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Читать книгу: «Erzählungen», страница 8

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Blumentag in Nordfrankreich

Wir vom …ten Landsturmbataillon sind der x-ten Etappen-Inspektion zugeteilt und haben zurzeit als Garnison eine kleine Stadt in Nordfrankreich. Wir stehen Tag und Nacht Posten: auf den Bahndämmen, vorm Lazarett, unter den Brücken. Von abends Sechs bis morgens Zehn steht eine Wache auch vorm Bordell. Jeden Morgen um halb Zehn werden die Mädchen durch unsern Stabsarzt untersucht und kontrolliert. Es sind neun an der Zahl. Acht Französinnen und eine Deutsche. Die Deutsche ist ein kleines blondes Ding aus Hamburg. Wenn Leute von uns das Bordell besuchen, hält sie den Kopf gesenkt und sucht mit den Augen zu flüchten. Um keinen Preis der Welt würde sie sich einem Deutschen verkaufen. Wenn wir sie sehen, erröten wir. Um der schmerzlichen Situation zu entgehen, reißen wir dumme und überlaute Witze und lachen, blechern wie Grammophone. Oder einer setzt sich ans Klavier und spielt: »Die schwarzbraunen Mädchen, die hab' ich so gern.« Dann geht sie hinaus und weint. Sie ist ja blond. Die Einwohner der Stadt, Magistratssekretäre, kleine Steuerbeamte, bessere Kaufleute bevorzugen offensichtlich die Deutsche. Sie sehen sie in den Augen ihrer eigenen Landsleute erniedrigt und weiden sich an ihren Qualen. Madame ist entzückt von ihr, denn sie macht das meiste Geld. »Wo ist die deutsche Kuh?« brüllen die Steuerbeamten, und einer nach dem anderen will ihr für sein Geld einen Tritt versetzen. Ich sprach sie neulich. Sie heißt Leni. Sie will sich die Pulsadern durchschneiden. Sie erträgt dieses viehische Leben nicht mehr. Ich überlegte, wie ihr zu helfen sei. Sie mußte heraus aus dem Bordell. Aber Madame wird sich kreischend wehren. Man müßte ihr Geld, viel Geld bieten. Ich sprach mit dem Major, und er gab gern die Erlaubnis für eine Sammlung zu ihren Gunsten innerhalb unseres Bataillons. Er zeichnete als Erster zehn Mark. Und nach ihm alle Offiziere und alle die gesetzten bärtigen Landsturmmänner, größtenteils würdige Familienväter. Keiner, auch der ärmste nicht, schloß sich aus. So kauften wir Leni um den Preis von 1200 Franken von Madame los, kleideten sie von Kopf bis zu Fuß neu ein und schickten sie mit dem nächsten Lazarettzug, der zurückging, nach Aachen. Kaum, daß sie ihr Glück zu fassen vermochte. Sie wollte uns allen einzeln die Hand küssen und steckte jedem, den sie in der Eile erreichen konnte, eine bunte Papierblume an den Rock.

Die Briefmarke auf der Feldpostkarte

Hauptmann R. schied ungern von seiner schönen jungen Frau, die er vor einem Jahre geheiratet hatte, und die, 18 Jahre alt, noch heute ein Kind war. Er brachte ihr jene väterlichen Gefühle entgegen, die dem Manne über 35 Jahren so leicht werden. Wie sollte er aus der Ferne für sie sorgen? Sie war seiner Sorge ewig bedürftig. Und ein hilfloses kleines Mädchen ohne seine leitenden Blicke, Gebärden und Worte, mit denen er sie bald zärtlich, bald streng wies oder verwies. Sollte er sie ihren Eltern, dem Zahnarzt P. und seiner Gattin, für die Dauer des Krieges anvertrauen? Er war froh, daß er sie deren seelischen Plombierapparaten und Kneif- und Brechzangen entrissen hatte. So ließ er sie in der Obhut einer älteren Tante, welche schlecht hörte, aber vortrefflich und ausdauernd Klavier spielte. Er hoffte, daß Annette (so hieß die schöne junge Frau) den Tröstungen der Musik nicht unzugänglich sei und mit ihrer holden Hilfe die Trennung leichter überwinden werde. Nun ist Chopin nicht die rechte Musik, jemand auf helle Gedanken zu bringen. Aber was blieb dem älteren Fräulein übrig, als Chopin zu spielen? Da sie ihn und nur ihn seit 43 Jahren spielte? Sie spielte Chopin, und Annette lauschte, seufzend und strickend.

Zum Abendbrot erschien jeden Mittwoch und Samstag ein entfernter Vetter von ihr, ein junger Postreferendar, welcher entweder als unabkömmlich erklärt war oder dem ungedienten Landsturm angehörte. Er erzählte ihr von seiner Briefmarkensammlung, und sie lachte gern mit ihm. Eines Mittwochabends küßte er sie im Korridor. Und den Samstag darauf wußten sich ihre Lippen kaum zu trennen. So ineinander verbrannt waren sie.

Hauptmann R. machte Namur und Charlerol mit. Er wurde in den Straßenkämpfen schwer verwundet und in das Lazarett von Lüttich eingeliefert. Hier lag er nun und träumte fiebernd von seiner jungen, schönen Frau, welche noch ein Kind war. Sollte er ihr schreiben lassen, wie es um ihn stünde? Eine nie zuvor begriffene Eifersucht ließ ihn heftiger glühen, da er sein Weib blühend und gesund und sich selber für alle Zeit verkrüppelt und verstümmelt fühlte. Er diktierte der Schwester eine Feldpostkarte: »Liebe Annette, ich liege leichtverwundet im Lazarett von Lüttich, Du brauchst Dir keine schlimmen Gedanken zu machen. Sei umarmt von deinem getreuen Gerd.« Aber auf die Feldpostkarte klebte er eine belgische Briefmarke. In den Tagen ihrer Verlobung hatten sie ihre heimlichen Liebesgeständnisse immer in winziger Schrift unter der Briefmarke verborgen.

Die Feldpostkarte langte eines Samstagabends an. »O,« sagte Annette bedauernd, »er ist leicht verwundet. Aber es geht ihm gut.« »Zeig einmal die Briefmarke«, sagte der Postreferendar. »Willst du sie für deine Sammlung haben?« fragte Annette und begann, sie vorsichtig abzutrennen. Leise erschrak sie und las: »Wenn es Dich treibt, im Gedächtnis unserer Brautzeit die Marke zu entfernen, so weiß ich, daß Du mich noch liebst wie einst, und daß Du stark genug bist, auch das Entsetzlichste zu vernehmen und mit heiligem Herzen zu tragen: meine Augen sind erblindet, meine Füße von einer Granate zerrissen. Ich bin nur noch ein Stumpf. Sei stark. Es liebt Dich wild wie je Dein Gerd.« Annette faßte sich an die Brust. Sie wollte schreien. Der Postreferendar war erblaßt. Im Nebenzimmer spielte die Tante einen Chopinschen Walzer. Wie zwei zerschossene Vögel fielen die Augen der Annette tot in sich zusammen.

Der Flieger

Als der Fliegerunteroffizier Georg Henschke, Sohn eines märkischen Bauern, vom Kriege nach Hause auf Urlaub kam, stand sein Heimatdorf schon einige Tage vorher Kopf. Bei seiner Ankunft lief alles, was Beine hatte, ihm halber Wege, einige Beherzte sogar eineinhalb Stunden bis zur Bahnstation Baudach entgegen, und die Kinder und die halbwüchsigen Mädchen saßen auf den Kirschbäumen, welche die Straße säumten, die er kommen mußte.

Nun war er da. Das ganze Dorf drängte sich eng um ihn, daß er kaum Luft holen konnte, seine Mutter weinte: »Georgi, mein Georgi!«, und der Pastor sagte: »Welch eine Fügung Gottes!« »Kinder,« lachte Georg Henschke, »Kinder, ich habe einen Mordshunger!« Da stob man auseinander, um sich gleich darauf zu einem Zuge zu gruppieren, der ihn würdevoll zur Tafel geleitete. Sie war unter freiem Himmel aufgeschlagen. Das Dorf nahm sich die Ehre, ihm ein Essen zu geben. Man zählte ungefähr sieben Gänge, und in jedem kam in irgend einer Form Schweinefleisch vor. Dazu trank man süßen, heurigen Most.

Nach dem Essen, als der Wein seine Wirkung tat, wurde man keck. Man wagte Georg Henschke anzusprechen, zu fragen, zu bitten. »Georgi,« staunte zärtlich seine Mutter, »du kannst nun fliegen!« »Wollen Sie uns nicht einmal etwas vorfliegen?« fragte schüchtern die kleine Marie. »O,« lachte Georg Henschke, »das geht nicht so ohne weiteres. Da gehört ein Apparat dazu!« »Er hat ihn sicher in der Tasche,« grinste verschmitzt der Hirt, »er will uns nur auf die Folter spannen.« »Ein Apparat, das ist so etwas zum Aufziehen?« fragte seine jüngste Schwester Anna. Denn sie dachte daran, daß er ihr einmal aus Berlin einen Elefanten aus Blech mitgebracht hatte. Eine Stange lief unbarmherzig durch seinen Bauch, und wenn man sie ein paarmal herumdrehte, begann der Elefant zu wackeln, mit seinem Rüssel auf den Boden zu klopfen und plötzlich wie ein Wiesel und in wirren Kreisen im Zimmer herumzulaufen.

»Nein,« sagte Georg Henschke, »ich habe den Apparat nicht bei mir, denn er gehört dem Staat.« »So, so,« meinte der Hirt mit seinem weißhaarigen Kopf, »der Staat. Das ist auch so eine neue Erfindung.« »Ganz recht«, lachte Georg Henschke.

»So erzähle uns doch etwas vom Fliegen, und wie man es lernt, Georgi«, bat seine Mutter. Sie war so stolz auf ihn.

Da stand Georg Henschke auf, und alle mit ihm.

»Gut, ich will es tun. Hört zu!«

Er sprang auf einen Stuhl. Sie scharten sich um ihn. Aufgeregt, seinem Willen hingegeben, wie die Herde um das Leittier. Sie hoben ihre Köpfe, sehnsüchtig, und der blaue Himmel lag in ihren Augen. Georg Henschke aber reckte die Arme, schüttelte sie gegen das Licht, in seinen Blicken blitzte die Freude des Triumphators, und als er sprach, flammte es aus ihm. Er selber fühlte sich so leicht werden, so lächelnd leicht, der Boden sank unter seinen Füßen, seine Arme breiteten sich wie Schwingen, wiegten sich, und wie ein Adler stieß er hoch und steil ins Blau.

Das ganze Dorf stand wie ein Wesen, das hundert Köpfe in den Himmel bog. Und sie sahen Georg Henschke im Äther schweben, ruhig und klar, fern und ferner, bis er ihren Blicken entschwand.

Der Korporal

Es war in der letzten Hälfte des August 1914, als man den Korporal Georges Bobin vom III. französischen Linienregiment gefangen einbrachte.

Er sah wie aus dem Ei gepellt aus: schmuck, reinlich, rasiert, mit erdbeerroten Hosen und einem blauen Frack von tadellosem Schnitt.

Er stellte sich dem Husarenoffizier, der ihn verhörte, verbindlich lächelnd vor: als Monsieur Georges Bobin vom III. französischen Linienregiment, gebürtig da und da her … natürlich aus dem Süden …, im Privatberuf Sprachlehrer. Er kenne die Deutschen. Oh là là. Er werde die Deutschen nicht kennen. Drei Jahre hintereinander war er vor Ausbruch des Krieges in Deutschland. Eine lange Zeit. Drei Jahre. Wenn man drei Jahre das Mittelländische Meer nicht sieht. Und Marseille, dieses romantische Drecknest, nicht riechen darf. Denn: es gibt Städte, die man sieht. Florenz zum Beispiel. Und Städte, die man hört. Berlin zum Beispiel. Und Städte, die man riecht. Marseille gehört zu den letzteren. Und da der Geruchs- mit dem Geschmackssinn Hand in Hand gehe, wenn das kühne Bild erlaubt sei, so esse man in Marseille so gut und billig wie nirgends in der Welt. Für ein paar Sous, für ein Nichts Austern und Fische in verwegener Zubereitung, gedünstet, gebraten, gebacken und gesoßt, wie sie sich der phantasievollste Gaumen des ausschweifendsten Feinschmeckers nicht vorzustellen vermag. In Deutschland, wo er an dem Realprogymnasium einer kleinen brandenburgischen Stadt zuletzt tätig gewesen sei, habe er immer Kohlrouladen und Königsberger Klops essen müssen. Nun: wie dem auch sei. Er habe sich daran gewöhnt. Er finde besonders das erstgenannte Gericht, abends zum Souper noch einmal aufgewärmt, recht appetitlich und schmackhaft. Auch der Landschaft, in der die kleine Stadt lag, könne er eine gewisse Anmut nicht absprechen. Ein wenig nüchtern. Ein wenig preußisch. Aber freundlich belebt von den Dampfern und Kähnen der schiffbaren Oder und sanft gemildert von den zärtlichsten Sonnenuntergängen. Und Weinberge stiegen am östlichen Ufer empor: mit rotem und gelbem Wein bepflanzt. Und wenn man den roten ein wenig mit Italiener verschnitte, so bekäme man den schönsten Bordeaux. Nun: er übertreibe. Gewiß. Aber ein guter Crossener ist besser als ein schlechter Bordeaux. Pardon: man wolle das alles wohl von ihm nicht wissen.

Ja, was er für Gefechte mitgemacht habe? Eigentlich gar keine. Dies, in dem er gefangen genommen worden sei, sei sein erstes Gefecht. Er habe fünfzig Patronen verschossen, habe dann vorgehen müssen, seine Kompagnie sei in flankierendes Feuer geraten. Voilá.

Übrigens: er habe zu viel gesagt. Oder vielmehr zu wenig. Er habe doch noch ein zweites Gefecht mitgemacht. Ein sehr merkwürdiges Gefecht. Vielleicht das merkwürdigste des ganzen Krieges.

Das Regiment war auf dem Marsch. Man näherte sich der feindlichen Zone. Ein Dorf lag plötzlich vor ihnen. Ein unansehnliches und höchst gleichgültiges Dorf, wie ein längliches Brot in den Backofen einer engen Talmulde geschoben.

War das Dorf vom Feind besetzt?

Zwei Züge mit Patrouillen an den Spitzen wurden ausgeschickt, das Dorf zu sondieren. Der eine Zug unter dem Befehl des Korporals Georges Bobin kam von der linken, der andere von der rechten Höhe. Das Dorf sollte wie von einer Kneifzange gefaßt werden.

Schleichend und äugend kam Korporal Bobin mit seiner Spitze bis dicht an das erste Haus. Er war vielleicht noch zwanzig Schritte entfernt, als plötzlich Schüsse ertönten.

Pfff … flog ihm auch schon eine Kugel an der Nase vorbei.

Sehr ungemütlicher Zustand das. Aber weiter. In Deckung vor.

Woher kamen die Schüsse? Er befragte seine Leute. Sie sagten übereinstimmend: aus dem Hause da vorne.

Also mußte das Haus vom Feinde besetzt sein.

Er kroch fünf Schritte näher.

Pfff … neue Schüsse … ein leiser Schrei … einer seiner Leute war am Schenkel verwundet … das Blut rann ihm in die Hose … Er schickte ihn zurück zum Regiment. Die übrigen wurden unruhig und knallten unaufhörlich in das Haus hinein.

Kein Fenster im Hause war mehr ganz. Wieder ein Verwundeter … Noch einer … Der erste Tote … Was sollte er machen?

Es war unmöglich, das Haus, das stark besetzt schien, frontal zu stürmen.

Er gab den Befehl zum vorsichtigen Rückzug.

Kriechend und knallend zogen sie sich zurück.

Als sie den Ausgang des Dorfes erreichten, sahen sie von der anderen Seite die zweite Kolonne sich ebenfalls knallend und kriechend zurückschrauben.

Und nun wußte er – und während er erbleichte, brach er in ein krank- und krampfhaftes Gelächter aus.

Die beiden Züge hatten sich gegenseitig beschossen!

Zwischen den Häusern und durch die Häuser hindurch.

Das Geknalle hatte aber nicht nur das Regiment, sondern die ganze Division, bei der sich auch Artillerie befand, nervös gemacht.

Den ganzen Nachmittag und Abend böllerte es noch die Täler und Dörfer entlang.

Die Artilleristen, welche eifersüchtig darauf waren, daß die Infanterie »ihr Gefecht hatte«, zogen die Revolver und begannen ebenfalls zu knallen.

Und da es keine Feinde zu erschießen gab, so schossen sie auf alles Lebende, was ihnen in den Dorfstraßen in den Weg kam.

Alle Hühner, alle Enten, Kühe, Schweine, Katzen, Hunde, Kaninchen, Tauben fielen ihrer Kampfwut zum Opfer.

Die Gräben lagen voll zerfetzter und wimmernder Tiere. Pferde brüllten wie Tiger. Eine tote Katze hing wie der Kasperle im Kasperltheater nach der Vorstellung über der Rampe eines Zaunes. Eine Muttersau verblutete mitten auf der Gasse und drei lebende Ferkel sogen quietschend an ihren toten Brüsten.

Die Schlachtreihe

Unser Lateinlehrer, der alte Professor Hiltmann, war wie Fontane ein geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen. So konnte er es in den Tod nicht leiden, wenn man nach dem Lexikon acies mit »die Schlachtreihe« statt einfach und simpel mit »das Heer« übersetzte.

Der Ultimus unserer Klasse war einer derer von Falkenstein, ein herzensguter, aber dummer Junge.

Jahre gingen ins Land.

Der Weltkrieg brach aus.

Hiltmann, als geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen, konnte sich mit ihm nicht befreunden.

Es tobten die männermordenden Kämpfe vor Verdun. Da erhielt Hiltmann eines Tages eine Feldpostkarte von Falkenstein, der vor Verdun lag. Auf der stand nichts als:

»Sehr geehrter Herr Professor!

Acies heißt doch die Schlachtreihe …

Ergebenster Gruß

Ihres Falkenstein.«

Da stützte der alte Hiltmann den weißen Kopf auf sein Stehpult und die Tränen rannen über seine runzeligen Wangen und tropften auf die Korrekturen des lateinischen Extemporale.

Falkenstein fiel vor Verdun.

Der Feldherr

»Die menschliche Seele«, sagte der junge bulgarische Offizier, der neben mir bei Tisch saß, »ist um vieles dunkler, doppeldeutiger, unvernünftiger, als uns die Psychologen beweisen und weismachen wollen. Besonders im Kriege, wo jahrtausendalte Hemmungen und Traditionen wie verrostete Riegel von morschen Türen springen, der Weg in unerklärlich helle Höhen und unergründlich grauenvolle Tiefen offen wird, offenbart sie die ganze Unerfaßlichkeit ihrer Gefühls- und Willenskomplexe. Da meinen die Psychologen, weil etwas so ist, muß ein zweites so sein. A folgt aus B und B aus C. Man konstruiert einen Parallelismus der (geistigen) Bewegungen aller Menschen und macht die Psychologie zu einer mechanischen Motivenlehre, die in der Literarhistorik und besonders in der Kriminalistik schon manches Unheil gestiftet hat. Man folgert (ein holperiges Wort im Deutschen: es klingt wie »stolpern«) aus Stoff- oder Stilähnlichkeiten zweier Dichtwerke, daß das eine von dem andern beeinflußt sei. Wenn ein Verbrechen verübt und jemand ermordet worden ist: muß das aus dem und dem Grund geschehen sein. Sehr richtig. Aber die Zahl der polizeilich genehmigten und registrierten Motive ist gering: Mord aus Rache, Eifersucht, Erbschleicherei, Raubmord, Lustmord. Man ist bald am Ende. Wie: wenn es bei einzelnen von uns Motive für unsere Handlungen gäbe, die – unbürgerlich, verwegen und merkwürdig – außerhalb jeder Berechnung stehen? Müßte ein solches Verbrechen bei einigermaßen geschickter Anlage nicht unentdeckt bleiben, da der Dietrich der üblichen Motivenlehre versagt? Diese Erkenntnis (aus der ein Reformversuch unserer Kriminalwissenschaft und unseres Strafrechtes herzuleiten wäre) dämmert gewiß nicht mir zum ersten Male und ist, irre ich nicht, auch schon in Fachzeitschriften diskutiert worden. Aber ich schweife ab. Ich wollte Ihnen noch eine kleine Geschichte aus dem ersten Balkankrieg erzählen. Die Geschichte illustriert anschaulich meine Thesen und leuchtet gleichsam mit einer Blendlaterne in die Höhle des Ewig-Ungewissen, das wir Seele nennen. Metaphysisch heißt sie – und liegt doch unter der Erde. Ihr Zugang ist durch Gestrüpp versperrt, durch das zur Nachtzeit zuweilen die Hoffnung der Sterne mit goldenen Augen blinkt und mit fernen Glocken läutet.

General S., der Führer unserer ersten Armee, erwies sich als ein ungewöhnlich befähigter Feldherr. Er leitete alle Operationen mit einer trotzigen und selbstsicheren Gelassenheit, die ihn auch in Augenblicken persönlicher Gefahr nicht verließ. Ich erinnere mich noch sehr gut (ich hatte die Ehre, dem Stabe des Generals S. anzugehören), wie ein feindlicher Flieger Bomben auf das Hauptquartier warf. Eine Anzahl Soldaten, Chauffeure und Pferde wurden mehr oder weniger schwer verwundet und getötet. Der General zuckte mit keiner Wimper. Er hob den Feldstecher und beobachtete aufmerksam den Aluminiumvogel, der erregt und zitterig über ihm kreiste.

Dem General S. ist der große Sieg bei L. zuzuschreiben, der auf die Theorie der unbedingten Vernichtungsstrategie aufgebaut, seinen Namen in der Kriegsgeschichte unsterblich machen wird. Ich war bei dieser Schlacht als persönlicher Adjutant zum General befohlen und verbürge mich für die Wahrheit der folgenden Anekdote. Sie ist früher zu Ende, als Sie glauben werden, und eigentlich mit einem Satz zu erledigen.

Der General war den ganzen Tag von einer lebhaften Unruhe befallen. Er saß am Kartentisch, zwirbelte an seinem Bart, sah alle fünf Minuten nach der Uhr, kurz: war sinnlich gereizt und erregt, wie ein junger Mann, der seine Geliebte erwartet. Seine Anordnungen gab er nachlässig und zerstreut. Rapport nahm er entgegen, als höre er gar nicht hin, und wir gerieten in Bestürzung und Furcht, ein uns unerklärliches Leiden, das vielleicht seine Entschlußfähigkeit und sein Dispositionstalent beeinträchtige, möchte den General plötzlich befallen haben. – Der Abend brachte uns einen vollkommenen Sieg. Beide feindlichen Flügel waren eingedrückt. Die Verluste des Feindes an Gefangenen und Kriegsmaterial ungeheuer.

Der General fuhr im Auto aufs Schlachtfeld und ritt zu einer kurzen Besichtigung bis zur ersten genommenen Stellung. Sein Gesicht hatte sich verklärt und erheitert. Seine Augen zeigten einen metallenen Glanz, den wir der Freude an dem eben errungenen Sieg zuschrieben. Seine Nervosität hatte völlig nachgelassen. Er tastete mit uninteressierten Blicken über ein paar gefallene Stafetten, einen Haufen Sandsäcke, ein paar tote Infanteristen. »Gut, – gut!« sagte er, und dann ritten wir zurück. »Wissen Sie, Leutnant,« er warf den Kopf zur Seite und griff in die Tasche, »ich habe eben noch zu guter Letzt einen Brief erhalten.« – »Von Hause?« wagte ich zu fragen. »Von Hause. Ja. Ich bin so froh. Ich war den ganzen Tag unruhig. Ich habe gewartet auf den Brief – und da ist er.« Dann schwieg er und sah in den Horizont. Er seufzte befreit: »Das Experiment ist gelungen.«

Ich dachte an die gewonnene Schlacht und wollte den General von neuem beglückwünschen. Da neigte er die Stirn und sagte leise: »Sie blüht …«

Ich habe vom General später erfahren, was es mit diesen zwei, mir wie Ihnen im ersten Moment unverständlichen Worten auf sich hatte. Der General ist ein leidenschaftlicher Kakteenzüchter. Da hatte er eine kleine Kaktee zu Hause zurückgelassen, die ungewöhnlich schwer zu züchten und zu ziehen war. Ich kenne ihren botanischen Namen nicht oder habe ihn vergessen, denn ich beschäftige mich in meinen Mußestunden mit Ölmalerei, in der ich es zu einer gewissen Fertigkeit gebracht habe – die Kaktee mußte in diesen Tagen ihre erste Blüte erschließen. Es war ungewiß. Es war kaum zu vermuten und doch so süß zu hoffen. Das Experiment gelang. Die Kaktee blühte. Was war dem General der Ruhm der großen Schlacht? Die Hoffnung auf Unsterblichkeit? Der Dank des Vaterlandes? Er gab sie dahin leichten Herzens, erschüttert und beglückt von dem Ereignis einer blühenden Blume.

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Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
130 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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