Читать книгу: «Der Narr / Der Wanderer», страница 2

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ÜBER GEBEN UND NEHMEN

EINMAL lebte dort ein Mann, der eine ungeheure Menge Nadeln hatte. Und eines Tages kam die Mutter Jesu zu ihm und sagte: »Freund, das Gewand meines Sohnes ist zerrissen, und ich muss es flicken, bevor er in den Tempel geht. Würdest du mir eine Nadel geben?«

Aber er gab ihr keine Nadel, sondern eine gelehrte Rede über Geben und Nehmen, die sie zu ihrem Sohn tragen sollte, bevor er in den Tempel geht.

DIE SIEBEN SELBST

IN der stillsten Stunde der Nacht, als ich halb schlafend lag, saßen meine sieben Selbst zusammen und unterhielten sich so im Flüsterton:

Erstes Selbst: Hier, in diesem Wahnsinnigen, habe ich all die Jahre gewohnt, ohne etwas anderes zu tun, als tagsüber seinen Schmerz zu erneuern und nachts seinen Kummer neu zu erschaffen. Ich kann mein Schicksal nicht länger ertragen, und jetzt rebelliere ich.

Zweites Selbst: Dein Los ist viel besser als meines, Bruder, denn es ist mir gegeben, das freudige Selbst dieses Wahnsinnigen zu sein. Ich lache sein Lachen und singe seine glücklichen Stunden, und mit dreimal geflügelten Füßen tanze ich seine helleren Gedanken. Ich bin es, der gegen mein müdes Dasein rebellieren möchte.

Drittes Selbst: Und was ist mit mir, dem liebesgeplagten Selbst, dem flammenden Brandmal wilder Leidenschaft und fantastischer Begierden? Ich bin es, das liebeskranke Selbst, das gegen diesen Narren rebellieren möchte.

Viertes Selbst: Ich bin das erbärmlichste Selbst unter euch allen, denn mir wurde nichts geschenkt außer abscheulichem Hass und zerstörerischem Ekel. Ich bin es, das sturmähnliche Selbst, das in den schwarzen Höhlen der Hölle geborene, das gegen den Dienst an diesem Narren protestieren will.

Fünftes Selbst: Nein, ich bin es, das denkende Selbst, das fantasiereiche Selbst, das Selbst des Hungers und Durstes, das dazu verdammt ist, ohne Rast auf der Suche nach unbekannten und noch nicht erschaffenen Dingen umherzuwandern; ich bin es, nicht ihr, das rebellieren will.

Sechstes Selbst: Und ich, das arbeitende Selbst, der bedauernswerte Arbeiter, der mit geduldigen Händen und sehnsuchtsvollen Augen die Tage in Bilder formt und den formlosen Elementen neue und ewige Formen gibt – ich bin es, der Einsame, der gegen diesen rastlosen Narren rebellieren will.

Siebtes Selbst: Wie seltsam, dass ihr alle gegen diesen Mann rebelliert, denn jeder Einzelne von euch hat ein vorbestimmtes Schicksal zu erfüllen. Ah, könnte ich nur wie einer von euch sein, ein Selbst mit einem entschlossenen Los! Aber ich habe keins, ich bin das Tue-nichts-Selbst, dasjenige, das im stummen, leeren Nirgendwo verweilt, während ihr damit beschäftigt seid, das Leben neu zu erschaffen. Seid ihr es, Nachbarn, oder bin ich es, der rebellieren sollte?

Als das siebte Selbst so sprach, blickten die anderen sechs Selbst mit Mitleid auf ihn, sagten aber nichts mehr; und als die Nacht tiefer wurde, schlief eines nach dem anderen ein, umhüllt von einer neuen und glücklichen Unterwerfung.

Aber das siebte Selbst blieb wachsam und blickte auf das Nichts, das hinter allen Dingen liegt.

KRIEG

EINMAL fand im Palast ein Fest statt, und da kam ein Mann und warf sich vor dem Prinzen nieder, und alle Festleute sahen ihn an; und sie sahen, dass ihm ein Auge fehlte und dass die leere Augenhöhle blutete. Und der Prinz fragte ihn: »Was ist mit dir geschehen?« Und der Mann antwortete: »Oh Fürst, ich bin von Beruf ein Dieb, und in dieser Nacht, da kein Mond schien, wollte ich die Wechselstube des Geldwechslers ausrauben, und als ich durch das Fenster hineinkletterte, machte ich einen Fehler und betrat die Webstube, und im Dunkeln rannte ich in den Webstuhl des Webers, und mein Auge wurde ausgerissen. Und nun, oh Prinz, bitte ich um Gerechtigkeit gegenüber dem Weber.«

Dann ließ der Fürst den Weber holen und so kam er, und es wurde verfügt, dass ihm ein Auge ausgerissen werden sollte.

»Oh Prinz«, sagte der Weber, »das Dekret ist gerecht. Es ist richtig, dass eines meiner Augen genommen wird. Und doch, ach! Beide sind für mich notwendig, damit ich die beiden Seiten des Tuches, das ich webe, sehen kann. Aber ich habe einen Nachbarn, einen Schuster, der ebenfalls zwei Augen hat, und in seinem Beruf sind beide Augen nicht notwendig.«

Dann ließ der Fürst den Schuster holen. Und er kam. Und sie nahmen dem Schuster eines seiner Augen heraus.

Und die Gerechtigkeit war erfüllt.

DER FUCHS

EIN Fuchs schaute bei Sonnenaufgang auf seinen Schatten und sagte: »Ich werde heute ein Kamel zum Mittagessen haben.« Und den ganzen Morgen ging er umher und suchte nach Kamelen. Aber mittags sah er seinen Schatten wieder und sagte: »Eine Maus reicht mir.«

DER WEISE KÖNIG

EINMAL regierte in der fernen Stadt Wirani ein König, der sowohl mächtig als auch weise war. Und man fürchtete ihn wegen seiner Macht und liebte ihn wegen seiner Weisheit.

Nun gab es im Herzen dieser Stadt einen Brunnen, dessen Wasser kühl und kristallklar war und aus dem alle Einwohner tranken, sogar der König und seine Höflinge, denn es gab keinen anderen Brunnen.

Eines Nachts, als alle schliefen, kam eine Hexe in die Stadt, goss sieben Tropfen einer seltsamen Flüssigkeit in den Brunnen und sagte: »Von dieser Stunde an wird der, der dieses Wasser trinkt, verrückt werden.«

Am nächsten Morgen tranken alle Einwohner mit Ausnahme des Königs und seines Kammerherrn aus dem Brunnen, und alle wurden wahnsinnig, genau wie die Hexe es vorausgesagt hatte.

Und während dieses Tages taten die Menschen in den engen Gassen und auf den Marktplätzen nichts anderes, als einander zuzuflüstern: »Der König ist verrückt. Unser König und sein Oberkammerherr haben den Verstand verloren. Sicherlich können wir nicht von einem verrückten König regiert werden. Wir müssen ihn entthronen.«

Am Abend befahl der König, einen goldenen Kelch aus dem Brunnen zu füllen. Und als man ihn ihm brachte, trank er tief und gab ihn seinem Oberkammerherrn zu trinken.

Und es herrschte großer Jubel in der fernen Stadt Wirani, weil ihr König und sein Oberkammerherr wieder zur Vernunft gekommen waren.

AMBITION

DREI Männer trafen sich an einem Tavernentisch. Einer war ein Weber, ein anderer ein Zimmermann und der dritte ein Gräber.

Der Weber sagte: »Ich habe heute ein feines Leichentuch aus Leinen für zwei Goldstücke verkauft. Lasst uns so viel Wein trinken, wie wir wollen.«

»Und ich«, sagte der Zimmermann, »ich habe meinen besten Sarg verkauft. Mit dem Wein werden wir einen großen Braten haben.«

»Ich habe nur ein Grab gegraben«, sagte der Gräber, »aber mein Gönner hat mir das Doppelte bezahlt. Lasst uns auch Honigkuchen essen.«

Und den ganzen Abend war in der Taverne viel los, denn es wurde oft nach Wein und Fleisch und Kuchen gerufen. Und sie waren fröhlich.

Und der Wirt rieb sich die Hände und lächelte seine Frau an, denn seine Gäste gaben frei das Geld aus.

Als sie die Taverne verließen, stand der Mond hoch, und sie gingen gemeinsam singend und schreiend die Straße entlang.

Der Gastgeber und seine Frau standen in der Tavernentür und schauten ihnen nach.

»Ah!«, sagte die Frau. »Diese Herren! So freihändig und so fröhlich! Wenn sie uns nur jeden Tag so viel Glück bringen könnten! Dann müsste unser Sohn nicht Tavernenbesitzer sein und so hart arbeiten. Wir könnten ihn ausbilden, und er könnte Priester werden.«

DIE NEUE FREUDE

GESTERN Abend erfand ich ein neues Vergnügen, und als ich ihm die erste Prüfung gab, stürmten ein Engel und ein Teufel auf mein Haus zu. Sie trafen sich vor meiner Tür und stritten miteinander um mein neu geschaffenes Vergnügen. Der eine schrie: »Es ist eine Sünde!« – der andere: »Es ist eine Tugend!«

DIE ANDERE SPRACHE

DREI Tage nach meiner Geburt, als ich in meiner seidenen Wiege lag und mit erstaunter Bestürzung auf die neue Welt um mich herum blickte, sprach meine Mutter mit der Amme und fragte: »Wie geht es meinem Kind?«

Und die Amme antwortete: »Es geht ihm gut, Madame, ich habe ihn dreimal gefüttert, und noch nie zuvor habe ich ein so junges und doch so fröhliches Kind gesehen.«

Und ich war empört und rief: »Das ist nicht wahr, Mutter, denn mein Bett ist hart, und die Milch, die ich gesaugt habe, ist bitter in meinem Mund, und der Geruch der Brust riecht in meinen Nasenlöchern, und ich bin sehr unglücklich.«

Aber meine Mutter verstand es nicht, und die Krankenschwester auch nicht, denn die Sprache, die ich sprach, war die der Welt, aus der ich kam.

Und am einundzwanzigsten Tag meines Lebens, als ich getauft wurde, sagte der Priester zu meiner Mutter: »Sie sollten sich in der Tat freuen, Madame, dass Ihr Sohn als ein Christ geboren wurde.«

Und ich war überrascht, und ich sagte zum Priester: »Dann sollte deine Mutter im Himmel unglücklich sein, denn du bist nicht als Christ geboren worden.«

Aber auch der Priester verstand meine Sprache nicht.

Und nach sieben Monden schaute mich eines Tages ein Wahrsager an, und er sagte zu meiner Mutter: »Dein Sohn wird ein Staatsmann und ein großer Führer der Menschen sein.«

Aber ich rief: »Das ist eine falsche Prophezeiung, denn ich werde ein Musiker sein, und nichts als ein Musiker werde ich sein.«

Aber selbst in diesem Alter verstand man meine Sprache nicht – und mein Erstaunen war groß.

Und nach dreiunddreißig Jahren, in denen meine Mutter, die Krankenschwester und der Priester alle gestorben sind (der Schatten Gottes sei auf ihren Geistern), lebt der Wahrsager immer noch. Und gestern traf ich ihn in der Nähe des Tors des Tempels; und während wir miteinander sprachen, sagte er: »Ich habe immer gewusst, dass du ein großer Musiker werden würdest. Schon in deiner Kindheit habe ich deine Zukunft prophezeit und vorausgesagt.«

Und ich glaubte ihm – denn nun habe auch ich die Sprache dieser anderen Welt vergessen.

DER GRANATAPFEL

EINMAL, als ich im Herzen eines Granatapfels lebte, hörte ich ein Samenkorn sagen: »Eines Tages werde ich ein Baum werden, und der Wind wird in meinen Zweigen singen, und die Sonne wird auf meinen Blättern tanzen, und ich werde stark und schön sein durch alle Jahreszeiten hindurch.«

Dann sprach ein anderer Same und sagte: »Als ich so jung war wie du, hatte auch ich solche Ansichten, aber jetzt, da ich die Dinge wiegen und messen kann, sehe ich, dass meine Hoffnungen vergeblich waren.«

Und ein dritter Same sprach auch: »Ich sehe in uns nichts, was eine so große Zukunft verspricht.«

Und ein vierter sagte: »Aber was für ein Hohn wäre unser Leben ohne eine größere Zukunft!«

Und ein fünfter sagte: »Warum darüber streiten, was wir sein werden, wenn wir nicht einmal wissen, was wir sind?«

Aber ein sechster antwortete: »Was immer wir sind, das werden wir auch weiterhin sein.«

Und ein siebter sagte: »Ich habe eine so klare Vorstellung davon, wie alles sein wird, aber ich kann es nicht in Worte fassen.«

Dann sprach ein achter – und ein neunter – und ein zehnter – und dann viele – bis alle sprachen, und ich konnte bei den vielen Stimmen nichts mehr unterscheiden.

Und so ging ich noch am selben Tag in das Herz einer Quitte, wo es nur wenige Samen und fast nichts zu hören gibt.

DIE ZWEI KÄFIGE

IM Garten meines Vaters gibt es zwei Käfige. In dem einen ist ein Löwe, den die Sklaven meines Vaters aus der Wüste Ninavah mitgebracht haben, in dem anderen Käfig ist ein sangloser Spatz.

Jeden Tag in der Morgendämmerung ruft der Spatz dem Löwen zu: »Guten Morgen, Bruder Gefangener.«

DIE DREI AMEISEN

DREI Ameisen trafen sich auf der Nase eines Mannes, der schlafend in der Sonne lag. Und nachdem sie einander gegrüßt hatten, jeder nach der Sitte seines Stammes, standen sie da und unterhielten sich.

Die erste Ameise sagte: »Diese Hügel und Ebenen sind die unfruchtbarsten, die ich kenne. Ich habe den ganzen Tag nach irgendeinem Korn gesucht, und es ist keins zu finden.«

Die zweite Ameise sagte: »Auch ich habe nichts gefunden, obwohl ich jeden Winkel und jede Lichtung besucht habe. Das ist, glaube ich, das, was mein Volk das weiche, bewegte Land nennt, wo nichts wächst.«

Dann hob die dritte Ameise den Kopf und sagte: »Meine Freunde, wir stehen jetzt auf der Nase der Obersten Ameise, der mächtigen und unendlichen Ameise, deren Körper so groß ist, dass wir sie nicht sehen können, deren Schatten so groß ist, dass wir sie nicht verfolgen können, deren Stimme so laut ist, dass wir sie nicht hören können; und Er ist allgegenwärtig.«

Als die dritte Ameise so sprach, schauten sich die anderen Ameisen gegenseitig an und lachten.

In diesem Moment bewegte sich der Mann, hob im Schlaf die Hand und kratzte sich an der Nase, und die drei Ameisen wurden zerquetscht.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
71 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783868208993
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