosenwasser und Traganth als wohltuender Tee, Süßholz aufgekocht mit Quellwasser, Widertod (Trichomanes) und Feigen gegen Husten und Heiserkeit, und feines Pulver zum Reinigen der Augen.45 Der Arzt und Astrologe Nicholas Culpeper (1616-1654) lobte sogar den englischen Saft. Er sei besser als sein spanischer Verwandter. In alchemistischer Manier ordnete Culpeper die Pflanze dem Merkur als segenspendendem Planeten zu.46

Solche astronomischen Vorstellungen sind aus heutiger Sicht sicherlich individueller Natur und nicht auf die Allgemeinheit übertragbar, was aber unmittelbar die Frage nach den geschmacklichen Vorlieben jener Zeit aufwirft. Dies scheint sich vor allem während einer Epoche zu ändern – der Renaissance.

4 Süße Worte – Vom Raspler zum Confiseur

Wer kennt ihn nicht, den ›Süßholzraspler‹, jenen Gecken, der mit seinen schmeichlerischen Worten die Herzen betört und doch nichts anderes als Falschheit im Sinne hat? Dieses negative Image des Rasplers trug mit Sicherheit dazu bei, dass der heutige Lakritz-Konsument eher von zurückhaltender Natur ist. In Gesellschaft hütet er sich, seiner Leidenschaft zu frönen, wenn er sich der Zustimmung seiner Artgenossen nicht völlig sicher ist und keine schiefen Blicke ernten will. Doch sobald er sich unter Gleichgesinnten befindet, wird der Lakritz-Liebhaber hemmungslos, lässt alle Vorbehalte fallen und geht voll in seiner Schwärmerei auf.

Dieser Zwiespalt, dem der heutige Lakritz-Esser ausgesetzt ist, hat seine tiefgreifende Wurzel in der Geschichte. Denn er hängt unmittelbar mit den Veränderungen im Verhalten und der Weltsicht der Menschen zusammen, die seit der Renaissance unsere Einstellung gegenüber dem irdischen Dasein prägen. Ausgelöst durch die territorialen Entdeckungen und den erweiterten Fernhandel mit unbekannten Ingredienzien wie dem Süßholz, vermehrt sich zu jener Zeit nicht nur der Reichtum, sondern tragen die veränderten Lebensbedingungen auch zu einem neuen Lebensgefühl bei. Es treten bestimmte charakteristische Eigenschaften hervor, die nun den Renaissance-Menschen auszeichnen. Sie sind geprägt von seiner Sinnenfreude, seiner Hinwendung zur Natur, seiner Verwurzelung im ›Diesseits‹, seinem Individualismus, Paganismus und Amoralismus. Letztendlich dient alles, was unter seinen Händen entsteht, der Freude und dem Genuss.

Einen Eindruck von dieser Lebensfreude vermitteln die handkolorierten Abbildungen in den wenigen, erhaltenen Exemplaren des ›Tacuinum Sanitatis‹, eines Almanachs der Gesundheit aus dem 14. Jahrhundert.1 Das Tacuinum Sanitatis erteilt Ratschläge zu allen Lebensbereichen, die für ein gesundes und glückliches Leben notwendig sind. Dazu gehört, neben den Ess- und Trinkgewohnheiten, der Unterhaltung und der Kleidung auch der Beischlaf. Ihm wird ebenfalls eine therapeutische Wirkung zugeschrieben, soll er doch kalte und müde Temperamente heilen. In dieser Auflistung durfte die Süßholzwurzel keinesfalls fehlen. Der Maler Giovannino di Grassi (gest. 1398) illustrierte in der Lütticher Ausgabe (ca. 1385-1400) eine einzigartige Szenerie (s. Abb. 10). Dieses Bild zeigt einen kleinen Jungen, der bei einem Händler eine Süßholzstange ersteht. Der Händler ist offensichtlich auf den Verkauf der süßen Stangen spezialisiert, denn nichts anderes lagert in seinen Regalen. Somit ist die Darstellung auch ein Vorbild für die heutigen Lakritz-Geschäfte.

Darüber hinaus verweist der Handel mit der puren Süßholzstange auf seine gebräuchlichste Verwendung – es wurde geraspelt. Die Wurzel in den Mund geführt, mit Daumen und Zeigefinger zwischen den Zähnen gedreht und die Rinde abgeknabbert, so dringt der Raspler seiner Zeit an den inneren Kern des süßen Holzes vor. Eben jener Vorgang ist die Grundlage der heutigen Redewendung, mit der der Raspler verhöhnt, verlacht und geschmäht wird. Dessen Bild vervollständigt nicht nur der altgediente ›Schmeichler‹, sondern in seiner extremsten Form auch der ›Schleimer‹.

Einen Hinweis, dass erstmals in der Renaissance nicht nur der Verzehr von Süßholz, sondern der Raspler selbst in Vordergrund tritt, liefert uns der Diplomat und Schriftsteller Baldassare Castiglione (1478-1529). Sein ›Buch vom Höfling‹ (Il libro del Cortegiano, 1515)2 gleicht einem Verhaltenscodex des ›neuen‹ Renaissance-Menschen. In diesem ›Knigge‹ des 16. Jahrhunderts beschreibt er die äußeren und inneren Qualitäten des Hofmannes und sein gefordertes Verhalten am Hofe. Darin kritisierte er den Schmeichler, aus dem im übertragenen Sinne auch das Bild des uns bekannten Süßholzrasplers entstand.


Abb. 10 Süßholzstand der Renaissance (14. Jh.)

Um den Weg von der italienischen Hofgesellschaft zu der Redewendung nachzuvollziehen, müssen vorab noch zwei Faktoren bedacht werden. Zum einen hat sich in der Renaissance eine Zweisprachigkeit herausgebildet und die lateinische Schriftsprache wurde zunehmend von den Volkssprachen verdrängt. Zum anderen ist die literarische Ausbildung des Süßholzrasplers auf den deutschen Sprachgebrauch einzugrenzen. Sie ist nicht von dem Bedeutungswandel zu trennen, den das griechische Wort ›Glycyrrhiza‹ erfahren hat und zu der heutigen Bezeichnung ›Lakritz‹ führte. Diesem Wandel folgte im deutschen Wortschatz auch eine semantische Veränderung. Stellte die Bezeichnung ›Liquiritia‹ zunächst lediglich eine Umwandlung von Glycyrrhiza dar, mit der vor allem die getrocknete Wurzel bezeichnet wurde, übertrug sich im Mittelalter der Name ›Lakritz‹ zunehmend auf den eingedickten Saft (Succus) in all seinen Formen. Als Beschreibung für die getrocknete Wurzel taucht nun das Wort ›Süßholz‹ auf.

Zu den ersten Zeugnissen der neuen Wortschöpfung zählt eine Benennung in dem »Büchlein der Ewigen Weisheit« des Konstanzer Theologen Heinrich Suso (Seuse, 1295-1366). Dort bittet ein Diener die ›ewige Weisheit‹ um Unterweisung, wie er sich verhalten solle, um das Leiden Christi angemessen zu betrauern. Die Betrachtung seiner Qualen sei mit herzlicher Teilnahme und Mitgefühl auszuüben, »denn anders bleibt das Herz so ungerührt von Andacht, wie der Mund von unverkautem süßem Holze«3, antwortet die ›ewige Weisheit‹. Wenig später benutzt der Regensburger Arzt Konrad von Megenberg (1309-1374) in seinem ›Buch der Natur‹ (1349/50) den Ausdruck als »lakritzensaher saft, daz man süezholz haizt«.4

Nachdem die Wurzel benannt war, musste die Wortschöpfung nur noch Eingang in die literarischen Gefilde finden. Der englische Dichter Geoffrey Chaucer (ca. 1343-1400) wählte als einer der ersten Autoren in seinen ›Canterbury Tales‹ (nach 1388) öfters ›Licorys‹, um Schönheit, Lieblichkeit oder den feurig-sanften Blick seiner Helden zu kennzeichnen. Imposant ist die Passage in der Erzählung des Müllers zu lesen, in der sich ein Student aus Oxford bei einem Zimmermann einmietet und dessen Ehefrau verführt:

»Den flinken Niklaus hieß man den Scholaren;

In Liebeshändeln war er wohlerfahren

Und ein höchst schlauer und verschwiegener Gast,

doch mädchenhaft in seinem Äußern fast;

Mit süßen Kräutern war bedeckt der Flur;

Er selbst war süßer als das Süßholz nur

Und Baldrian es irgend sind.«5

Geoffrey Chaucer verbindet in seiner Sprachmetaphorik das Süßholz mit bestimmten Gefühlen, mit Sehnsüchten und Stimmungen, die dann auf Personen übertragen werden und Assoziationen von Glück, Wohlbefinden oder Sexualität hervorrufen. Im England des 16. Jahrhunderts ersetzen dann solche Süßholz-Empfindungen die ›zuckrigen‹ (sugared) oder ›honigsüßen‹ (honeyed) Töne, während die Liebesschwüre mit Süßholz zu einem ›süßen Gerede‹ (sweet-talking) verkommen.6 Selbst die geschmackliche Wandelbarkeit der Wurzel scheint entlarvt, als in Shakespeares Othello der Diener Jago über seinen Herren raunt: »Die Speise, die ihm jetzt so würzig schmeckt als Süßholz, wird ihm bald bitterer dünken als Coloquinten.«7

Wird in den Canterbury Tales noch das äußere Erscheinungsbild der Helden bei einem Vergleich mit der Glycyrrhiza einbezogen, tritt in der deutschen Literatur der leibliche Aspekt des Rasplers in den Hintergrund und seine Tätigkeit gewinnt an Bedeutung. Einer, der Süßholz raspelt, wird zum Schmeichler, der schöne Reden führt. Dies könnte einer Anweisung des 13. Jahrhunderts aus einem Zisterzienserkloster entstammen, um »dünne Stimmen geschmeidig zu machen durch Saft von Süßholz [Liquiritiae]«8, doch im 16. Jahrhundert klingt der Unterton der Falschheit mit. In diesem Sinne ist es eben eine vielbesprochene Eigenschaft des Höflings der Renaissance, denn auch bei Baldassare Castiglione hat die schmeichlerische Rede einen Beiklang der Falschheit und Ehrlosigkeit.

Zwar sei unter den Edelleuten ein Eifer entstanden, schöner zu sprechen und zu schreiben, schreibt er im ›Cortigiano‹, doch verfemt seien ihre gezierten Reden, »dass man jetzt und jetzt glaubt, sie würden ihre Seele aushauchen, und wenden desto mehr solche Mätzchen an, je höher die Person steht, mit der sie sprechen.« Baldassare Castiglione warnt davor, diesen Reden zu lauschen, denn »unserm Ohr ist seine Melodie angenehmer als der süßeste Sang oder Klang, obwohl der Wohllaut des Lobs so wie die Stimme der Sirenen zur Ursache unsers Untergangs wird, wenn wir uns nicht die Ohren vor der trügerischen Harmonie verstopfen.«9 In Kenntnis dieser Gefahr verweist er auf einen Gelehrten der Antike, der niedergeschrieben habe, wie man den wahren Freund vom Schmeichler unterscheiden könne. Dieser Weise könnte Theophrast von Eresos gewesen sein, dessen Charakterbeschreibung des ›Schmeichlers‹ vielleicht zur literarischen Vorlage dieser Personage gedient hat. Bereits bei Theophrast ist die Schmeichelei ein ehrloses Benehmen im Umgang mit anderen, das auf den Vorteil des Schmeichelnden berechnet ist.10 Der Kulturwissenschaftler Egon Friedell (1878-1938), der sich ebenfalls auf Theophrasts Charaktere bezieht, verstärkt dieses Bild noch, denn für ihn ist der Süßholzraspler ebendiesem ›Speichellecker‹ verwandt.11

In der deutschen Literatur empfiehlt erstmals der Meistersänger Hans Sachs (1494-1576) das Süßholzraspeln für die Schönrednerei:

»Pehilff dich nur mit solchen possen

Und nem nur süssholz in den mund;«12

Diese Zeilen aus einem seiner ›Pritschengesänge‹ (1549) sind einem Schützen gewidmet, der die Scheibe nie trifft und deshalb wohl ehelichen Streit zu erwarten hat. Um der Streitsucht seiner Frau aus dem Wege zu gehen, wird ihm geraten, das ›Süßholz zu raspeln‹. In einem weiteren Spiel richtet Hans Sachs diese Empfehlung jedoch an eine Frau. ›Das heiße Eisen‹ – ein Bügeleisen – soll einen Ehemann aufgrund des Argwohns seiner Frau und angestiftet von der Nachbarin, wegen Verdachts der Untreue auf die Probe stellen. Der Mann kann seine Unschuld beweisen. Er hält der Probe stand und lässt sich von dem heißen Eisen, das bei einer Lüge seine Haut verbrennen soll, nicht beirren. Doch fragt er seinerseits seine Gattin nach ihrer Tadellosigkeit, die angesichts der bedrohlichen Lage einige Fehltritte bekennen muss. Der Nachbarin rät der Mann am Schluss:

»Gevatt’rin trollt euch und schweigt still!

Ihr habt verloren hier das Spiel,

denn Euer Handel ist mistfaul,

drum nehmet Süßholz in das Maul!

Zieht nur recht sanfte Saiten auf,

sonst kommt heut’ nacht Sankt Stockmann drauf,

und Euch für Euer Laster straf’!«13

Bei Hans Sachs ist das Raspeln noch nicht geschlechtsspezifisch und soll von Mann und Frau gleichermaßen ausgeführt werden. Was er als guten Rat erteilt, wird aber zunehmend zum Charakteristikum einer bestimmten Persönlichkeit, eines im Sinne von Baldassare Castigliones schmeichlerischen Zeitgenossen. Im Laufe der Jahrhunderte verlagert sich die Assoziation des Süßholzraspelns mit Schönrednerei und Schmeichelei auf den Mann, der seiner Angebeteten den Hof macht. In dieser einfachen Form hält sich die Redewendung bis in die Gegenwart. Hinzu kommt die direkte sexuelle Komponente, die in der Bedeutung »einem Mädchen schön tun« nur anklingt. Am kräftigsten bezeugt diesen Wortgebrauch das ›Kindlebens Studentenlexikon‹ von 1781: »Raspeln wird auch scherzweise gebraucht, um die Handlung des Beyschlafes zu bezeichnen.«14 Zu jener Zeit verfestigt sich auch das negative Image des Rasplers. Er wird nun als Stutzer charakterisiert, dessen Raspeln weichlich und verächtlich ist. Der Satiriker Gottlieb Wilhelm Rabener (1714-1771) zeichnet um 1750 das Bild eines solchen Gecken: »Die Hände wusch er sich in Rosenwasser und kaute beständig Süßholz.«15

Von solchem Spott wurde auch der Philosoph der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) überhäuft. In seinem Erziehungsroman ›Emile‹ (1751) forderte er zwar in dem Abschnitt über das »Entwöhnen, Zahnen, feste Nahrung, Sprechen«, den unnützen und schädlichen Tand von Schellen und Klappern aus Silber, Gold, Korallen oder geschliffenem Kristall aus dem Kinderzimmer zu verbannen und stattdessen den Kindern »kleine Zweige mit ihren Blättern und Früchten; ein Mohnkopf, in dem man den Samen rasseln hört, eine Stange Süßholz zum Lutschen und Kauen« zu geben, um sie von Geburt an von allem Luxus fernzuhalten.16 Seine harten Worte schützten ihn aber nicht davor, selbst mit Hohn überladen zu werden, sodass Rousseau sich an diese unbefangene Passage aus dem Roman noch bitterlich erinnern sollte. Nach Fertigstellung von ›Emile‹ kehrte er nach Paris zurück, nahm dort am gesellschaftlichen Leben teil und empfing in seiner Dachwohnung in der Rue Plâtrière hochstehende Besucher wie den Herzog von Alba und den Prinzen de Ligne. Dies endete abrupt, als er in der ›Correspondance littéraire‹, einer Zeitschrift mit Berichten über die literarischen und philosophischen Entwicklungen in Frankreich, einen Artikel von seinem früheren Freund und späteren Widersacher Friedrich-Melchior Baron von Grimm (1723-1807) lesen musste: »Herr Rousseau hat mit dem armenischen Gewand auch seine Bärenhaut abgelegt, ist wieder ein galanter Süßholzraspler geworden und soupiert wie in früheren Zeiten mit der Elite der Snobs und Höflinge.«17

Nach der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen verschlechtert sich das Image des Süßholzrasplers zusehends, denn nun ist ›Härte‹ das neue Ideal von Männlichkeit. Brot und Käse statt Lebkuchen und Bärendreck kauft sich der Held in Jeremias Gotthelfs (1797-1854) Roman ›Der Bauern-Spiegel‹ für seine Bettelei.18 Süßholz raspeln bedeutet nun, »den Angenehmen, Geleckten, Schmachtenden spielen«. Es ist einer, »der mit jeder Schürze süß liebäugelt, die Nase vorstreckt und mit dem Kopfe wiegt, als ob er ›Baumkuchen‹ röche, und mit den steifen Beinen Circumflexe in den Sand scharrt«, erklärt ein unbekannter Theaterrezensent.19

Von seinen männlichen Rivalen mit Spott überladen und der Lächerlichkeit preisgegeben, hält der Süßholzraspler nun vollends Einzug in die Satire. Sebastian Brunner nennt 1848 in der »Prinzenschule zu Möpselglück« in diesem Sinne die Schullehrer bei der Wahl des Abgeordneten Richters »angenehme Schmeichler und liebliche Süßholzraspler«.20 Der Schriftsteller Max Waldau (1825-1855) beschreibt in seinem dreibändigen Roman ›Nach der Natur‹ (1850) eine seiner literarischen Figuren (Geibel) als »Süßholzraspler im Leben wie am Schreibtisch«.21 In diesem Sinne wird der Ausspruch dann auf die Schulen und Universitäten übertragen, »den gelehrten Raspelhäusern«, die nur Blüten, aber keine Früchte hervorbrächten.22 Und Johann Wolfgang Goethe schickt in einer Rezension den Autor Johann Gottlieb Schummel (1748-1813) für die lieblose Darstellung seines Protagonisten Yorik23 »ins neue Arbeitshaus …, wo alle unnützen und schwatzenden Schriftsteller morgenländische Radices raspeln, Varianten auslesen, Urkunden schaben, Tironische Noten sortieren, Register zuschneiden und andere dergleichen nützliche Handarbeiten mehr thun.«24 Posthum wird in einem Wörterbuch erklärt: »Auch das studentische ›Süßholz raspeln‹ für den ›Hof machen, schöne Worte sagen‹ will wohl verächtlich damit eine Fronarbeit andeuten«, was bedeutet, eine nutzlose geistige Tätigkeit auszuüben. Mit dem Verweis auf die Raspelhäuser werden die Süßholzraspler auch gleich in den Schatten der öffentlichen Justiz, der Gefängnisse gestellt, denn der Ausdruck bezog sich ursprünglich auf Arbeits- oder Zuchthäuser, in denen die Gefangenen zum Raspeln (= hobeln) von besonders hartem Holz gezwungen wurden.


Abb. 11 Amsterdamer Raspelhaus (1662)

Zusätzlich wird der Süßholzraspler auf der Bühne verlacht. In einer Berliner Burleske macht sich der Schneidermeister Zwiebel über seinen Freund Süßholz lustig, der sich zu Hause mit Frau Zwiebel unterhält. »Nein ist dieser Süßholz dämlich – sitzt alle Abend stundenlang bei meiner Frau und erzählt ihr von seinen afrikanischen Reisen.«25 Eine Wiener Posse zeigt den Gewürzkrämer Eustachius Süßholz gar als »affektierten Melancholiker«.26 Zum Ende des Jahrhunderts wandelt sich das Bild des Rasplers so deutlich ins Negative, dass in einem Nachruf auf Gottfried Keller (1819-1890) zu lesen ist: »Nicht ein verbitterter Süßholzraspler von heute steigt vor uns einher, sondern der lächelnde feine Mann in seinem unsterblichen Nanking sommerlich gekleidet.«27

Im 20. Jahrhundert findet sich die Redensart in der Literatur kaum, und die negative Konnotation scheint fast vergessen, wenn ein amerikanischer Schriftsteller erklärt, dass Süßholzraspeln in der Rede verwendet werde, um seine Treue zu beschwören.28 Trotzdem hält sich das negative Bild des Süßholzrasplers im allgemeinen Sprachgebrauch und endet schließlich auf dem politischen Parkett. Wird heute vom Rednerpult im Bundestag dieser Ausdruck in die Runde geworfen, kommt er zwar antiquiert daher, trifft aber den Adressaten in voller Härte. Jeder weiß, was dies bedeutet: Mit einer blumigen Sprache werden Realitäten verschleiert. In diesem Sinne titulierte auch eine angesehene Wochenzeitung das G8-Gipfeltreffen von Göteborg (2001) als »Gipfel der Süßholzraspler«.29

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