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Das nationale Kulturgut
Guy Debord

Ob ihm der modernistische Monumentalbau der Bibliothèque Nationale de France (BnF) oder auch »Bibliotheque François Mitterand«, für das ein ganzes Viertel eingestampft wurde, immerhin eine Fläche von 60000 Quadratmetern, gefallen hätte, ist unwahrscheinlich, denn Debord hatte trotz avantgardistischer Vorstellungen von einem neuen Urbanismus und trotz seiner Sympathie für das »New Babylon«, das der holländische Maler Anton Nieuwenhuys Constant entworfen hatte, immer eine melancholische Ader für das alte Paris, einer Stadt, »die damals so schön war, dass viele Leute es vorzogen, dort lieber arm zu sein als irgendwo anders reich«. Aber das BnF hat 2009 das Archiv Debords für einen mehrstelligen Millionenbetrag gekauft, nachdem auch die Yale University Interesse gezeigt hatte. Die damalige Kulturministerin Christine Albanel erklärte auf Drängen des Bibliotheksdirektors Bruno Racine den Nachlass Debords zum nationalen Kulturgut, zum »tresor national«, womit Debord, wie die FAZ spöttelte, »unter kulturellen Heimat­schutz gestellt« wurde.

Und das ist erstaunlich, denn noch niemals geschah das mit einem französischen Autor, dessen Tod erst 15 Jahre zurück lag, und noch erstaunlicher ist es, weil Debord vor nicht einmal 30 Jahren als Unruhestifter und Revolutionär galt und auch heute noch gilt, denn noch 2008 schrieb die Antiterroristische Einheit in einem Bericht über Julien Coupat, dem eine Sabotageaktion auf den SNFC vorgeworfen wurde, dass er aus »der situationistischen Schule« käme, die sich »den Kampf gegen die aktuellen Strukturen der Gesellschaft« auf die Fahnen geschrieben hätte. Von der französischen Presse wurde Debord 1984 sogar der Mittäterschaft am Mord seines Freundes und Verlegers Gerard Lebovici beschuldigt. Damals jedenfalls hat wahrscheinlich niemand daran gedacht, dass Debord einmal die Ehre widerfahren würde, vom Establishment zum französischen Nationalheiligen ernannt zu werden. Und Debord selbst hat Auszeichnungen und Preise von offizieller Seite strikt abgelehnt.

Aber in Frankreich hat man ein anderes Verhältnis zu seinen Dissidenten, da avancierte sogar der Staatsfeind Nr. 1 Jacques Mesrine zum Volkshelden, dessen Lebensgeschichte noch zu seinen Lebzeiten verfilmt werden sollte, worüber sich Godard und Belmondo dann allerdings zerstritten. Mesrines Autobiographie »L'Instinct de mort« (der deutsche Titel »Der Todestrieb« enthält eine völlig andere Konnotation) wiederum soll Debord geschrieben haben, der angeblich vor seinem Tod alle Hinweise auf seine Autorenschaft in seinem Nachlass tilgte, was aber relativ unwahrscheinlich ist, denn auch wenn Debord Mesrine zumindest vermittelt über dessen Tochter Sabrina kannte, die im Verlag Champ Libre arbeitete, in dem auch »L'Instinct de Mort« erschien, so beschäftigte sich Debord weniger mit der abenteuerlichen Karriere eines Kriminellen, als vielmehr mit Clausewitz, Hegel, Marx, Machiavelli, Gondi, Cervantes und anderen Klassikern, die auf seine Initiative in den siebziger Jahren in Frankreich neu übersetzt wurden.

Debords Ruhm begründete sich durch seine Schrift »Die Gesellschaft des Spektakels«, die 1967 erschien und in den folgenden turbulenten Jahren zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen in alle wichtigen Sprachen erlebte, ein Buch, von dem gern behauptet wurde, dass es das beste über die ein Jahr später stattfindenden Mai-68-Ereignisse gewesen sei. Jedenfalls beeinflusste dieses Buch eine ganze Generation, die von den Unruhen infiziert wurde, aber es ist keine Bewegungsliteratur, an der der Zahn der Zeit nagt und die nach wenigen Jahren auf merkwürdige Weise antiquiert wirkt, wie z.B. »Das Handbuch der Lebenskunst« von Raoul Vaneigem, der zusammen mit Debord einer der wichtigsten Protagonis­ten der Situationistischen Internationale war.

Debords Buch analysiert die Strukturen von Macht und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft und wurde laut Libération zum meist gelesenen Buch der letzten dreißig Jahre, und das, obwohl es sich nach Greil Marcus um ein »Hegelsches Traktat« handelte, aber es war auch Pop, denn »die Ideen legten dieselbe unerbittliche Dynamik an den Tag, die die Rolling Stones ein Jahr später bei ›Sympathie for the devil‹ entfesseln sollten«. Auch wenn das Buch über Marx' Verdinglichung, Lucaks Entfremdungstheorie und die Rätetheorie nicht hinauskommt, so ist das Interesse an ihm in Architekturkreisen, in der Medientheorie und in der Kunstszene nach wie vor groß, worauf in Deutschland eine wachsende Sekundärliteratur über Debord hinweist, zuletzt beim Politologen Jan-Wer­ner Müller, der Debord in seiner »Politischen Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert« ein ganzes Kapitel widmete, in dem Debord jedoch weitgehend unbegriffen blieb.

Debords Nachlass konnte 2013 (vom 27. März bis 13. Juli) in einer Ausstellung, die von einem umfangreichen Katalog begleitet wurde, unter dem Titel »Guy Debord, un art de la guerre« besichtigt werden. Die Präsentation eines Archivs ist naturgemäß etwas schriftlastig. Die Kuratoren Emmanuel Guy und Laurence Le Bras beschränkten sich jedoch nicht nur darauf, die Notizzettel und Manuskripte zu zeigen, u.a. die Vorarbeiten zur »Gesellschaft des Spektakels« und die Exzerpte von Büchern, die die Einflüsse offenlegen, sondern sie ziehen auch anderes Material heran, wie z.B. bislang unveröffentlichte Fotos von Ed van der Elsken, von dem die wenigen Bilddokumente aus der frühen Phase der Lettristischen Internationale 1956 stammen, Fotos aus dem Café Moi­neau, das damals das Hauptquartier eines Haufens ver­lore­ner Jugendlicher war, von Tagedieben, Nachtschwärmern, Trinkern und Künstlern, die sich einig waren, niemals ein Kunstwerk zu hinterlassen und die stattdessen unter Mithilfe größerer Mengen Alkohol einen Hang zu melodramatischen Auftritten hatten. Damals hätten einige von ihnen gerne den Eiffelturm in die Luft gesprengt, weil die Beleuchtung ihren Schlaf störte. Oder der Skandal in Notre Dame, als der auf religiöser Sinnsuche sich befindliche Michel Mourre den Gläubigen verkündete, Gott ist tot. Debord liebte dieses Milieu und er verklärte es in seinen Erinnerungen auf liebevolle Weise:

»Zwischen der Rue du Four und der Rue de Bucci ging unsere Jugend so unwiderbringlich verloren, als wir einige Gläser tranken und es gewiß war, dass wir niemals etwas Besseres tun würden.«

Debord jedoch wollte mehr als nur in durchzechten Nächten endlose Debatten zu führen, die folgenlos blieben. Als Linksabspaltung der von Isidor Isou angeführten Künstlergruppe der Lettristen, gründete Debord zunächst die Lettristische Internationale, die dann später mit dem »Mouvement pour un Bauhaus imaginiste« und dem »Londoner Komitee für Psychogeographie« von Ralph Rumney zur Situationistischen Internationalen fusionierte. Er gewöhnte sich Bretons Haltung an, demzufolge es Gruppenmitglieder gab, damit man sie ausschließen konn­te. Notwendig jedoch war dieses Vorgehen, um nicht tatsächlich als Künstler ohne Kunstwerk in die Geschichte einzugehen, bzw. vielmehr in ihr zu verschwinden, wie man es ursprünglich eigentlich vorhatte. Debord notiert auf Zetteln immer wieder, wer genau für oder gegen wen oder etwas gestimmt hatte, wer ein einfacher Idiot war, wer ein nützlicher, wer zuverlässig und wer unzuverlässig. Das wirft im nachhinein ein eigentümliches Licht auf ihn, aber diese Haltung muss sich jemand zulegen, der in der Nachwelt Spuren hinterlassen will und der an den Ruhm nach seinem Tod glaubt.

Die Ausstellung ist chronologisch und nach Epochen geordnet und zeigt auch einiges von Debords schmalem künstlerischen Werk, meist übermalte Collagen mit entwendeten Zitaten, die in Kooperation mit Asger Jorn ent­standen wie das berühmte »Fin de Copenhague« oder die »Mémoires«. Jorn war in der Anfangsphase der SI einer der wichtigsten Protagonisten und der Motor der kleinen Künstlergruppierung und dann auch der einzige innerhalb der SI, der nie ausgeschlossen wurde, sondern auch nach seinem Ausscheiden eine Art assoziiertes Mitglied blieb. Als einer der wenigen damals schon bekannten Künstler finanzierte Jorn über den Verkauf seiner Bilder die Zeitschrift der SI.

1962 entwickelte sich auf Betreiben Debords die SI zu einer politischen Organisation, nachdem fast alle Maler und Architekten ausgeschlossen wurden. Debord näherte sich für kurze Zeit der von Castoriadis angeführten Gruppe »Socialisme ou Barbarie« an, er diskutierte mit Henri Lefevre über das Konzept des Alltagslebens und intervenierte mit Flugblättern und öffentlichen Bekanntmachungen auf politische Ereignisse. Die berühmteste Flugschrift war das den Skandal von Straßburg auslösende Traktat »Über das Elend im Studentenmilieu«.

Aber es gibt auch spielerische und weit weniger bekannte Elemente, auf die die Ausstellung aufmerksam macht. So hatte die damalige Frau Debords Michèle Bernstein 1960 einen kleinen Roman »Tous les chevaux du roi« geschrieben, eine moderne, ironische und distanzierte Version von Laclos' »Gefährliche Liebschaften«, in der sie auf fiktionale Art versucht, die situationistische Theorie einzufangen. Es geht um eine Dreiecksbeziehung mit einem subtilen Porträt Debords als jungen Libertin. Geschrieben wurde der kleine Roman angeblich aus Geldgründen, aber auch, um mit dem Literaturbetrieb zu spielen, denn als der Roman ein Erfolg wurde, folgte Bernstein einer Einladung in eine TV-Sendung, und in diesem Gespräch, das in der Ausstellung gezeigt wurde, kann man eine sehr junge und freundlich lächelnde Bernstein sehen, die den Moderator immer wieder auflaufen lässt, indem sie seine Erwartungen an den großen Roman dezent unterläuft, und man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass dieser Auftritt akribisch mit Debord vorbereitet worden war.

In Deutschland ist Debord nur als Theoretiker und als Autor von »Die Gesellschaft des Spektakels« bekannt. Das ist schade, denn erst durch die Vielfalt seiner Aktivitäten wird die Sache interessant und eröffnet sich das ganze Panorama einer Figur, die selbst sorgfältig inszenierte Kunst ist, denn nach der Situationistischen Internationale, die er 1972 mit der Schrift »Die wahren Spaltungen in der Internationalen« auflöste, begann er auch, sich zumindest partiell von der Politszene, in der er die meisten Anhänger hatte, zu verabschieden. Er drehte 1978 mit »In girum imus nocte et consumimur igni« (ein Palindrom »Wir irren des nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verehrt«) eine Art filmisches Vermächtnis und Rückschau auf sein Leben, das damals allerdings noch nicht zu Ende war, denn 1984 wurde sein Mäzen und Verleger, dem er lange Zeit als Berater des Programms von Champ Libre zur Seite stand, in einer Tiefgarage mit mehreren Schüssen in den Hinterkopf ermordet.

Debord widerlegt die in der Presse veröffentlichten Spekulationen um die Ermordung und seine angebliche Rolle darin in einem Buch. Er entwirft mit seiner 2. Frau Alice Becker-Ho »Le Jeu de la guerre«, ein strategisches Kriegsspiel, in dem es beeinflusst von Clausewitz und Sun Tse darauf ankommt, den Gegner vollkommen zu vernichten. Er schreibt mit »Panegyrikus« eine sehr poetische Autobiographie, die von vielen als sein bestes Buch angesehen wird. Sein Werk ist gemessen an anderen Schriftstellern und Künstlern schmal, aber wie Debord einmal notierte: »Das Schreiben muss etwas Seltenes bleiben, da man lange getrunken haben muss, bis einem etwas wirklich Hervorragendes einfällt.«

Debord hat auf sein Nachleben hingearbeitet, indem er jede Beteiligung am »Spektakel«, jedes Mitmachen ablehnte. Er gab niemals ein Interview, trat nie in einer Talkshow auf, unterschrieb keine Offenen Briefe, machte keine Werbung in eigener Sache. Und diese vollkommene Verweigerung brachte ihm die Bewunderung vieler Intellektueller ein, die das genaue Gegenteil von Debord waren, wie z.B. dem intellektuellen Tausendsassa Philippe Sollers, der immer wieder große Elogen auf Debord schrieb. Debord inszenierte sich schon zu Lebzeiten als Mythos, und als er am 30. November 1994 auf Grund einer durch Alkohol hervorgerufenen Polyneuritis mit einem Schuss ins Herz seinem Leben ein Ende bereitete, hatte er vorher noch dafür gesorgt, dass ein Film über ihn, über den er die vollständige Kontrolle hatte, kurz danach im Französischen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

In Paris schießen die Gerüchte um Debord ins Kraut und jeder in diesem Milieu hat eine Geschichte über ihn parat, die Debord als »Fürst der Finsternis«, wie er einmal in einer Zeitung genannt wurde, zeigen, als Drahtzieher im Hintergrund, als Intrigant, der seine Epigonen manipulierte, als jähzornigen und mürrischen Mann, aber auch als großen Kommunikator mit einer faszinierenden Ausstrahlung, und immer wieder als großen Trinker. Debord hat dies nie verheimlicht, sondern dem Trinken ein schönes Kapitel in »Panegyrikus« gewidmet, eine Huldigung des Rausches und der Volltrunkenheit, »ein herrlicher, schrecklicher Frieden, das wahre Genießen der vergehenden Zeit«. Schwer vorzustellen, dass Debord dies alles in Deutschland mehr als Gefängnis und Exil eingebracht hätte. Den Franzosen hingegen muss man das hoch anrechnen, dass sie gleich ein nationales Kulturgut aus ihm machten.

2013

Der letzte Marxist
Robert Kurz

Robert Kurz war einer der letzten Marxisten, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, Marx ökonomische Analysen weiterzuentwickeln. Ob ihm das gelungen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander, denn Robert Kurz galt im linken Milieu, in dem Neid und Missgunst häufig eine erstaunliche Rolle spielen, für die einen als Apokalyptiker, der mit seiner Zusammen­bruchs­prognostik nur die Sehnsucht der Menschen nach Weltuntergang bediente, für die anderen als unermüdlicher Werttheoretiker und kategorialer Kritiker des Kapitalismus. Er musste sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass er seit über zwanzig Jahren das Platzen der Spekulations- und Finanzblase vorausgesagt hat, ohne dass dies zu dem ebenso gewünschten wie gefürchteten Ende des Kapitalismus beigetragen hätte. Robert Kurz hat jeden Fehdehandschuh aufgegriffen und in der Regel mit einer »gepfefferten Polemik« reagiert. Er begriff sich nicht nur als stiller Wertschöpfer der Marxschen Theorie, sondern wich keinem Handgemenge aus, wenn ihm eine Debatte strategisch und taktisch wichtig genug erschien.

In Nürnberg und Erlangen der siebziger Jahre noch in einer der zahlreichen K-Gruppen aktiv, die der jüngeren Generation wie beispielsweise mir erklärten, wie die Partei- und Organisationsfrage richtig zu beantworten sei, überwarf er sich irgendwann mit seinem Verein und spaltete sich mit einigen Gleichgesinnten ab. Den Ort der internen Diskussion verließ er in den Achtzigern, als er in dem Nürnberger Stadtblatt Plärrer eine geharnischte Polemik gegen die entpolitisierte Jugend vom Stapel ließ, die sich nur selbst bemitleidete.

Damals wurde ich, nachdem ich ihn zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatte, wieder auf ihn aufmerk­sam, und als die Wiedervereinigung ihren Lauf nahm und jeder dachte, dass der »deutsche Imperialismus« durch die Einverleibung der DDR quasi außer Kontrolle geraten und seine ökonomische Macht sich potenzieren würde, widersprach Robert Kurz und wies nach, dass die marode DDR-Volksökonomie nicht zu Machtzuwachs, sondern zur extremen Magenverstimmung für die BRD-Wirt­schaft führen würde.

Noch vor der Wiedervereinigung hatte er an seiner Studie »Der Kollaps der Modernisierung« gearbeitet, die er mir zur Veröffentlichung anbot, als ich ihn um eine Analyse der ökonomischen Wiedervereinigungsprobleme bat, die dann auch unter dem Titel »Honeckers Rache« erschien. Ich empfahl ihm »Die Andere Bibliothek«, weil diese Studie bei mir nicht die Aufmerksamkeit gefunden hätte, die sie dann durch die Herausgabe Enzensbergers fand.

Raddatz lobte Robert Kurz in der Zeit über den grünen Klee und machte Robert Kurz weit über die Kreise des linken Milieus hinaus bekannt. Sein Buch erschien u.a. in Brasilien, er wurde von dortigen Gewerkschaftskreisen zu Vortragsreisen eingeladen und er hatte eine monatliche Kolumne in einer großen Tageszeitung. Heiner Müller war ein Fan von ihm und lud Robert Kurz in die Volksbühne ein. Er wurde zum begehrten Gast auch von Unternehmern und Managern, die wahrscheinlich sein Werk missverstanden hatten und nun glaubten, von ihm ein Rezept erfahren zu können, wie man die Krise meis­tern und dem Kollaps entgehen könnte.

Robert Kurz hat diesem »Rummel« um seine Person immer misstraut, weil er wusste, dass sein »Ruhm« auch wieder verblassen würde. Solange es seine Gesundheit zuließ, arbeitete er zweimal in der Woche in der Nachtschicht beim Vertrieb des Kicker-Magazins, um finanziell unabhängig zu bleiben. Er rief zusammen mit anderen Leuten die Theorie-Zeitschrift Krisis ins Leben, scharte Anhänger auch aus dem Ausland um sich, bis die Gruppe der Entwicklungslogik einer Gruppe folgte und sich spaltete mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen, die ein Familienzwist eben hervorruft. Unverdrossen gründete Robert Kurz mit dem ihm verbliebenem Anhang die neue Theorie-Zeitschrift Exit.

Robert Kurz war ein ebenso manischer wie gewissenhafter Theorieproduzent, der aus dem Stegreif und stundenlang Vorträge halten konnte oder erklären, welche Kapitel in seinem neuen Buch noch fehlten, welche sich verändert hatten und welche neuen dazukamen. Das konnte er jahrelang tun, wie bei einem Buch, dessen Erscheinen sich um sechs Jahre verzögerte. Und er hatte einen sympathischen Hang zu einer gewissen Hybris. Karl Marx hatte »Das Kapital« geschrieben, Robert Kurz »Das Weltkapital«. Im Unterschied zu Marx hatte Kurz nur sechs Jahre dazu benötigt. Im Unterschied zu Marx befanden sich zudem seine Manuskripte in perfekten Zustand, als ob er sich auch formal von der Unordnung der Welt abgrenzen wollte.

Auch in der letzten großen Debatte innerhalb der Linken positionierte er sich. Er kritisierte die Antideutschen und deren Hang, vorbehaltlos der amerikanischen Politik zuzustimmen. Die traditionalistische Linke hasste er, und ihren Antisemitismus, wie er in der jungen Welt manchmal gepflegt wird, verachtete er. Zuletzt schrieb er eine Kolumne im Neuen Deutschland, und auch als Gutachter und Wirtschaftsexperte in der neuen Finanzkrise betätigte er sich für Konkret, mit der er sich zwischenzeitlich zerstritten hatte. Auch wenn der Zusammenbruch des Sys­tems auf sich warten lässt, trotz ständig neuer Krisenherde und ernsthafter Versprechen, dass jetzt wirklich alles den Bach runtergehen wird, Robert Kurz gingen nie die Argumente aus, wenn er darauf hinwies, dass das Ende des Systems einer logischen Entwicklung folgen würde und es nur eine Frage der Zeit sei, bis es soweit wäre. Und damit hatte er ja auch irgendwie Recht.

Am 18. Juli 2012 ist der im Dezember 1943 geborene Robert Kurz an einem Operationsfehler gestorben und mit ihm vermutlich der letzte linke Dino, der sich um eine globale Weiterentwicklung der marxschen Theorie und um ihre Rettung vor den Kommunisten bemüht hat und bei dem die marxistische Werttheorie einen so großen Stellenwert eingenommen hat.

2012

Notizen über eine verlorene Freundschaft
Roger Willemsen

Im März 1990 las ich in der Konkret einen langen Artikel über Richard von Weizsäcker von einem mir damals unbekannten Autor: Roger Willemsen. Er sezierte die Sprache Richard von Weizsäckers und stellte dabei fest, dass seine Gedanken als profund gelten, aber tatsächlich nur schwer als solche interpretiert werden können, denn der Inhalt ist oft rätselhaft, nichtssagend und aufgeblasen. Weizsäcker verbringt, wie Willemsen schrieb, »sein Leben mit der Vermehrung rhetorischen Jahresmülls«.

Ich war von dem Artikel begeistert, weil da jemand sehr präzise beschrieb, was es mit Richard von Weizsä­cker auf sich hatte, der bis in die Linke hinein seit seiner weihe- und salbungsvollen Rede 1985 zum 40. Jahrestages des Kriegsendes großes Ansehen genoss. Und weil ich mich noch gut daran erinnerte, dass Weizsäcker als Bürgermeister Berlins den Rechtsradikalen Lummer zum Innensenator ernannt hatte, um die besetzten Häuser räumen zu lassen, war ich gleich noch mehr angetan von der ebenso vehementen wie eleganten Kritik, die dem der Schaumsprache zugeneigten Weizsäcker den Stecker zog, so dass von seiner Glaubwürdigkeit, mit der er wie nie­mand sonst das »andere, das gute Deutschland« präsen­tierte, nichts blieb als fein arrangierte rhetorische Wort­hülsen.

Also setzte ich mich mit Willemsen in Verbindung und schrieb ihm, dass ich gerne ein Buch von ihm machen würde, am besten eine verlängerte Fassung seines Artikels über Weizsäcker. Stattdessen machte er mir einen Gegenvorschlag:

»Mir schwebt ein Buch vor mit dem Arbeitstitel ›Die guten Deutschen‹, darunter sollten sich versammeln etwa zehn Porträts der exponiertesten, widerlichsten und geistig-moralisch repräsentativsten deutschen Köpfe, und zwar so, dass, nähme man alle Einzelporträts zusammen, das Buch Deutschland in unterschiedlichen Perspektiven erhellte. Wohlgemerkt ein Deutschland-Porträt in polemischen Verrissen, in Substanz und Ton­lage dem Weizsäcker-Text verwandt. Gedacht hatte ich neben R.v.W. unter anderem an: Franz Alt, Johannes Gross, Luise Rinser, Kroetz, Albertz, Cohn-Bendit, Wallraff, Höhler. Vielleicht auch Alice Schwarzer oder Ede Zimmermann, jedenfalls an Leute von diesem Kaliber.«

Willemsen hatte für Radio Bremen zu den sechs erstgenannten jeweils eine Halbstundensendung gemacht, aber bei Albertz und R.v.W. hatte der Sender Angst, juristisch belangt zu werden, obwohl die Artikel auf Justiziables hin überprüft worden waren, weshalb er absagte, und auch Kiepenheuer »machte keinen Hehl daraus, [dass] ihnen das ›zu heiß‹ sei, das seien doch lauter nette Leute.« Daraufhin ließ Willemsen die Sache auf sich beruhen, und das ohne großes Bedauern, »denn, ehrlich gesagt, die Recherchen für ein solches Buch sind grauenhaft, es ist einfach Drecksarbeit (für den Weizsäcker-Text las ich allein etwa 1500 Seiten Präsidentenreden, das ist mehr als man geistig unangefochten durchsteht).«

Aber dann bekam er Post aus Berlin.

Damals lebte Willemsen in London. Er kam nach Berlin und klingelte bei mir. Später sagte er häufig, er hätte seine Zusage zu dem Buch davon abhängig gemacht, ob ich ihm im Moment des Türeöffnens sympathisch sei oder nicht. Gut, dass ich von dem Test nichts wusste, aber wir waren uns gegenseitig spontan zugetan, weshalb unter dem Titel »Kopf oder Adler. Ermittlungen gegen Deutschland« herauskamen, ein Porträt Deutschlands, in dem die ganzen »netten Leute«, die er in seiner Liste aufgenommen hatte, eine Rolle spielten, weil sie dieses Deutschland nicht unerheblich repräsentierten, ein Horrorkabinett, und keiner auf dieser Liste hätte in einem »Who's who peinlicher Personen« fehlen dürfen.

Als ich unsere Korrespondenz von damals wiederlas, fiel mir eine dreiseitige Replik Willemsens in die Hände, die er auf Broders eigentlich lobende taz-Rezension seines Buches geschrieben und die ich völlig vergessen hatte.

»Zunächst mal: habe ganz lahme Schultern davon bekommen, so oft hat er mir drauf geklopft. Auch wenns gut gemeint ist, ich habs nicht gern, und täusche mich auch nie darin, dass der Rezensent vor allem feststellen wird, dass am Ende doch er selbst der Klügere ist. Formulierungen wie: ›Faustregel, der ich hier nur zustimmen kann‹, ›kann ich ihm meinen Respekt nicht versagen‹ (...) oder ›schreiben kann er‹ verraten mir vor allem, welchen Respekt der Rezensent vor sich selber hat. Würde er Adorno auch so rezensieren? ›Schreiben kann er‹? Also ich für meinen Teil lasse mich entmündigen, sobald mir ein einziger dieser Sätze unterläuft.«

Willemsens Misstrauen war gut begründet, wenngleich in der Frage, ob Broder auch Adorno in diesem Stil rezensiert hätte, bereits eine kleine Hybris aufschien. Willemsen stellte es mir anheim, seine Überlegungen an Broder weiterzuleiten, mit dem ich gerade zusammen »Liebesgrüße aus Bagdad. Die edlen Seelen der Friedensbewegung und der Krieg am Golf« herausbrachte. Ich weiß nicht mehr, ob ich es getan habe, aber auch ohne diese Vermittlung waren sich die beiden nie grün.

An der Anthologie »Liebesgrüße aus Bagdad«, in der u.a. »Hitlers Wiedergänger« von Enzensberger enthalten war, beteiligte sich Willemsen nicht, weil er gegen den Einmarsch amerikanischer Truppen im Irak trotz völkerrechtlicher Gründe Einwände hatte, die sich für ihn auch durch die Hysterie der Friedensbewegung nicht relativier­ten. Auf der Buchvorstellung von »Kopf oder Adler« im Berliner Literaturhaus trat unser Dissens andeutungsweise zu Tage, tat unserer Freundschaft aber keinen Abbruch. Er belieferte viele der in den neunziger Jahren im Verlag erscheinenden Anthologien wie »Das Wörterbuch des Gutmenschen« mit Einträgen zum Begriff »Dialog«, »Gewaltvideos«, »Streicheleinheiten«, »Vergangenheitsbewältigung« und »Glaubwürdigkeit«, kurze, aber ebenso präzise wie elegante Analysen, die sein Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität deutlich machten, wie – nur mal so zum Beispiel – der Eintrag zur »Glaubwürdigkeit« zeigt:

»In der Forderung nach Glaubwürdigkeit wird Ehrlich­keit zum Fetisch. Zwar mag es wünschenswert sein, nicht öffentlich belogen zu werden, konstitutiv für das Wirken von Politik aber ist Ehrlichkeit keineswegs. Ihr systematischer Zusammenhang nämlich ist Kategorien wie ›Wahrheit‹ und ›Lüge‹ völlig entzogen. Diese fun­gie­ren vielmehr als Aggregatszustände ihrer Vermitt­lung und werden vor allem strategisch eingesetzt.«

Auch als regelmäßiger Beiträger für das Jahrbuchs »Wa­rum sachlich, wenns auch persönlich geht. Das Who's who peinlicher Personen« war er tätig, in dem er Rezzo Schlauch, Alice Schwarzer, Helmut Markwort, Stefan Aust und anderen die Gründe ihrer bedauernswerten Existenz aufzeigte und auf welchen schlichten Gedanken, die zu äußern sie sich nicht scheuten, ihre Prominenz bei einem Publikum beruhte, das einem schon immer jegli­chen Glauben an eine bessere Gesellschaft ausgetrieben hat. Auch wenn ich immer ein wenig drängeln musste, er lieferte. Aber das gehört zum Geschäft. Dafür bekam ich dann schöne Faxe wie das vom 18.2.94:

»Du fragst mich nach meinen guten Nachrichten für Dich. Ja, ist das nichts, dieses in geradezu metaphysischer Anhänglichkeit an Dich und Treue zu Dir dahinziselierte ›FR-Manuskript‹ [?], mit dem sich die Summe meiner publizistischen Feinde wieder einmal vergrößert? Alles, weil ich damals an Deiner Berliner Haustür nicht rechtzeitig den Schwefeldampf gerochen habe, der von Dir, wie von jedem Teufel, aufsteigt.«

Ich weiß nicht, inwieweit »Kopf oder Adler« dazu beigetragen hat, dass Willemsens Karriere als Autor nun ziemlich schnell Fahrt aufnahm. Bei Redakteuren, die früher bei seinen Texten kalte Füße bekamen, hatte er jetzt carte blanche. Der Spiegel veröffentliche Willemsens Verriss des neuesten Buches von Johannes Gross und auch das Zeit-Magazin öffnete ihm seine Seiten. Das hielt ihn nicht davon ab, sich spöttisch über seine Auftraggeber zu äußern. Wunderbar seine Sottise über die Zeit:

»Die Zeit ist ein wohlerzogenes Blatt und liebt die freie Meinungsäußerung, aber vornehmlich bei Meinungen, für deren Äußerung man keine braucht. Nur die Rechtsradikalen müssen vor ihr wirklich Angst haben. Denen werden hier nämlich derart die Leviten gelesen! Wenn die ihre Wochenration Theo Sommer hinter sich haben, dann kriegen sie vor Unrechtsbewusstsein keinen Molotow mehr hoch.«

Das war zu scharf und zu intelligent, um jemals massenkompatibel zu sein. Als seine Essays und Polemiken 1999 bei Tiamat unter dem Titel »Bild dir meine Meinung« erschienen, war er bereits fernsehbekannt, sein Buch aber profitierte nicht davon. Schon 1990 wurde er vom Bezahlfernsehkanal Premiere für eine tägliche Interview-Sendung entdeckt, obwohl er mit dem Medium vorher nie etwas zu tun hatte. Später verpflichtete ihn dann das ZDF, nachdem sich in der Medienwelt herumgesprochen hatte, was für eloquente und brillante Interviews er führte. Die waren dem ZDF dann aber doch zu eloquent und brillant, weshalb er immer wieder Ärger bekam, weil er Politikern zu sehr auf den Zahn fühlte, bis er schließlich diese Spezies nicht mehr einladen durfte. Legendär war sein Interview mit Helmut Markwort, den er mit seiner Vergangenheit als Pornofilm-Darsteller kon­frontierte und den er mit seinen Ausreden und Beschöni­gungen nicht davonkommen ließ. Willemsen wollte sich mit politischen Gegnern streiten und sie nicht bauch­pinseln. Und er hatte die Mittel dazu, denn er war um­fassend gebildet, hatte ein unglaubliches Wissen gespeichert, das er jederzeit abrufen konnte, war rhetorisch allem gewachsen und schnell und präzise im Denken.

Da ich dem Medium Fernsehen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehe, war ich von dem etwas schlichten Gedanken überzeugt »Fernsehen verdirbt den Charakter«, wofür es allerdings unzählige Beweise gibt und man muss sich nur eine beliebige Labersendung ansehen, um sich von der rasanten Gehirnerweichung zu überzeugen, die die Darsteller dort reihenweise befällt. In jedem Fall aber glaubte ich, dass Willemsen seine großartigen Fä­hig­keiten als Autor im Fernsehen vergeudete, und als er anfing, große Galashows zu moderieren, und Gerhard Schrö­ders Karriere vor und nach der Wahl wie eine Home­story dokumentierte, sich ihm »einfühlsam« näher­te, war dieser Gedanke ja auch nicht völlig abwegig, denn er begab sich in die Nähe von Leuten, die für ihn früher höchstens als Gegenstand der Polemik taugten. Er wurde durch das Fernsehen noch narzistischer und eitler als man es als Autor und TV-Moderator sowieso sein muss, was mich damals sehr befremdete, mehr als heute.

Als er mich 1998 auf der Buchmesse an meinem Stand besuchte, weil wir das geplante Buch »Bild dir meine Meinung« besprechen wollten, gingen wir ein wenig durch die Hallen. Er wurde dann sehr schnell von einer jungen Frau angesprochen, die er überschwänglich begrüßte und mit der er sich den Rest unseres Spaziergangs unterhielt. Eine alte Freundin, dachte ich, aber dann stellte sich heraus, dass Willemsen sie gar nicht kannte. Die Empathie, mit der er Menschen begegnete, war erstaunlich, gleichzeitig aber auch etwas beliebig und – diesem unangenehmen Gefühl konnte man sich nicht so richtig entziehen –auch etwas routiniert, denn wenn man vielen auf so emphatische Weise begegnet, entwickelt man eine Verhaltenstechnik, die die Empathie nur als solche erscheinen lässt. Als Gegenüber weiß man dann nie, ob die Empathie, die einem entgegengebracht wird, echt oder einfach nur eine launische Übertreibung ist, und man beginnt zu zweifeln, ob der andere sich selbst darüber im Klaren ist. Zudem weckt die ständig zur Schau getragene Begeisterung Erwartungen, die zwangsläufig enttäuscht werden, denn niemand kann sie in dem Ausmaß erfüllen, wie sie geweckt wurden.

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9783862872244
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