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«Sternstunden
der Medizin»

Als Kinder, in den 1950er-, 1960er-Jahren, stürzten wir uns regelmäßig mit Begeisterung auf eine Zeitschrift, die uns ins Haus flatterte. Jedes Mal suchten wir nach der Bilderseite «Great Moments in Medicine». Als Imagewerbung für einen Pharma-Konzern wurden hier große Momente der Medizingeschichte zelebriert: Pasteur, der mit Reagenzgläsern hantiert, oder die erste Pockenimpfung durch Edward Jenner, Wilhelm Röntgen und die unsichtbaren Strahlen. Typischerweise waren die Szenen idyllisch, mittendrin das Drama und der Held, der Leben rettet und die Medizin durch seine Entdeckung oder Erfindung weiterbringt. Natürlich waren die Männer alle weiß. Die Begleiterinnen glichen Grace Kelly oder vielleicht der Gattin eines Pharma-Managers. Uns Kinder kümmerte das nicht. Wir waren hin und weg vom Fortschritt in der Medizin.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich ein solches Bild, das es in der Serie nie gab, ein weniger strahlendes. Sterben hat nie als Sternstunde der Medizin gegolten. Ich stelle mir vor: Ein feudales Schlafzimmer. In einem herrschaftlichen Bett liegt ein alter Mann. Offensichtlich hat er in den letzten Momenten seines Lebens die Tochter rufen lassen. Diese kommt gehetzt an, verschwitzt, mit Herzklopfen. Sie hat soeben ihr Ohr an die Lippen des sterbenden Vaters gelegt, um besser zu hören … Und was hört sie? Nur ein unverständliches Flüstern, dann spürt sie den Hauch des letzten Atemzugs. Die Bildunterschrift: «Was ich dir noch sagen wollte …»

In meiner aktuellen gesundheitlichen Lage in der Nähe des Todes – ergänzt durch meine langjährige ärztliche Tätigkeit – gibt es viel, was ich noch sagen will. Vor allem zu Entscheidungen am Lebensende.

Was wir uns ­wünschen,
was wir bekommen

Was ist es genau, das wir brauchen, um dem Tod möglichst ohne Angst und mit einer gewissen Zuversicht zu begegnen? Die Vorstellungen über einen guten Tod sind sehr ­verschieden. Die kulturellen Unterschiede sind groß, der religiöse Hintergrund, die Biografien und auch die Persönlichkeiten. Die einen möchten im Schlaf sterben. Andere wünschen sich, bei vollem Bewusstsein aus dem Leben zu scheiden. Jeder stirbt seinen eigenen Tod. Allein. Es wird stets ein Geheimnis bleiben.

Gemäss Umfragen möchten die allermeisten zu Hause sterben. Tatsächlich können dies weniger als 30 Prozent. Auch in der Schweiz. Nicholas Christakis, Professor für Medizinische Soziologie an der Harvard Medical School, schreibt 4, dass in den USA unzählige Patienten in den Spitä­lern ein verlängertes und schmerzvolles Sterben erdulden müssen, da es dort kaum möglich sei, eines natürlichen Todes zu sterben. Im Spital werden Leiden und Sterben ver­­längert, indem alles darangesetzt werde, das Leben zu er­­hal­­­­ten. Die Patienten erhielten unerwünschte, invasive Maßnahmen in einer unpersönlichen Umgebung. Kurz: unwürdig, egal, wie man den Begriff der Würde definiere.

Nebst Schmerzfreiheit und einer guten Symptomkon­trolle wünschen sich Sterbende laut Christakis vor allem eine gute Pflege durch Menschen, die sie mögen. Von den Ärzten erwarten sie, angehört und mit ihren Wünschen res­pektiert zu werden, und dass sie ihnen die Kontrolle über sich selbst so weit wie möglich gewähren. Gut sterben heißt für viele, auf den Tod vorbereitet zu sein. Dazu gehört, so gut wie möglich zu wissen, was einen erwartet, und auch an den Punkt zu gelangen, wo man den Tod nicht nur anerkennt, sondern auch akzeptieren kann. Die Voraussetzung dafür ist, dass man die persönlichen Beziehungen in Ordnung gebracht hat («resolve unfinished business») und sich von den wichtigsten Bezugspersonen verabschiedet hat. Das sind manchmal Menschen, die man schon lange aus dem Blickfeld verloren hat. Ein guter Tod wird als friedlicher Tod beschrieben – von den Angehörigen, den Pflegenden und von den Sterbenden selbst.

Versöhnung ist für viele Menschen wichtig. Schön ist es, wenn beide Seiten, zum Beispiel ein sterbender Vater und ein Sohn, der den Kontakt zu ihm aus vielen – vielleicht auch nachvollziehbaren – Gründen abgebrochen hat, lange genug leben, um doch einen Schritt aufeinander zugehen zu können, bevor es zu spät ist. Dann kann der Kreis in Frieden geschlossen werden. Letztlich bin ich überzeugt, dass Familien super sind, wenn sie tatsächlich das Beste im anderen sehen wollen und sich gemeinsam unterstützen. Wenn aber Eifersucht und Borniertheit prägend sind, so lohnt es sich nicht, seine Energien in Angelegenheiten zu investieren, bei denen man nur verlieren kann. Je mehr man gibt, umso mehr wird einem alles im Mund umgedreht. Braucht man das? Braucht man das am Lebensende? Da sind Wahlverwandtschaften besser. Denn dort kann man wirklich über alles reden. Oberflächliche Schönwetter-Gespräche, wie sie in Familien so oft vorkommen, bringen einen nicht weiter. Und nicht alle Konflikte sind lösbar. Man muss sich nicht dem Frieden zuliebe alles gefallen lassen. Versöhnung ist manchmal einfach nicht möglich. Leider. Und dann ist es besser, seine letzten Energien für Sinnvolleres zu nutzen.

Sterbende machen sich oft besonders Sorgen um ihre Familie und ihre Nächsten. Das Sterben fällt ihnen leichter, wenn die Familie auf den bevorstehenden Tod vorbereitet ist – seelisch und materiell. Die Sterbenden möchten den Angehörigen nicht zur Last fallen. Es ist daher sinnvoll, diese Themen mit einer geeigneten Person – zum Beispiel mit der Hausärztin – zu besprechen und in Form einer Pa­­tien­ten­ver­­fügung festzuhalten. Die Patientenverfügung dient zunehmend als Gesprächsgrundlage im Hinblick auf medizinische Schritte am Lebensende. Dazu gehören vor allem Maßnahmen, die man nicht will. In der Schweiz hat sich die Ausgangslage seit Januar 2013 grundlegend geändert. Mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht sind Patientenverfügungen bindend. Doch wenn nicht vorgesorgt ist, landen im Sterben liegende Kranke auf einer Intensivstation, obschon sie paradoxerweise zu krank dafür sind.5

Und es ist viel schwieriger, angefangene Maßnahmen abzusetzen, als erst gar nicht damit anzufangen. «Therapieabbrüche» gehen nie ohne Schwierigkeiten über die Bühne und belasten Angehörige und Behandelnde sehr. Oft ist es für Familien einfach zu viel, die Entscheidung für Therapieabbrüche zu fällen. Sie kommen sich illoyal vor und glauben, den geliebten Menschen umzubringen.

Zwischen Theorie und Praxis
klaffen Welten

Eigene Erfahrungen sind durch nichts zu ersetzen. Und auch Menschen, die sehr sorgfältig über alle möglichen Fragen reflektiert und auch dezidierte Meinungen haben, werden verunsichert, wenn sich das Thema tatsächlich vor der eigenen Haustüre oder gar in den eigenen vier Wänden anbahnt. Darüber hat der erfahrene Medizinjournalist und Gesundheitsspezialist Charles Ornstein einen sehr per­sönlichen Text über den Tod seiner Mutter veröffentlicht: «Was Mamas Tod mit meinen Vorstellungen von Sterbebegleitung gemacht hat».6

Er berichtet: Seine Mutter war wegen Übelkeit, Husten und Schwierigkeiten, die Nahrung im Magen zu behalten, eingewiesen worden.

Am dritten Tag, während eine Pflegerin damit beschäftigt ist, ihr via Nase eine Magensonde zu legen, tritt ein Herzstillstand auf. Neun Minuten lang wird sie reanimiert, und noch bevor er vor Ort ist, ist sie schon am Beatmungsgerät, und ihr Blutdruck ist mit Medikamenten stabilisiert. Niemand wusste genau, warum so entschieden wurde, aber die Prognose sah düster aus. Die Ärzte rieten der Familie, darüber nachzudenken, ob es wohl nicht sinnvoll sei, die Mutter vom Beatmungsgerät zu nehmen.

Für Ornsteins Schwester und den Vater war klar, dass die Entscheidung bei ihm, dem Fachmann für Gesundheitsfragen, lag. Schließlich war er seit fünfzehn Jahren auf ­diesem Gebiet spezialisiert. Nun erwartete man von ihm Antworten. Aber, so schreibt er, all sein Fachwissen konnte ihm nicht helfen: Nichts hatte ihn auf diesen Moment und diese Entscheidung vorbereitet. Er habe immer die hohen Kosten am Lebensende für diskussionswürdig gehalten. Bekanntlich falle ein Viertel aller Ausgaben der amerikanischen öffentlichen Krankenversicherung Medicare im letzten Lebensjahr an. Und viele Studien zeigten, dass ein ­großer Teil dieser Ausgaben sinn- und nutzlos ist, was ihre Wirkung anbelangt.

Die Familie kannte die «End of Life»-Wünsche der Mutter: Sie hatte ihrem Mann klar dargelegt, dass sie nicht künstlich am Leben erhalten werden wollte, falls die Aussichten auf Erholung schlecht sein sollten, falls sie keine reale Hoffnung auf eine sinnvolle Besserung zu erwarten hätte. Aber – so Ornstein – was wäre in einer solchen Lage eine reale Chance? Was wäre unter einer sinnvollen Er­­holung zu verstehen? Und wie konnte man wissen, ob die Prognosen von Ärzten und Pflegepersonal überhaupt stimmten? In all seinen Jahren als Fachjournalist habe er nie begriffen, wie unwesentlich die Kosten des Gesundheitssystems für die Familie eines Patienten sind. Nun, auf der Intensivstation, war klar: Das Gehirn der Mutter war schwerstbeschädigt. Und, wie er es beruflich gewohnt war, begann er in der Fachliteratur zu recherchieren. Er fand nichts Ermutigendes. Aber konnte es nicht doch sein, dass ausgerechnet seine Mutter diejenige Ausnahme sein würde, die die Regel bestätigte?

Ornstein gingen noch viele Gedanken durch den Kopf. Aber beim Familienrat wurde hauptsächlich eines beschlossen: Druck wegzunehmen und sich für die Entscheidung Zeit zu lassen. Eine Zweitmeinung sollte eingeholt werden. Ornstein würde alle Befunde und Berichte genau lesen. Und sollte es danach weiterhin aussichtslos aussehen, würde die Familie beschließen, alle aggressiven Therapien abzusetzen.

Das Fazit war schlecht. In einem sterilen Sitzungsraum wurde der Familie eröffnet, dass man die Patientin entweder in eine Hospiz-Abteilung verlegen könnte, wo man ihr eine Sauerstoff- und Magensonde einlegen würde, oder man könne das Beatmungsgerät abstellen. Erst jetzt konnte die Familie sich dazu durchringen, die bereits bekannten Wünsche der Mutter zu respektieren. Das Pflegepersonal hat im Beisein der weinenden Familie sämtliche Leitungen und Geräte abgestellt. Die Mutter atmete noch einige Stunden selbständig weiter, bevor sie in Ruhe sterben konnte.

Ornstein glaubt, dass niemand mit einer solchen Entscheidung zufrieden sein kann. Aber er war mehr oder we­­ni­­ger sicher, im Sinne seiner Mutter gehandelt zu haben. Eine Woche später aber, mit einer gewissen emotionalen Distanz, fragte er sich, wie das Verhalten seiner Familie im Einklang mit seiner kritischen Haltung zum Thema Ressour­cenverschleuderung am Lebensende in Einklang zu bringen war. Neugierig, ob ein Professor der Medizin, den er sehr respektierte, dies als Verschwendung sehen würde, wandte er sich an Elliott Fisher, Professor für Allgemein- und Hausarztmedizin am Dartmouth Institute. Der beruhigte ihn. Er hätte es sogar verstehen können, wenn die Familie insistiert hätte, die Mutter noch eine oder zwei Wochen länger zu beatmen. Und dies trotz der hoffnungslosen medizinischen Situation. Fisher meinte, man solle sich nie zu schnellen Entscheidungen drängen lassen. Es gehe darum, für den Patienten und für die Familie den richtigen Entschluss zu fassen. Ornstein fragte ihn, wie dies zu vereinen wäre mit der Überzeugung, es werde am Lebensende zu viel Geld ver­­schleudert. Fisher sagte, er mache sich viel eher Sorgen darüber, dass die Wünsche der Patienten oft unbekannt seien und Ärzte Therapien propagierten, die offensichtlich aussichtslos seien und das Leiden verlängerten. Ornstein war mit vielem einverstanden, und dennoch war er nun davon überzeugt, dass es im praktischen Alltag viel schwieriger sei, mit diesen Fragen umzugehen als in theoretischen ­Diskussionen. Man könne die Patientenwünsche kennen und trotzdem verwirrt sein, wenn es darum gehe, das Richtige zu tun.

Was bleibt von den Wünschen? Verglichen mit den Wünschen von Sterbenden bekommen wenige, was sie sich vorgestellt hatten. Das ist mehr als bedauerlich. Zum einen sterben die meisten Menschen in unserer westlichen Welt nicht zu Hause, wie sie es sich vorgestellt hatten. Unter an­­derem, weil Familien mit der Pflege überfordert sind. Ob­­wohl es mit mobilen Palliativpflege-Teams oder einer Onko-­Spitex möglich ist, Menschen zu Hause gut zu pflegen. Es braucht allerdings auch Angehörige, die engagiert sind. Das Problem liegt zum anderen darin, dass viele Patienten, insbesondere Krebspatienten, fast bis zum Schluss weiter­therapiert werden, auch wenn die Aussichten auf Besserung oder gar Heilung absolut illusorisch sind. Oft wurde mit den Patienten und Angehörigen sogar nie darüber geredet, dass der Patient letztlich sterben wird.

Wenn Patienten unmittelbar vor dem Ende ihres Lebens überbehandelt werden und so richtig in die Maschinerie ge­­raten, hat das viele Gründe. Die Patienten, die Angehörigen, die Ärzte und das System selbst tragen dazu bei. Ich habe Patienten erlebt, die die qualvollsten Therapien über sich ergehen ließen, weil sie ihre Familien nicht enttäuschen wollten. Schlimm ist auch der direkte Druck von Angehörigen, die aus den gleichen Gründen – alles versucht haben zu wollen – die Ärzte teils unter Klage-Androhung nötigen, weiterzubehandeln. Die Angehörigen können durch aggressives Verhalten und Druck den Patienten unglaubliches Leid aufbürden. Sie sollten sich fragen, was ihre eigent­lichen Motive sind. Tun sie das wirklich für den angeblich geliebten Menschen oder tun sie es aus egoistischen Motiven, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen, weil sie sich dann nichts vorzuwerfen hätten, weil sie nichts unversucht ließen oder schlicht und einfach aus Überforderung handelten?

Bei Ärztinnen und Ärzten kann der Grund für aussichtslose Weiterbehandlungen darin bestehen, dass es schwierig ist, einer Patientin oder einem Patienten offen zu sagen, dass es keine medizinischen Therapieoptionen mehr gibt. Das heißt, es liegt ein Problem im Bereich der Kommunikation und sozialen Kompetenz vor. Spezialisten glauben oft, dass sich Patienten an jeden Strohhalm klammern. Dieser Überzeugung bin ich nicht. Patienten klammern sich an Hoffnungen, die ihnen angeboten werden. Oft im Vertrauen, Ärzte würden ihnen doch nichts anbieten, das völlig aussichtslos wäre.

Man müsste den Patienten eben nicht nur sagen, was die Erfolgschancen bestenfalls sein könnten, sondern auch, was sie durchmachen müssen, um zu den seltensten Gewinnern in diesem Lotto zu gehören. Gerade Angehörige beklagen nach einem durch medizinische Interventionen überschatteten Tod, dass sie lebenslänglich das Trauma mit sich trügen, nicht in einer würdigen Form vom Sterbenden Abschied genommen zu haben.

Der lange Weg
zum guten Sterben

Bis ins 20. Jahrhundert hinein musste gar nicht darüber nachgedacht werden: Wir starben in den eigenen vier Wänden. David Rothman beschreibt in seinem Artikel «Wo wir sterben» 7 im New England Journal of Medicine, wie in New England vor dem Bürgerkrieg der Tod Tuberkulosekranker begleitet wurde. In eng vernetzten Gemeinschaften von Familien, Nachbarn, Freunden und Pfarrern wurden Sterbende begleitet. Ärzte – war einmal klar, dass das Leben dem Ende zuging – waren nur peripher eingebunden. Rothman beschreibt, wie die Norm, zu Hause zu sterben, sich durch alle gesellschaftlichen Transformationen, wie Immigration und Verstädterung, hindurch behauptete. Einzig die Mittellosen, die weder Freunde noch Familie hatten, starben in öffentlichen Spitälern.

Nachdem Robert Koch den Erreger der Tuberkulose ­entdeckt hatte, wurden die Patienten – oft gegen ihren Willen – isoliert und nur zum Sterben nach Hause gelassen. Erst im 20. Jahrhundert, als die medizinische Forschung die Spitäler verwandelte und in der Lage war, Patienten zu heilen, begannen die Menschen freiwillig ins Spital zu gehen. 1949 zum Beispiel sind nur 40 Prozent der über 65-Jährigen im Spital gestorben. Ende der 1970er-Jahre starben bereits 50 Prozent im Spital und nur noch 15 Prozent zu Hause. Die restlichen 35 Prozent sind offenbar in Pflegeheimen oder ähnlichen Institutionen gestorben. Auch Ende der 1980er-Jahre, als die finanzielle Beteiligung für die Pflege zu Hause geklärt war, blieben die Zahlen in etwa gleich.

Mittlerweile hatten sich im Laufe der Jahrzehnte die Spitäler umorganisiert. Sterbende wurden von den übrigen Patienten getrennt, die Intensivpflegestationen wurden geschaffen. Patienten konnten überwacht und beatmet werden. Rothman beschreibt, was ich als junge Ärztin auch erlebt habe: die völlige Abtrennung der Intensivstationen vom Rest des Spitals. Schwere Türen. Abweisende Architek­tur und abweisendes Personal. So hatten Besucher kaum Zu­­­tritt zu ihren kranken Angehörigen. Oft nicht einmal, wenn es ums Sterben ging. Das Sterben sei, so Rothman, da­­durch doppelt abgetrennt worden: zum einen durch die Hospitalisation selbst und zum anderen durch die Verbannung auf nicht zugängliche Intensivpflegestationen.

Ich erinnere mich sehr wohl an diese Zeiten. Man stelle sich vor: Die eigene Mutter oder sogar das eigene Kind liegt im Sterben, und man hat einfach keinen Zugang, weil die Ärzte und Pflegeteams noch an irgendetwas Hoffnungs­losem herumbasteln. Am Schluss kommen sie heraus, um mitzuteilen, dass der Patient gestorben ist.

Die Gegenreaktion ließ nicht auf sich warten. Ein Meilenstein war hier das Aufkommen der Hospizbewegung unter Cicely Saunders 1967 in England. Auch in den USA war die Hospizbewegung entscheidend für ein Umdenken über den Ort des Sterbens.

Die meisten wünschen sich heute wieder, zu Hause zu sterben, und vielen gelingt es immerhin, bis fast zum Schluss zu Hause zu bleiben. Es kann aber ein Moment kommen, bei dem es eine Zumutung für die Angehörigen und Pflegenden ist, diesen Wunsch des Sterbenden zu respektieren. Zum Beispiel im Moment eines Zusammenbruchs der Pflegenden. Dann macht es keinen Sinn, das Sterben zu Hause unter allen Umständen durchzusetzen. Oft ist nicht klar, wie lange die Phase des Sterbens dauern wird. Nachträglich ist man immer klüger.

Es gibt auch hier Bemühungen, die Voraussetzungen zu schaffen, dem Wunsch des Sterbenden entsprechend – zum Beispiel nach einem Spitalaufenthalt – doch ein Sterben zu Hause zu ermöglichen.8 Dies ist sehr aufwendig und setzt ein Palliativteam voraus, welches mit den spitalexternen Diensten eng zusammenarbeitet.

Wir dürfen nie vergessen, dass Todesumstände lebenslänglich bei den zurückbleibenden Familienmitgliedern nachwirken. Es kann nicht überschätzt werden, wie wichtig gerade für ihr Seelenheil ist, dass sich der Tod etwa der Eltern in einem würdigen Rahmen abspielt.

Es ist ein Irrtum zu meinen, der Tod zu Hause sei in jedem Fall dem Tod im Spital, im Hospiz oder im Pflegeheim vorzuziehen. So habe ich einen sterbenden Kollegen im Spital besuchen können, zu einem Zeitpunkt, da er be­­reits bewusstlos war. Er war in einem abgedunkelten Einzelzimmer, das sehr stimmig, der Situation entsprechend, eingerichtet war. Die Spitalatmosphäre konnte durch schöne Tücher gedämpft werden. Die Pflege kümmerte sich um eine sinnvolle, leidenslindernde Behandlung. Es wurde aber auf alle lebensverlängernden Maßnahmen verzichtet.

Die wichtigste Botschaft zu diesem Thema ist: Es ist letztlich egal, wo wir sterben, wenn wir gut und liebevoll be­­­treut werden. Es ist heute an vielen Or­­ten möglich, würdevoll zu sterben: zu Hause, im Spital, in einem Pflegeheim, in einem Hospiz und sogar auf mancher Intensivstation.

Die Not der Ärztinnen
und Ärzte

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben das ärztliche Berufsbild massiv verändert. Viele Ärzte fühlen sich instrumentalisiert, kontrolliert und einem generellen Misstrauen ausgesetzt. Und nicht nur das: Sie tragen am Schluss die Verantwortung und müssen für alle möglichen Fragen geradestehen. Sie stehen oft mit einem Fuß im Gefängnis. Handeln sie nach dem Wunsch des Patienten, kann irgendjemand – eine Pflegekraft oder sonst wer – den Arzt anklagen. All die Fragen am Lebensende hinterlassen bei den Ärzten Spuren: Reanimation, ja oder nein? Oft ist es egal, was sie tun: Man hätte es genau anders machen müssen.

Ärzte sind ein heterogener Haufen. Sie unterscheiden sich zum einen schon nach Fachbereichen in ihren Mentalitäten, aber genauso wie alle anderen durch ihre Sozialisation, Herkunft und auch in Glaubensfragen. Es gibt nicht die Haltung der Ärzte. Nebst alledem haben sie eine sehr komplexe Berufsausbildung hinter sich. Sie werden als Vertrauenspersonen gesehen und erleben sehr persönliche Seiten ihrer Patientinnen und Patienten. Sie erleben die Patienten in Notlagen und sind Gesprächspartner, wenn diese an Todesängsten leiden.

Ärzte arbeiten innerhalb von strengen Rahmenbedingungen. Zwar gibt es Bereiche, in denen sie sich nach ihrem Gewissen richten können, doch schnell bewegen sie sich auf Glatteis. Denn der Mensch ist keine Maschine. Als Arzt kann man in vielen Situationen nicht nach Schemata vorgehen. Menschen unterscheiden sich: anatomisch, biologisch – also auch genetisch – und psychisch. Was für den einen Patienten richtig ist, ist für den anderen falsch. Ein Medikament wirkt bei diesem und beim anderen nicht.

Und dann sind Patienten verschieden in ihren Wünschen, in ihrem Selbstverständnis, ihren teils berechtigten, teils unberechtigten Forderungen. Viele haben weitreichend zu ihrer Krankheit oder Symptomatik recherchiert, andere haben keine Ahnung. Die einen wollen geführt werden, die anderen glauben mehr zu wissen als ihre Ärzte. Für einige ist der Arzt sozusagen für den Menschen das, was der Mechaniker fürs Auto ist: Sie erwarten eine Reparatur. Sie können nicht glauben, dass nicht alles machbar ist. Sie glauben, ein Check-up sei wie ein Persilschein, eine Unbedenklichkeitserklärung, um drei Wochen später womöglich einen Herzinfarkt zu erleiden. Es ist also keine einfache Sache, den Wünschen und Erwartungen der Patienten gerecht zu werden.

In der Supervision berichtete ein Kollege: Er war aus seiner Allgemeinpraxis heraus in ein Alters- und Pflegeheim gerufen worden. Es sei eine 93-jährige Frau am Ersticken. Er müsse sofort kommen. Als er da war, wusste niemand von den Angestellten Bescheid darüber, was im Notfall vorgesehen war. Die Frau war blau angelaufen. Ringsum standen die Bewohner und das Personal, und alle schauten zum Doktor. Was tun? Er handelte sofort mit dem Heimlich-Handgriff, einem ruckartigen Zusammenpressen des Bauchraums, damit der in der Luftröhre stecken gebliebene Bissen hinausbefördert werden konnte. Die Frau überlebte, bekam aber eine Lungenentzündung und verstarb einige Tage später auf der Intensivstation im Spital. Der Arzt bekam Vorwürfe von der Familie: Die Verstorbene habe sich explizit gegen lebensverlängernde Maßnahmen geäußert, und die Familie stehe auch dazu. Wie er dazu gekommen sei, die Mutter diesen Qualen auszusetzen … Solche Kritik schluckt man nicht einfach herunter. Es bleiben Spuren.

Ein anderer Kollege, Spitalarzt, berichtete mir von einer 47-jährigen Patientin, die wegen eines Akuten Atemnotsyndroms (ARDS)9 auf der Intensivstation lag. Die Frau wur­de an die künstliche Beatmungsmaschine angeschlossen, ohne dass ihr klar war, wie schlecht es um sie steht. Er schrieb: «Jetzt hat man sie wach werden lassen, gibt ihr mit ECMO10 eine Sauerstoffbehandlung und hofft, dass sie sich aus dem Leben verabschieden kann. Weder sie noch ihre Familie scheinen darauf vorbereitet zu sein, und ich soll alle dabei unterstützen. Das ist ein Paradebeispiel für den Tod, der einem mit Hilfe der modernen Medizin bevorstehen kann – ich weiß nicht, wie man es hätte vermeiden können.»

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9783038552017
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