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4 Zeichen: Von Sinneswahrnehmungen zu Interpretationen

Wie unterscheidet man Sprachliches von Nicht-Sprachlichem?

In Kapitel 2 haben wir festgestellt, dass Einzelsprachen keine unmittelbar gegebenen Größen sind. Wir gehen davon aus, dass sprachliche Systeme in irgendeiner Weise in den Köpfen der Sprecher gespeichert sind und versuchen in der Linguistik, diese Systeme zu rekonstruieren. Unmittelbar zugänglich sind jedoch nur sprachliche Äußerungen. Außerdem haben wir gesehen, dass es gar nicht immer so einfach ist zu sagen, welcher langue ein solcher Parole-Akt zuzuordnen ist. Wir wollen diese Überlegung nun noch etwas fortsetzen und die Frage stellen, ob wir wenigstens unmittelbar darüber entscheiden können, dass es sich bei etwas Wahrgenommenem um eine sprachliche Äußerung handelt, dass langage im Spiel ist. Wie nehmen wir Parole-Akte wahr?

Sprachliches kann man hören und sehen

Sprachliche Äußerungen kommen im Wesentlichen in zwei Erscheinungsformen vor, die wir mit unterschiedlichen Sinnesorganen verarbeiten: Mit dem Gehörorgan, auditiv, nehmen wir gesprochene Sprache wahr. Mit dem Sehorgan, visuell, nehmen wir geschriebene Sprache wahr, die man – je nachdem welches Material verwendet wurde – teilweise auch ertasten kann. Auditiv und visuell nehmen wir aber viel mehr wahr als nur Parole-Akte, nämlich alle Arten von hör- bzw. sichtbaren Erscheinungen. Wie filtern wir daraus Sprachliches heraus? |16◄ ►17| Denn es kann ja tatsächlich Unsicherheiten und Verwechslungen geben, wie z.B. die folgenden Zeilen aus Goethes Erlkönig zeigen:

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,

Was Erlenkönig mir leise verspricht? –

Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind!

In dürren Blättern säuselt der Wind. –

Der Vater identifiziert das Geräusch hier gar nicht als eines, das von einem sprachfähigen Wesen (wozu wir im Allgemeinen nur die Menschen zählen) produziert wurde. Wir können allgemein also schon einmal feststellen: Unter den vielen Geräuschen, die wir wahrnehmen, kommen wohl nur solche als sprachliche Äußerungen infrage, die Menschen erzeugt haben.

Nicht-sprachliche Geräusche

Menschen erzeugen aber auch nichtsprachliche Geräusche, z.B. wenn sie husten, schmatzen, schnarchen, vor Schmerz schreien oder in die Hände klatschen. Manche von diesen Geräuschen kommen unwillkürlich (husten) oder sogar unwissentlich (schnarchen) zustande, andere werden absichtlich produziert. Als sprachlich würden wir gewiss nur absichtlich erzeugte Geräusche ansehen, genauer gesagt: Geräusche, die eine Bedeutung haben, die nämlich in der Absicht erzeugt werden, dass jemand ihnen einen Sinn zuschreibt, sie als sprachliche Mitteilungen deutet und entschlüsselt.

Auch nicht-sprachliche Geräusche können Bedeutung tragen

Mit dieser Bestimmung können wir aber immer noch nicht Parole-Akte von allen anderen Geräuschen sicher abgrenzen. Man kann nämlich nicht nur sprachlichen Äußerungen einen Sinn zuschreiben, und nicht nur diese werden in der Absicht produziert, dass sie interpretiert und verstanden werden. So kann man z.B. auch absichtlich husten, um jemandem deutlich zu machen, dass er gerade etwas ganz Unpassendes sagt, oder schmatzen, um auszudrücken, dass einem das Essen schmeckt. Auch wer unwillkürlich hustet oder schmatzt, kann nicht verhindern, dass ein anderer dies deutet, etwa als Hinweis auf eine Erkältung oder schlechte Erziehung. Tatsächlich sind sprachliche Äußerungen nur Sonderfälle von Zeichengebrauch.

Etwas ist nicht Zeichen ›an sich‹, es wird als Zeichen interpretiert

Bevor wir klären, worin ihre Besonderheit denn nun besteht, bleiben wir zunächst noch allgemein beim Phänomen der Zeichen, denn was für Zeichen überhaupt gilt, gilt auch für sprachliche Zeichen. Wenn man von Zeichen spricht, denkt man oft zunächst an fixierte wahrnehmbare Produkte, denen konventionell eine bestimmte Bedeutung zukommt, z.B. an Verkehrszeichen, aber eben auch an

Der Zeichenprozess

Schriftzeichen, also Buchstaben. Wir verhalten uns dann so, als ob ein Zeichen direkt an seiner äußeren Gestalt als solches erkennbar wäre, als wenn Zeichen eine bestimmte Untergruppe wahrnehmbarer Objekte wären. Tatsächlich kann jedoch jedes beliebige Phänomen wie ein Zeichen behandelt oder aufgefasst werden, so z.B. wenn jemand |17◄ ►18| das, was er am Himmel sieht, als Zeichen für ein nahendes Gewitter deutet (das dann vielleicht gar nicht kommt) oder bestimmte Linien auf einer Landkarte als Geheimzeichen für einen verborgenen Schatz interpretiert (obwohl es sich vielleicht nur um Abdrücke irgendwelcher Gegenstände handelt, die lange darauf gelegen haben), oder wenn er schließlich ein bestimmtes grafisches Gebilde als ein Wort identifiziert (obwohl es sich vielleicht nur um Gekrakel handelt, das jemand beim Ausprobieren eines Füllers produziert hat). Etwas ist also nicht ›an sich‹ ein Zeichen, sondern es wird zu einem solchen immer nur für jemanden, es realisiert sich nur im Rahmen eines Interpretationsprozesses. Selbst sprachliche Äußerungen können nur dann als Zeichen funktionieren, wenn es auch jemanden gibt, der sie als Parole-Akte deutet und sie auf Grund seiner Sprachkenntnis entschlüsseln kann.

Auf dieser Grundlage können wir nun Zeichenprozesse zunehmend differenzieren bis hin zur Ebene sprachlicher Zeichen:

Ein Interpret deutet seine Wahrnehmung

– Damit ein Zeichenprozess zustandekommen kann, bedarf es erstens eines physischen Phänomens, das wahrnehmbar ist, und zweitens eines Interpreten, der seine Wahrnehmung zu deuten versucht. Das physische Phänomen als Bestandteil eines Zeichenprozesses wollen wir im Folgenden Zeichenträger oder Zeichenkörper nennen.

Ein ZeichenSetzer produziert etwas als Zeichen

– Damit von kommunikativem Zeichengebrauch die Rede sein kann, bedarf es außerdem auch noch eines »Zeichen-Setzers«, d.h. das physische Phänomen muss von jemandem absichtlich als Zeichenträger benutzt worden sein; er muss ihm seinerseits eine Bedeutung zugeordnet haben, etwas Bestimmtes damit gemeint haben.

Deiktische und ikonische Zeichen

Auch wenn man über keine gemeinsame Sprache verfügt, kann man sich bei Vorliegen dieser elementaren Gegebenheiten bereits verständigen, wie z.B. die Begegnung zwischen Robinson und Freitag (Textbeispiel 4) zeigt. Dabei wird man im Wesentlichen zwei Arten von Zeichen verwenden. Erstens kann man Zeigegesten benutzen. Dies tut man z.B. oft beim Einkaufen in Ländern, deren Sprache man nicht beherrscht: man zeigt dann einfach auf das, was man will. Solche Zeichen nennt man deiktische (von griech. deiknynai ›zeigen‹). Zweitens wird man auf solche Zeichenträger zurückgreifen, die in einer natürlichen oder jedenfalls leicht erratbaren Beziehung zum Gemeinten stehen, z.B. ein Gähnen, um zu zeigen, dass man müde ist, eine Zeichnung, die den gemeinten Gegenstand abbildet oder auch eine Lautung, die ein natürliches Geräusch nachahmt (z.B. kann man ein Bellen imitieren, um mitzuteilen, dass ein Hund in der Nähe ist). Solche Zeichen, bei denen die Zeichenkörper Abbildcharakter haben, nennt man ikonische Zeichen (von griech. eikon ›Abbild‹).

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Textbeispiel 4: Ich verstand ihn ganz gut

Zwischen den Wilden und meiner Festung lag die Bucht. Über diese musste der Flüchtende schwimmen, wenn er nicht wieder eingefangen werden wollte. Er zögerte auch keinen Augenblick – obwohl die Flut hoch stand –, sprang ins Wasser, schwamm mit raschen Stößen herüber, kletterte ans Land und lief mit der gleichen Kraft und Ausdauer wie vorher weiter. Als seine drei Verfolger das Ufer der Bucht erreicht hatten, bemerkte ich, dass nur zwei von ihnen schwimmen konnten. Der dritte blieb am Ufer stehen und kehrte wieder um. Die beiden anderen brauchten noch einmal so viel Zeit wie ihr Gefangener, um über die Bucht zu schwimmen.

Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Jetzt war der Augenblick gekommen, mir einen Diener und vielleicht einen Gefährten und Freund zu verschaffen. Es schien mir, als hätte ich von der Vorsehung den Auftrag erhalten, das Leben dieses armen Geschöpfes zu retten. […]

Der arme verfolgte Wilde hatte seine beiden Feinde niederfallen sehen, Blitz und Knall des Schusses aber hatten ihn so erschreckt, dass er stocksteif dastand und sich nicht von der Stelle rührte, obwohl man es ihm ansah, dass er am liebsten davongestürzt wäre. Ich rief ihn nochmals an, winkte ihm und machte beruhigende Gesten. Er verstand mich und kam tatsächlich langsam näher und näher, zitterte aber am ganzen Körper. Ich nickte ihm freundlich zu und gab ihm auf alle mögliche Weise zu verstehen, dass ich sein Freund war. Als er vor mir stand, kniete er nieder, fasste meinen Fuß und setzte ihn auf seinen Kopf, wie mir schien, um mir damit zu sagen, dass er mein Diener sein wollte und ich sein Herr war. Ich hob ihn auf und beruhigte ihn, so gut ich konnte.

Allein, es gab jetzt noch mehr zu tun. Der erste Wilde, den ich niedergeschlagen hatte, war nicht tot, sondern nur betäubt und schien zu sich zu kommen. Als ich es merkte, zeigte ich auf den Niedergestürzten und mein Schützling sagte darauf einige Worte zu mir, die ich nicht verstand, die mich aber trotzdem vor Rührung fast erschauern ließen. Es waren die ersten Laute einer menschlichen Stimme, die ich seit fünfundzwanzig Jahren hörte! […]

Ich hatte inzwischen die Ziegen gemolken, die sich in dem ganz in der Nähe liegenden Gehege befanden. Kaum sah er mich, so lief er auf mich zu, kniete sich mit allen Zeichen demütiger Dankbarkeit wieder auf den Boden und deutete mir seine Ergebenheit mit allen erdenklichen Gesten an. Ich verstand ihn ganz gut und machte ihm begreiflich, dass ich mich über ihn freute.

Ja, ich freute mich ganz unbeschreiblich, wieder einen Menschen neben mir zu wissen. Weil der Tag, an dem ich meinen neuen Freund gerettet hatte, ein Freitag war, so nannte ich den Burschen »Freitag« und er begriff bald, dass dies nun sein Name war. Die Wörter »Ja« und »Nein« und ihre Bedeutung brachte ich ihm spielend bei, auch das Wort »Master«, mit dem er mich in Zukunft immer anredete. Dann gab ich ihm in einem irdenen Topf etwas Milch und zeigte ihm, wie ich Brot darin eintauchte. Er folgte meinem Beispiel ohne Scheu und aß sich satt. Die Nacht verbrachten wir miteinander in der Laube, als der Tag dämmerte, ging ich mit ihm zu meiner Festung zurück.

Bei der Stelle, wo die beiden Toten verscharrt lagen, blieb er stehen und gab mir zu verstehen, dass wir sie ausgraben und aufessen sollten, und er war nicht wenig bestürzt, als ich meinen Abscheu davor ausdrückte, und folgte mir dann ganz unterwürfig.

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Wir wissen allerdings alle, dass die Kommunikation sehr mühsam ist und dass die Mitteilungen auch nicht sehr differenziert und eindeutig sein können, wenn man auf keine anderen Mittel als deiktische und ikonische Zeichen zurückgreifen kann. Denn in diesem Fall muss man jede Wahrnehmung wieder neu – zum Teil unter Aufwendung von viel Fantasie – zu deuten versuchen. Erheblich einfacher und eindeutiger wird der kommunikative Zeichengebrauch, wenn man zum

Konventionalisierte Zeichen

– Gebrauch konventionalisierter Zeichen übergeht. In diesem Fall müssen sich mindestens zwei Zeichenbenutzer auf irgendeine Weise darüber verständigt haben, dass sie mit einem bestimmten Zeichenträger eine bestimmte Bedeutung verbinden wollen, z.B.: einmal in die Hände klatschen = bring mir etwas zu essen; zweimal in die Hände klatschen = bring mir etwas zu trinken. Im Allgemeinen sind es jedoch nicht gerade nur zwei Leute, sondern eine größere Gemeinschaft von Menschen, bei denen bestimmte konventionelle Zeichen vereinbart worden sind oder sich eingespielt haben.

Auch ursprünglich ikonische Zeichen können konventionalisiert werden. Dabei wird der Zeichenträger in zunehmend stilisierter Form realisiert und ist oft keineswegs mehr aus sich heraus verständlich – vgl. z.B. die folgenden Ikone aus dem Computer: .

Hier geht es zunehmend darum, nicht einfach zu erkennen, welchem Objekt der Zeichenträger ähnelt, sondern einen bereits bekannten Zeichenträger wiederzuerkennen. Manche Schriftsysteme, z.B. das chinesische, sind aus ikonischen Zeichen entwickelt, aber keineswegs (mehr) einfach entschlüsselbar. Als Textbeispiel 5 finden Sie einen Versuch, den Inhalt der biblischen Schöpfungsgeschichte bildlich darzustellen; dabei wird schon vielfach auf konventionalisierte ikonische Zeichen zurückgegriffen (z.B. eine Faust mit hochgestrecktem Daumen, um auszudrücken: ›es war gut‹, aber sogar Ausrufungszeichen, um etwa Aufforderungen auszudrücken).

Sprachliche Zeichen und Regeln zu ihrer Verknüpfung

– Die Besonderheit von Sprachzeichen besteht nun darin, dass diese immer Bestandteil eines umfassenden Systems sind, nämlich einer langue. Einzelsprachen sind extrem komplexe Zeichensysteme, die dazu geeignet sind, mit einem kleinen Grundbestand von Elementen (Lauten bzw. Buchstaben) jedwede Bedeutung auszudrücken, und zwar nach bestimmten den Sprechern der jeweiligen Sprache vertrauten Regeln. Diese Regeln stellen sicher, dass die Interpretation einer Folge von Zeichenträgern nicht mehr weitgehend der Fantasie des Interpreten anheimgestellt ist. Es bedarf dazu jedoch nicht nur elementarer Zeichen, die z.B. einen bestimmten Gegenstand repräsentieren (etwa des Wortes Telefon statt des ikonischen Zeichens ( ), sondern auch festgelegter Regeln dafür, wie man die elementaren Zeichen so miteinander kombiniert, dass auch komplexe Inhalte ausgedrückt werden können, und zwar so, dass die Bedeutung einer Zeichenfolge auch für andere (ziemlich) eindeutig erkennbar ist. Während man nämlich die Folge der ikonischen Zeichen auf vielerlei Weise interpretieren kann, lassen die folgenden Sätze kaum noch Fragen offen: Jemand hat angerufen und gesagt, du sollst ihm einen Brief schreiben; oder: Ich habe noch viele Telefonate zu erledigen, muss Briefe schreiben, würde aber doch viel lieber an meiner Zeichnung weitermachen; oder: Hier kann man Telefonkarten, Briefmarken und Schreibgeräte kaufen …

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Textbeispiel 5: Die Schöpfung


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Über das Sprachsystem hinaus

Wie bereits gesagt, besteht die Aufgabe der synchronen Linguistik im Sinne Saussures ausschließlich in der Beschreibung dieser einzelsprachlichen Systeme. Die Frage, die sie sich stellt, lautet: Wie funktioniert das System einer langue? Angesichts der Kompliziertheit der sprachlichen Zeichensysteme ist dies eine sehr große und schwierige Aufgabe, und deswegen war es auch zweifellos sinnvoll, dass sich die Linguistik so lange darauf konzentriert hat. Dennoch darf man nicht vergessen, dass die Fragen, die man sich angesichts des Phänomens der Sprache stellen kann, damit auf einen bestimmten Aspekt verengt werden.

Wie Parole-Akte, die menschliche Verständigung, funktionieren, kann (und soll) damit nicht vollständig erklärt werden. Denn die Benutzung eines einzelsprachlichen Systems ist nur eine, wenn auch wohl die allerwichtigste Komponente bei diesen Prozessen. Tatsächlich greifen aber die Sprecher auch bei sprachlichen Äußerungen immer wieder zurück auf andere Formen des Zeichengebrauchs:

Gestik und Mimik

– Lautliche Äußerungen werden durch Gesten und Mimik ergänzt, bei schriftlichen Texten kann man zusätzlich Bilder und konventionalisierte ikonische Zeichen benutzen oder auch die konkrete grafische Gestaltung (z.B. Fettdruck, unterschiedliche Schriftgrößen oder -arten usw.) als Zeichenträger einsetzen.

Kreation neuer Zeichen

– Wenn man einmal über ein gemeinsames sprachliches Zeichensystem verfügt, ist es außerdem ganz leicht möglich, ständig neue Konventionen festzulegen, z.B. neue Wörter zu erfinden und ihnen mittels einer Definition eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben. Dies ist auch genau der Grund dafür, dass man wirklich sagen kann, Sprachen seien Zeichensysteme, mit denen man einfach alles ausdrücken kann – schlimmstenfalls muss man das System mehr oder weniger stark abändern bzw. ergänzen, um zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu kommen.

Hintergründiger Sinn

– Schließlich stellt die Beschränkung auf die Frage nach dem Funktionieren der einzelsprachlichen Systeme auch deswegen eine Verengung|22◄ ►23| dar, weil es sehr oft nicht ausreicht, eine Äußerung wörtlich zu verstehen, um zu begreifen, was der Sprecher damit in der konkreten Situation eigentlich gemeint hat. Wenn jemand sagt ich bin müde, kann das einfach heißen, dass er im Moment das Bedürfnis hat zu schlafen; er könnte aber auch ausdrücken wollen, dass er sein Leben sehr anstrengend findet, ständig erschöpft ist und keine Energie mehr hat; der Hörer könnte auch zu der Interpretation kommen, dass der Sprecher einfach nicht mehr mit ihm reden will, weil er auf ihn böse ist, usw. Solche Interpretationen ergeben sich nicht schlüssig aus dem, was eine Äußerung dem sprachlichen System entsprechend bedeutet. Denn hier geht es um die individuelle Interpretation von Parole-Akten, für die man auf mehr als sein Sprachwissen, u.a. auf den Kontext und sein Vorwissen über den Gesprächspartner, zurückgreift.

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5 Was braucht man, um eine sprachliche Äußerung zu verstehen?

Führen wir uns nun vor Augen, was alles außer der Kenntnis einer Sprache noch eine Rolle spielen kann, wenn man mit einem Parole-Akt konfrontiert ist. Dazu greifen wir auf einen sehr kurzen Text zurück:


Stilblütensammlung: aus dem Kontext gerissene (unfreiwillige) Komik

An diesem Text fällt zunächst die spezielle grafische Gestaltung ins Auge, und jeder wird wohl unmittelbar erkennen, dass es sich um eine aus einer Zeitung ausgerissene Überschrift handelt. Zumindest mit der gegenwärtigen deutschen Presselandschaft Vertraute kennen auch die in der Quellenangabe genannte Zeitung Bild am Sonntag. Nun ist diese Schlagzeile hier aus ihrem originären Kontext herausgelöst, ihr folgt auch kein Haupttext. Um zu verstehen, welchem Zweck dies dient, müssen wir wissen, in welchem situativen Zusammenhang die Schlagzeile sich jetzt befindet. Abgedruckt war der Text in der hier vorgestellten Form in einem anderen Presseorgan, dem Spiegel, und zwar unter der Rubrik Hohlspiegel. Dort sind regelmäßig kurze Texte (meist nur Auszüge)|23◄ ►24| abgedruckt, die eine unfreiwillige Komik aufweisen. Durch die Platzierung in der »Stilblüten-Rubrik« Hohlspiegel ist also ein kontextueller Hinweis gegeben, dass es an diesem Zitat etwas zu Lachen gibt. Dieser Lach-Effekt stellt sich für die meisten wohl ohne jedes weitere Nachdenken ein; spontan aktiviert man eine Reihe von Wissensvoraussetzungen, die wir uns nun im Einzelnen bewusst machen wollen – vor allem für die, denen Vorkenntnisse zum Verständnis fehlen.

Lampe und Leuchte

Sie will keine Leuchte sein – dies ist schon für sich komisch, weil die Redewendung (k)eine Leuchte sein bedeutet: ›(nicht) klug sein‹. Da klug zu sein allgemein als ein positiver Wert gilt, fällt es schwer sich jemanden zu denken, der dies ausdrücklich nicht sein will. Das Schlüsselwort zum Verständnis ist der Ausdruck Ikea, eigentlich kein Bestandteil der deutschen Sprache, sondern der Eigenname eines Möbelhauses. Wer Ikea – sei es aus direkter Erfahrung als Käufer, sei es aus dem Ikea-Katalog, sei es aus der Werbung – kennt, weiß auch, dass dort viele Produkte mit Eigennamen belegt werden, so gibt es z.B. die Bücherregale Billy, Niklas und Ivar. Das Möbelhaus bietet auch Beleuchtungskörper an, gemeinhin Lampen genannt. Leuchte ist ein in der Elektro- und Möbelindustrie gebräuchliches Synonym dafür. Die Verwendung dieses speziellen Ausdrucks führt zu dem komischen Effekt, den Sie möchte keine Lampe sein natürlich nicht erbracht hätte, weil hier die wörtliche Bedeutung nicht mit einer Redewendung in Konflikt treten kann.

Das Vorwissen

Auf Grund dieses Vorwissens wird der Leser wahrscheinlich vermuten, dass Ikea eine Lampe, benannt nach einer weiblichen Person namens Feldbusch, auf den Markt bringen wollte (oder dies schon getan hat). Feldbusch passt allerdings nicht gerade in die Reihe der (meist nordisch klingenden) Namen von Ikea-Produkten. Wer ist mit Feldbusch gemeint? Es handelt sich um das Fernseh-Sternchen Verona Feldbusch, eine Moderatorin von Sendungen, deren intellektuelles Niveau allgemein als besonders niedrig gilt. Der Name kann in diesem Sinne für eine kurze Zeitspanne geradezu als Inbegriff der Dümmlichkeit fungieren! Und dass die Moderatorin auch so dumm sein will, wie sie ist, ist natürlich schon zum Lachen.

Gibt es aber bei Ikea wirklich eine Lampe mit dem Namen Verona /(Feldbusch), und hat die Moderatorin wirklich deswegen gegen Ikea geklagt? Falls es so sein sollte, handelt es sich dann wirklich um eine unfreiwillige Stilblüte oder aber um eine bereits von Bild bewusst komisch inszenierte Meldung? Dass nicht bei allen Zitaten aus dem Hohlspiegel die Komik unfreiwillig ist, lässt ein anderes Beispiel aus derselben Nummer erwarten: »Tausche schwerverständl. Buch über Empfängnisverhütung gegen gebrauchten Kinderwagen« (Aus der »Ostfriesen Zeitung«). Bei einem dritten Fall aus der Nummer würden wir mit beabsichtigter Komik dagegen sicher nicht rechnen – hauptsächlich deswegen, weil es aus dem Schreiben einer Sparkasse stammt |24◄ ►25| (da macht man nicht solche Witze): »Die übrigen Veränderungen bleiben unverändert.«

Der Feldbusch-Text allein und auch die diversen beigezogenen Hintergrundkenntnisse reichen nicht aus, um die Frage zu beantworten. Dafür muss man auf den Originaltext zurückgreifen, der zeigt, dass die gewählte Schlagzeile irreführend ist. Ikea hat keine Lampe Verona genannt, es geht um ein Produkt namens Skyar, für das Ikea in Schweizer Zeitungen mit dem Satz warb: »Das Verona-Feldbusch-Angebot von morgen: Die attraktive Leuchte für Fr. 69, – « – und dies ohne Feldbusch gefragt zu haben. Feldbusch hat also geklagt, weil sie als Werbeträgerin eingesetzt wurde, ohne dafür Geld zu bekommen. Verona Feldbusch, die übrigens auch als – bezahlte – Werbeträgerin auftritt, handelte also tatsächlich eher schlau, indem sie finanzielle Ansprüche gegenüber Ikea geltend machte.

Wissensbereiche

Nach der Beispieldiskussion wollen wir nun versuchen, die Ergebnisse zu verallgemeinern und uns schematisch vor Augen zu führen, welche Kenntnisse bei der Verarbeitung eines Textes zur Geltung kommen können. Dies geschieht in Abbildung 4. Dort werden drei große Wissensbereiche unterschieden, die in der Kommunikation eine Rolle spielen: Wissen über Zeichen(systeme) und Zeichengebrauch, Wissen über Außersprachliches, das man auch als Weltwissen bezeichnet, und schließlich Situationswissen.

In anderen schematischen Darstellungen des Kommunikationsprozesses werden die Wissensbereiche meist als ein zu einem gegebenen Zeitpunkt fester Wissensbestand des Individuums dargestellt (grafisch durch geschlossene Figuren angedeutet), wobei die Wissensbestände verschiedener Individuen nur teilidentisch sind. Für das Sprachwissen führt das etwa zu Abbildung 5.

Wissensbestände ändern sich während der Kommunikation

Wenn hier eine offenere Darstellung wie in Abbildung 4 bevorzugt wird, so vor allem deswegen, weil sich die Wissensbestände nicht wie Dateien denken lassen, auf die der Mensch Zugriff hätte, seien solche Dateien auch als sehr umfangreich und in sich komplex strukturiert konzipiert. Die Wissensbestände eines Individuums sollten nicht als fixe Größe modelliert werden, die mindestens für eine bestimmte Kommunikationssituation Gültigkeit hätte. Es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung zwischen dem Kommunikationsprozess und den relevanten Wissenselementen (dies deuten die Doppellinien an). Wer z.B. mit einem Ausdruck konfrontiert wird, der eigentlich nicht zu seinem Wortschatz gehört, kann häufig ›aus dem Kontext‹, d.h. durch die Aktivierung anderer Elemente seines Wissens, diesem Ausdruck eine Bedeutung zuschreiben und ihn damit ad hoc in seinen Wissensbestand integrieren. Man könnte auch sagen, dass dieses Wissenselement latent durchaus schon vorhanden war oder dass es als potenziell bestehendes Wissen existiert.

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Abb. 4: Wissensbereiche, die für den Kommunikationsprozess relevant sind

Noch offensichtlicher ist, dass ein kommunikativer Austausch, der sich ja in der Regel auf Außersprachliches bezieht, geradezu notwendig den Wissensbestand über Außersprachliches beeinflusst, ihn ergänzt, korrigiert, bestätigt, verstärkt oder auch lediglich aktualisiert. Schließlich wird auch die Kommunikationssituation unmittelbar durch die Kommunikation selbst beeinflusst oder gar erst im kommunikativen Prozess konstituiert. So mag man vorgängiges Wissen (oder besser bestimmte Vorstellungen) über den Partner oder den Situationstyp haben; diese Vorstellungen werden aber während des Prozesses laufend mit den neuen Erfahrungen verglichen. Zu guter Letzt enthebt uns der Verzicht auf geschlossene Figuren auch der Notwendigkeit, jeweils genau zu bestimmen, was zu dem einen, was zu dem anderen Wissensbereich zu zählen wäre, ein Unterfangen, das nahezu aussichtslos ist, da die verschiedenen Bereiche engstens ineinander greifen.

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Abb. 5: Wissensbestände verschiedener Individuen

Wissen um Zeichensysteme Sprachwissen

Nun zur Erläuterung der Abbildung 4: Das Sprachwissen ist hier als ein Teil eines umfassenderen Komplexes, des Wissens über Zeichen, eingeordnet. Damit soll dreierlei hervorgehoben werden: Zunächst baut sprachliches Wissen sowohl bei der Entwicklung des einzelnen Menschen (der Ontogenese) als auch bei der Entwicklung der Gattung (der Phylogenese) auf elementareren Formen der Zeichenverwendung auf. Schreien, Lächeln, Blickkontakt, Abwehrgesten oder Zeigegesten und vieles andere mehr können Kinder viel früher kommunikativ einsetzen als sprachliche Zeichen. Es ist auch zu vermuten – wenngleich uns natürlich der Sprachursprung (oder besser: der Prozess der Entwicklung von Sprache) verschlossen ist –, dass der noch nicht sprechende ›Vormensch‹ aufbauend auf solchen Formen des kommunikativen Miteinanders Sprache ausgebildet hat. Weiter begleiten aber diese Arten von Zeichengebrauch die Kommunikation auch dann, wenn jemand bereits über ein voll ausgebautes Sprachsystem verfügt. Sie werden nie überflüssig, sondern stehen als Reservoir stets zur Verfügung, wie es auch die grafische Gestaltung des Feldbusch-Beispiels zeigt. Einsetzen können wir solche Elemente zusätzlich (etwa zur Verstärkung oder Verdeutlichung), ersetzend (besonders wenn die Partner auf keine gemeinsame Sprache zurückgreifen können oder einem gerade das passende Wort nicht einfällt) oder auch im Widerstreit mit dem sprachlich explizit Geäußerten. In diesem letzten Fall ist besonders bemerkenswert, dass den so genannten nonverbalen Botschaften oft stärkere Geltung zugeschrieben wird als der sprachlichen Äußerung. |27◄ ►28| Ein mit grimmigem Gesicht hervorgepresstes Ja wird man doch eher als ›nein‹ auffassen. Schließlich kann man unter Rückgriff auf Sprache auch zusätzliche und zum Teil hoch differenzierte nichtsprachliche Zeichensysteme aufbauen – dies reicht von streng geregelten Flaggensignalen bis hin zu den Kunst-›Sprachen‹ der Mathematik, Logik und nicht zuletzt der Linguistik.

Wissen um Sprachvarietäten

Auch in anderer Hinsicht müssen wir aber über den Bereich der Sprachkenntnis im engsten Sinne hinausgehen, wenn wir uns verdeutlichen wollen, was alles Bestandteil des sprachlichen Wissens ist. Dazu gehört zunächst das Wissen um sprachliche Varietäten. Diese bestehen keineswegs nur aus Sonderwortschätzen, also lexikalischen Einheiten, die gewissermaßen zum Grundinventar des Wortschatzes einer Sprache hinzukommen (wie etwa Fachtermini oder spezielle Ausdrücke der so genannten Jugendsprache) oder die anders verwendet werden (Leuchte gegenüber Lampe). Vielmehr zeichnen sie sich auch dadurch aus, dass generell gegebene Möglichkeiten des Systems in spezifischer Weise (u.a. mit bestimmter Häufigkeit) ausgenutzt werden. So bedient man sich z.B. in der Fachsprache relativ komplexer, in der Umgangssprache eher einfacherer syntaktischer Muster. Zum Wissen um Varietäten gehört es ferner auch, wenn man bestimmte regionale Aussprachevarianten identifizieren kann (was übrigens für Fremdsprachler ungleich schwieriger und daher seltener ist als für Muttersprachler). Eine große Bedeutung hat ferner das Wissen um die Einschätzung bestimmter Varietäten, etwa die Frage, welche Bedeutung und welche Konsequenzen die Orientierung an der kodifizierten (in Regelwerken wie Grammatiken und Wörterbüchern festgeschriebenen) Norm der Standardsprache – oder aber die Abweichung davon hat.

Wissen über geläufige Formen sprachlichen Handelns

Gehen wir zu der Komponente der ›geläufigen Formen sprachlichen Handelns‹ über. Was geläufig, normal, ist und was nicht, gehört nicht unbedingt zu Kenntnissen, derer wir uns bewusst sind. Sie treten jedoch dann leicht ins Bewusstsein, wenn wir mit fremden Üblichkeiten konfrontiert werden, wenn sich z.B. jemand am Telefon mit der Rufnummer meldet, statt den Namen, ja oder hallo zu sagen (auch diese letzten drei Varianten erscheinen nicht allen Deutschsprachigen als gleichermaßen normal). Zur Kenntnis der Kommunikationsgewohnheiten gehört es auch, dass Straßenverzeichnisse in Stadtplänen alphabetisch (und nicht z.B. nach den Quartieren) geordnet sind, die Gerichte auf einer Speisekarte dagegen nach anderen Prinzipien, während bei Kochbüchern wiederum auch die alphabetische Variante vorkommt. Im Feldbusch-Beispiel können wir als eine solche kommunikative Gewohnheit, als Sprachspiel, etwa die Präsentation von Text(ausschnitt)en im Rahmen einer Stilblütensammlung identifizieren.

Kenntnis von Einzeltexten

Die Kenntnis bestimmter Einzeltexte (im Beispiel etwa des Ikea-Katalogs und der Sendungen mit Feldbusch), die im Schema als letzter |28◄ ►29| Typ genannt ist, wird als Element sprachlichen Wissens oft vernachlässigt, spielt aber im Kommunikationsprozess eine sehr bedeutende Rolle. Dies gilt nicht nur, weil die Sprachteilhaber ihre Kenntisse über das Sprachsystem aus einer Fülle von Einzeltexten gewonnen und aufgebaut haben, sondern auch, weil auf vorliegende Texte immer wieder Bezug genommen wird. Solche Texte gehören ebenso zum Gedächtnis der Sprachgemeinschaft wie die Elemente des Wortschatzes und das grammatische Regelsystem. Manche Texte werden schlicht mehr oder weniger oft reproduziert wie z.B. Kinderreime, Lieder oder Gebete. Heutzutage kommen an solchen häufig wieder verwendeten Kurztexten auch Werbesprüche, Schlagertexte bzw. einzelne Zeilen daraus und dergleichen infrage. Schon in diesem Bereich fest gespeicherter Texte finden wir allerdings nicht nur unmodifizierte Reproduktion, sondern vor allem Abwandlung. Sprüche aus dem Wendeherbst 1989 wie Hopp, hopp, hopp, Gysi, lauf Galopp oder Wir sind das Volk, wir sind ein Volk, ich bin Volker setzen die Kenntnis früherer Texte voraus, wobei man allerdings mit einer sehr unterschiedlichen Lebensdauer und Verbreitung der gemeinsamen Textkenntnis rechnen muss.

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669 стр. 66 иллюстраций
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9783846321720
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