Читать книгу: «Was Sara verbirgt», страница 2

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3

Noch bevor ich um die Ecke biege, höre ich Wasser plätschern.

Das Haus ist rot, mit weiß umrahmten Fenstern. Ich bin hier schon oft vorbeigegangen. In dieser Straße, der ersten links hinter der Brücke, kenne ich ziemlich viele Leute. Ich sehe seinen Rücken vor dem Auto, das frisch gewaschen glänzt, während er den Wasserstrahl noch einmal darüber hinweggleiten lässt.

»Du!«, sage ich, nicht etwa Hallo, auch nicht Entschuldige, aber wofür hätte ich auch um Entschuldigung bitten sollen? Ich sage nicht Klemet, sondern du. So frech und unpersönlich wie nur möglich. Papa hat Máhtte einige Male zurechtgewiesen: So redet man nicht mit den Leuten. Es fühlt sich wunderbar an, auf die Manieren zu pfeifen. Ich habe es nicht nötig, umgänglich und höflich zu sein.

Er dreht sich um, einen Augenblick lang bin ich verwirrt, dann bin ich nur noch erleichtert. Das ist gar nicht Klemet, das ist sein großer Bruder. Das hätte ich mir ja gleich denken können. Schließlich ist das sein Auto. Klemet hat ja noch gar keinen Führerschein. Und sein großer Bruder Jonas ist ein ganz anderes Kaliber als dieser Blödmann Klemet. Ich erinnere mich an damals, als ich auf dem Heimweg entdeckte, dass mir jemand, höchstwahrscheinlich Anne-Biret, Milch in den Schulranzen gekippt hatte. Ich stand an der Brücke und flennte, damals muss ich neun oder zehn gewesen sein. Jonas kam vorbei und sah mich erstaunt an. Und obwohl er damals schon ein Teenie war und viel zu cool, um sich um eine heulende Rotznase wie mich zu kümmern, blieb er stehen und half mir. Er kramte Papiertaschentücher hervor, wischte das Schlimmste auf und meinte, nur feige Idioten täten so etwas. Ich solle am nächsten Tag einfach mit erhobenem Kopf in die Schule gehen und so tun, als sei nichts geschehen. Mir wäre wirklich lieber gewesen, wenn Sara und Jonas ein Paar geworden wären, und nicht Sara und der mürrische Klemet. Zum tausendsten Mal denke ich: Was sieht sie nur in ihm? Ich habe sie mal direkt gefragt, und da hat sie geantwortet: Man kann gut mit ihm reden. Das klang nicht sehr überzeugend. Wenn sie sich doch nur jemand anderen ausgesucht hätte, dann würde ich jetzt neben ihr im Klassenzimmer sitzen, sie würde fleißig mitschreiben, und ich weniger fleißig.

»Na, ist das nicht die Schwester von Máhtte?«, erkundigt sich Jonas freundlich und fährt sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar.

Nächstes Mal, wenn Máhtte irgendeinen Unsinn anstellt, werde ich die Gelegenheit ergreifen und ihm die Ohren langziehen. Ich höre seinen Namen tatsächlich öfter als meinen eigenen. Und irgendwie ist das seine Schuld. Wenn er wüsste, wie sehr mich das ärgert, würde er sich riesig freuen. Dieser affige Kerl spielt immer gerne den Überlegenen.

»Ist Klemet da?«, frage ich.

Jonas schneidet eine Grimasse.

»Ach der«, sagt er, »ich glaube, der schnarcht noch. Wenn er freihat, steht er erst zum Abendessen auf.«

Jonas lacht kurz über seinen Bruder. Meine Wut kriegt einen leichten Dämpfer. Er redet über Klemet, als wäre er ungefährlich, fast ein lieber Kerl. Jetzt lächelt er auch noch.

»Aber mach einfach die Tür auf und ruf ihn.«

Ich nicke.

»Du bist doch die Freundin von seiner Braut, nicht wahr?«, sagt er dann.

»Ja«, erwidere ich.

Endlich ist Máhtte vergessen, denke ich.

»Geh einfach rein und weck ihn.« Jonas blinzelt mir zu, nimmt dann einen Abzieher und fährt damit über die nasse Windschutzscheibe. »Und wenn er nicht reagiert, dann komme ich selbst und schleife ihn aus dem Bett … Das ist ja kein Zustand! Er ist zu alt, um die Tage zu verschlafen.«

Nervös gehe ich weiter. Ich versuche, zu meinem Ärger von vorhin zurückzufinden. Wenn der Bruder mehr wie Klemet gewesen wäre, würde mir das leichter fallen.

Ich öffne die Haustür und latsche ins Haus. Jetzt traue ich mich nicht, noch mal einfach nur »Du!« zu rufen.

»Klemet!«, rufe ich.

Keine Antwort.

Idiot, denke ich. Feigling, denke ich. Die Wut ist wieder da.

»Klemet, bist du da?«

Eine verschlafene Stimme aus einer halb offenen Tür am Ende der Diele.

»Ja?«

Zögernd gehe ich auf die Tür zu. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Und es wäre mir peinlich, wenn er halb nackt oder, noch schlimmer, ganz nackt wäre.

»Ich bin’s, Lajla.« Ich versuche, ihn zu warnen.

Ich höre Schritte. Nackte Füße, vermute ich. Dann steht er plötzlich in der dunklen Diele mit haarigen Jungenwaden, in Boxershorts und einem garantiert geerbten verwaschenen T-Shirt, auf dem Metallica steht.

»Was willst du denn hier?«, fragt er.

Ich begreife wirklich nicht, was Sara in ihm sieht. Sein Gesicht, die Pickel auf seiner Stirn, die krumme Haltung. Er ist alles andere als umwerfend und charmant.

»Da musst du noch fragen?«, sage ich ungeduldig, weil ich zur Sache kommen will.

»Ja?«

Seine Stimme ist zu hoch, obwohl er seinen Stimmbruch schon längst hinter sich haben muss. Sie klingt wie die eines kleinen Jungen.

»Was hast du mit Sara angestellt?«, frage ich und trete einen Schritt auf ihn zu.

»Hä? Hast du etwa mit ihr geredet?«

Einen Augenblick lang sieht er verwirrt aus. Dann fährt er fort:

»Kannst du ihr sagen, dass sie verdammt noch mal meine Nachrichten beantworten soll!«

»Kapierst du nicht, warum sie nicht antwortet?«, frage ich, und jetzt zittern meine Arme, während ich die Hände zu Fäusten balle. »Du hältst dich wohl für besonders tough, wenn du auf ein Mädchen losgehst, das einen halben Meter kleiner ist als du? Das ist so verdammt feige, dass ich einfach …«

Klemets Gesicht sieht seltsam aus. So verändert.

Seine Augenbrauen sind bis zum Haaransatz gewandert.

»Losgehen? Was soll das?«, murmelt er. »Behauptet Sara, dass ich auf sie losgegangen bin? Verdammte Scheiße! Erst taucht sie am Samstag einfach nicht auf, und dann läuft sie rum und sagt, dass …«

Ich stutze.

»Sie ist am Samstag gar nicht bei dir gewesen?«

Klemet schüttelt so nachdrücklich den Kopf, dass sein fettiges dunkles Haar hin und her fliegt.

»Bist du sicher?«, frage ich.

»Hundertzehn Prozent.«

Ich starre ihn an. Versuche herauszufinden, ob er lügt oder nicht. Dass er im Prozentrechnen noch schlechter ist als ich, lasse ich auf sich beruhen.

Es ist unmöglich, seine Miene zu deuten. Ein Rätsel, wie sich Sara in dieses finstere Gesicht verlieben konnte. Man kann gut mit ihm reden, von wegen.

Dann drehe ich mich um und gehe. Obwohl mir Klemet hinterherruft, drehe ich mich nicht um.

»He! Du! Sorg dafür, dass Sara antwortet!«

Jonas und das Auto sind weg, als ich aus der Tür trete. Eigentlich bin ich erleichtert, denn ich habe jetzt keine Lust auf Konversation.

Ich gehe zur Auffahrt, irgendwas stimmt nicht. Ich habe das Gefühl, dass noch jemand da ist. Jonas ist weg. Das Auto auch. Aber ich spüre noch jemanden. Das Haus liegt am Fluss. Vielleicht habe ich ja am anderen Ufer aus dem Augenwinkel etwas wahrgenommen. Ich schaue hinüber, nehme aber plötzlich eine Bewegung seitlich wahr. Schnell drehe ich mich um. Es muss auf der anderen Seite des Zauns gewesen sein. Das rote Haus, in dem der Arzt des Ortes, der aus dem Süden, wohnt. Eine Gardine hat sich bewegt. Das kann nicht der Arzt sein, weil der im Gesundheitszentrum ist, aber ich weiß natürlich, dass er eine Familie hat. Seine Frau arbeitet in der Gemeindeverwaltung, und der Sohn geht in unsere Klasse. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn heute vor der Schule gesehen habe. Sicher hat er das Zimmer im ersten Stock, in dem sich die Gardine bewegt hat.

Er heißt Ulrik.

Niemand aus dem Ort hätte sein Kind Ulrik getauft. Ein solcher Name riecht nach Häusern im Alpenstil mit Apfelbäumen und nicht nach Mückennetzen und Schnee-Scootern.

Ich betrachte das Fenster und zögere. Von dort aus bietet sich eine gute Aussicht auf den Platz, auf dem ich stehe. Wenn Klemet lügt und Sara doch hier war, dann ist es nicht unmöglich, dass die Person im ersten Stock sie gesehen hat. Insbesondere Ulrik, der, seit er in der Neunten hierhergezogen ist, kaum Freunde gefunden hat, denke ich.

Soll ich? Soll ich nicht?

Ich habe keine Blume, deren Blütenblätter ich abzupfen könnte, um zu einer Entscheidung zu kommen. Also entscheide ich selbst.

Ich soll.

Für Sara, denke ich, aber ich weiß, dass es genauso für mich ist.

4

Ich klingle und versuche mir in Erinnerung zu rufen, was ich über Ulrik weiß.

In der Mittelstufe hat er die norwegische Klasse besucht, während ich in der samischen war. Ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt, bevor wir in der weiterführenden Schule in derselben Klasse gelandet sind. Mir sein Gesicht vorzustellen, ist nicht ganz einfach, weil ich ihn nie sonderlich beachtet habe. Er gehört zu den Leuten, die nur wenig sagen, sich selten im Unterricht melden und rot werden, wenn man Hallo sagt. Schüchtern, denke ich. Blondes, farbloses Haar. Ebenso farblose graue Augen. Er hält sich an Gleichgesinnte. Ich glaube, sie verbringen ihre Zeit mit Gaming. Auf dem Fußballplatz habe ich ihn noch nie gesehen, aber besonders untrainiert wirkt er auch nicht. Ob er okay ist? Keine Ahnung.

Ich starre auf die Tür.

Seit ich geklingelt habe, sind mehrere Minuten vergangen, aber kein Anzeichen, kein Geräusch deutet darauf hin, dass die Person kommt, die sich dort drinnen versteckt und die mit ziemlicher Sicherheit Ulrik heißt. Ich merke, dass ich wütend werde. Ist er so schüchtern, dass er sich nicht an die Tür traut?

Ich klingle ein weiteres Mal und halte meinen Finger lange auf dem Knopf, damit Ulrik nicht so tun kann, als hätte er es nicht gehört.

Es dauert einen Augenblick, dann höre ich Schritte.

Ulrik öffnet mit hochroten Wangen. Sein Haar ist recht kurz geschnitten, von einer Frisur kann aber eigentlich keine Rede sein. Er wirkt fast wie ein junger Mann, der nur darauf wartet, alt zu werden und die dazwischenliegenden Jahre zu überspringen. Von fünfzehn zu fünfundvierzig ohne die Revolte und das Chaos dazwischen. Vermutlich denke ich das nur, weil er mich an seinen Vater erinnert, der um die fünfundvierzig sein muss.

»Hallo«, sagt Ulrik so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich das Wort höre oder nur von seinen Lippen ablese. Also doch nicht ganz der Vater, denke ich. Ich erinnere mich an seinen festen Händedruck bei meinem letzten Arztbesuch.

Ich überlege mir, ob ich ihn fragen soll, warum er nicht beim ersten Klingeln geöffnet hat, aber das wäre vermutlich nur Zeitverschwendung. Wenn ich ihn positiv stimmen will, muss ich behutsam vorgehen.

»Du bist nicht in der Schule?«, frage ich.

Ulrik hüstelt. Also krank, denke ich. Ein ärztliches Attest ist sicher problemlos zu bekommen, wenn man mit dem Arzt des Ortes unter einem Dach wohnt.

»Grippe«, fügt Ulrik leise hinzu.

Ich finde nicht, dass er so krank aussieht, aber ich bin auch kein Lehrer. Es geht mich nichts an, wenn er simuliert. Ich gehe nicht von Tür zu Tür, um zu kontrollieren, ob krankgemeldete Schüler einen triftigen Grund haben, zu Hause zu bleiben. Es geht nur um Sara, ganz allein um Sara. Ein paar Antworten, dann bin ich schon zufrieden.

»Du Ärmster«, sage ich. »Hoffentlich geht es dir bald besser.« Erst mal gute Manieren zeigen, denke ich. Das macht sich immer gut. Und dann:

»Hör mal, Ulrik«, sage ich und versuche freundlich und harmlos zu lächeln. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht, aber immerhin wagt er es endlich, mir in die Augen zu schauen.

»Ja?«

»Warst du Samstagnachmittag und -abend zu Hause?«, frage ich.

»Letztes Wochenende?«, will er wissen, und sein Adamsapfel macht einen kleinen Satz. Fast nervös, denke ich.

»Ja.«

Ulrik starrt zu Boden.

»Doch. Ich war hier.«

Es klingt, als hätte er ein wenig den Dialekt der Gegend angenommen. Weniger Südnorwegen, mehr Karasjok. Vielleicht ist er ja doch integrierter, als ich dachte.

»Dann warst du in deinem Zimmer? Das ist doch oben im ersten Stock?«

Überrascht schaut er hoch: »Und wenn?«

»Hast du gesehen, ob Sara zu Besuch war? Du hast doch von hier einen guten Blick auf Klemet und die?«

In seinen Augen regt sich etwas. Sie haben etwas von einem Tier. Wachsam? Oder verängstigt? Ich kann diesen Blick nicht deuten.

»Ich hab’ nichts gesehen«, sagt er abrupt.

»Aber gehört?«, frage ich.

»Frag Sara doch selbst«, erwidert er, dieses Mal fast pampig.

Seine Wangen sind wieder hochrot.

»Mach ich auch«, lüge ich. »Aber kannst du es mir nicht einfach sagen? Ob du sie gesehen hast?«

Er verschränkt die Arme und tritt fast unmerklich einen Schritt zurück.

»Kann mich nicht erinnern«, sagt er.

Ich runzle die Stirn. Was ist bloß los mit ihm? Das ist keine Antwort. Meine Fragen bewegen sich ja nicht gerade auf Mathe-Abiturniveau. Trotzdem sieht er aus wie jemand, der nicht abgefragt werden will.

»Das ist erst zwei Tage her, und du willst dich an nichts erinnern?«, sage ich.

»Keine Ahnung.«

Ulrik zuckt mit den Schultern und weicht noch mehr zurück.

Dafür trete ich energisch einen Schritt vor, stelle einen Fuß auf die Schwelle und sehe ihn durchdringend an. Mit so fester Stimme wie möglich sage ich:

»Hast du sie gesehen oder nicht?«

Ulrik schluckt.

»Nein«, sagt er.

»Jetzt erinnerst du dich also plötzlich?«

Ich sehe ihn mit demselben Blick an, den ich auch bei Máhtte anwende, wenn an einem Samstagabend kein Popcorn im Küchenschrank ist, und er hebt die Arme, um seine Unschuld zu demonstrieren. Ich will ihn schon fragen, warum er sich so seltsam benimmt, aber er ist schon wieder auf dem Weg ins Haus.

»Ja, ja, jetzt erinnere ich mich«, sagt er und zieht die Tür hinter sich zu.

Ich kann ihm gerade noch »Gute Besserung« hinterherrufen, bevor die Tür ins Schloss fällt.

Dann starre ich einen Augenblick auf das Türschild: »Hier wohnen …« Ich lese die Namen, ohne sie eigentlich zu begreifen, und überlege, warum ich das Gefühl habe, dass nichts von dem, was er gesagt hat, stimmt.

5

Sara erwartet mich auch am Dienstagmorgen nicht vor der Schule.

Ich schaue mich um und fische mein Handy aus der Tasche. Ich tippe gerade eine Nachricht, als ich meinen Namen höre: »Lajla? Hallo!«

Saras Stimme. Ich schaue mich verwirrt um und entdecke sie erst in der Menge, als sie übertrieben mit den Armen fuchtelt. Ich begreife überhaupt nichts. Ja, rein technisch gesehen ist das Sara, aber nur rein technisch. Auf alle anderen Arten gesehen, ist sie es nicht. Sie trägt eine Daunenjacke, die ihr vier Größen zu groß sein muss. Ich habe vermutlich gedacht, dass da ein Vertretungslehrer steht, der sich verlaufen hat, als mein Blick über sie hinweggeglitten ist. Denn ihre Klamotten wirken überhaupt nicht jugendlich.

»Hallo«, erwidere ich unsicher.

Ich spüre, dass ich etwas über die Jacke sagen sollte, weiß nur nicht, was. Ich habe noch nie darüber nachdenken müssen, was ich zu Sara sagen soll. Das kam immer von selbst. Aber jetzt versiegen die Worte irgendwie, bevor ich sie überhaupt zusammenfügen kann. Sara geht ein paar Schritte auf mich zu. Andere haben wohl ähnliche Gedanken gehabt, denn jetzt dreht man sich nach ihr um, auch Anne-Biret, die unverhohlen die Augen verdreht. Ihre Clique steckt die Köpfe zusammen. Ich schlucke.

»Hast du mich nicht gesehen?«, fragt Sara.

»Nein, ich …« Ich zögere. »Du hast doch sonst den roten Mantel an, weißt du.«

Sara schaut an sich runter, als würde sie das hässliche Kleidungsstück jetzt erst bemerken. Ich begreife das nicht. Sara beklagt sich sonst immer über mich und sagt, dass ich nicht in Trainingsklamotten zur Schule gehen könne. Ich müsste mich schon ein wenig anstrengen, um nicht vollkommen den Anschluss zu verlieren. Und jetzt hat Sara eine Jacke angezogen, in der sie aussieht, als würde sie auf der Straße leben. Glaube ich jedenfalls. Niemand in Karasjok wohnt auf der Straße. Es handelt sich also um eine reine Mutmaßung auf Grundlage von Fernsehserien. Ich nehme an, dass sich selbst manche Obdachlose weigern würden, diese Jacke zu tragen.

»Die andere ist in der Wäsche«, sagt Sara rasch und versucht zu lächeln, aber das Lächeln reicht nicht bis zu ihren Augen.

»Ist die von deiner Tante?«, frage ich und versuche etwas, was ich nur ganz schlecht kann: raten. Ich will ihr eigentlich nur an den Kopf werfen: Das sieht nicht gut aus, Sara. Aber da ist etwas in ihrem Blick. Es ist nicht der normale, scharfe, unverwundbare Sara-Blick, der Anne-Biret und den Jungs in der Klasse mehr als einmal das Maul gestopft hat. Er ist auch nicht verletzlich, sondern gewissermaßen auf der Hut. Er gleitet hin und her. Ich begreife nicht, was los ist. Ist seit gestern noch mehr passiert?

»Nein, von meinem Onkel, glaube ich«, antwortet sie leise.

»Gab es denn keine andere?«, frage ich und suche nach einer diplomatischen Formulierung. »Eine, die mehr deiner Größe entspricht, meine ich?«

Ich versuche, nicht frech zu klingen. Wäre heute ein normaler Tag gewesen, dann hätte ich irgendwas Ironisches abgelassen, z. B. dass sie aussieht wie eine Landstreicherin und riskiert, als abwesend eingetragen zu werden, obwohl sie da ist. Ich versuche, mir einen Witz einfallen zu lassen, aber mir fallen nur Dummheiten ein, wenn ich sie ansehe, Sara – die meinen Blick nicht erwidert, sondern in alle anderen Richtungen gleichzeitig schaut.

»Nein, habe nur die hier gefunden«, sagt sie leise und dreht sich halb zur Seite, als jemand vorbeigeht.

Es ist Lásse, nicht sonderlich groß, aber blond. In der Achten und Neunten war ich unglücklich verliebt in ihn. Jetzt weiß ich es besser. Jetzt weiß ich, dass er ein selbstgefälliger Idiot ist. Und das sehe ich wieder bestätigt: Als er an Sara vorbei ist, dreht er sich um und sagt grinsend:

»Wo hast du denn die gefunden? Es ist doch noch gar nicht Halloween?«

Ich warte darauf, dass Sara antwortet, dass sie sagt, dieser Witz hätte schon vor zehn Jahren sein Verfallsdatum überschritten oder dass er gar keine Halloween-Maske brauchte oder irgendetwas anderes Witziges und Vernichtendes. So wie sie das immer tut. Aber Sara starrt nur auf ihre Schuhspitzen. Wortlos. Ich will sie an den Schultern packen und schütteln. Hallo, Sara, hallo, hallo? Hörst du, was dieser Schwachkopf da zu dir sagt?

Wir werden vom Gong gerettet. Es klingelt zur ersten Stunde. Sara geht vor mir her. Da ist plötzlich eine Hand auf meiner Schulter.

»Lajla?«

Ich drehe mich um. Sara auch. Verschreckter Blick, obwohl niemand sie angefasst hat.

Es ist Issat, der sowohl Sportlehrer als auch Fußballtrainer ist. Er ist nicht sonderlich groß und ziemlich kahlköpfig, aber super durchtrainiert. Ein wenig Bart am Kinn und auf der Oberlippe soll das, was oben fehlt, ausgleichen. Er macht eine Handbewegung in Saras Richtung.

»Geh schon mal rein, Sara. Ich muss mit Lajla rasch ein Wort wechseln«, sagt er.

Das klingt ernst. Widerwillig folgt Sara den anderen ins Gebäude. Ich frage mich als Allererstes, ob es was mit meinem Fehlen am Vortag zu tun hat. Ich räuspere mich und suche nach einer guten Erklärung. Attest habe ich keins. Aber Issat lächelt.

»Beim Norway Cup im Sommer ist es doch richtig gut gelaufen?«, fragt er.

Verwirrt sehe ich ihn an.

»Was? Ja, klar.«

Der Sommer kommt mir ganz weit weg vor. Fast so, als läge das alles ein Jahr zurück und nicht nur knappe zwei Monate. Issat trainiert auch Máhtte und seine Mannschaft, die das ganze Turnier gewonnen haben. Nicht etwa wir. Wir sind natürlich schon im Viertelfinale rausgeflogen. Unsere Torwartin hat daraufhin alles hingeschmissen. Die Spiele danach liefen so schlecht, dass ich fast selbst die Lust verloren habe. Aber ich schieße noch immer jedes Mal ein Tor.

»War schon okay«, meine ich noch. »Aber Máhtte hat besser abgeschnitten.«

Issat zuckt mit den Achseln.

»Da hat die gesamte Mannschaft ein besseres Niveau«, sagt er. »Aber ihr seid ja weit gekommen, Lajla. Und beim A-Endspiel auch.«

»Schon möglich«, meine ich und schaue auf die geschlossene Schultür. Ich habe Lust, ihn zu fragen, ob wir nicht irgendwann, wenn mehr Zeit ist, über den Sommer sprechen können. Der Geschichtslehrer will vor der Klausur das Kapitel noch einmal durchnehmen, und ich habe noch eine Unmenge Fragen. Fast unprofessionell, denke ich, Schüler auf diese Art aufzuhalten. Ich werde garantiert ausgeschimpft. Issat folgt meinem Blick.

»Keine Panik. Leif weiß, dass ich noch mit dir rede«, sagt er.

Ich runzle die Stirn.

»Ach?«

Issat lächelt. Ein breites Lächeln. Er hat blitzend weiße Zähne. Das ist mir noch nie so aufgefallen.

»Ich habe gestern einen Anruf aus dem Süden bekommen«, sagt er.

Ungeduldig stochere ich mit der Schuhspitze zwischen den Waschbetonplatten.

»Und?«, sage ich und überlege, ob mir Sara das Pult neben sich freigehalten hat. Sie versteht hoffentlich, dass es nicht so lange dauern wird.

»Du bist denen auch aufgefallen«, sagt er.

»Wem?«, frage ich und schaue hoch, die Unterhaltung hat plötzlich eine Richtung eingeschlagen.

»Sie haben dieses Viertelfinale gesehen«, erwidert er.

»In dem wir rausgeflogen sind?«, frage ich.

»Du hast drei Tore geschossen«, meint Issat. »Nicht deine Schuld, dass ihr vier Bälle durchgelassen habt.«

»Aber«, sage ich, und habe doch eigentlich keine Einwände. Issat hat ja recht. Nur Papa redet davon, dass ich meine Verteidigung verbessern und mehr mit dem Mittelfeld arbeiten muss. Nach diesem Spiel hat er mit so vielen Analysen und Weisheiten aufgewartet, dass ich meine Tore fast vergessen habe. Drei Stück.

»Die wollen dich bei dem Auswahlspiel dabeihaben«, sagt Issat.

»Auswahlspiel?«, wiederhole ich.

Langsam wird es lächerlich. Ich wiederhole mehr als jedes zweite Wort. Stehe da wie eine Irre und starre ihn an. Sag es schon, denke ich, raus mit der Sprache. Issat redet so langsam.

»Für die Nationalmannschaft nach Altersgruppen«, sagt er.

»Oh«, sage ich. Diesmal ein eigenes Wort, nicht nur ein Echo.

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich mit dir reden werde, dass ich aber davon ausgehe, dass du dir das vorstellen kannst«, sagt er.

»Ja!«, sage ich. »Ja, ja, ja!«

Issat nickt. Offenbar ist er zufrieden mit meiner Reaktion.

»Aber rede erst mit deinen Eltern und gib mir dann Bescheid. Wir müssen das in der richtigen Reihenfolge angehen«, lächelt er. »Mich wundert, dass sie nicht schon früher auf dich aufmerksam geworden sind. Du hast wahnsinniges Talent! Aber geh jetzt in die Stunde, Lajla. Und sage Sara Grüße von mir und dass ich das am Samstag bedaure!«

Erst als ich in der Geschichtsstunde bin und am Pult sitze, geht mir auf, was die letzte Bemerkung bedeutet. Bedauern und Samstag. Ich starre auf die Tür und will wieder nach draußen rennen, um Issat zu packen und zu fragen, was er verdammt noch mal damit gemeint hat. Aber Sara, die mir einen Platz frei gehalten hat, sieht mich fragend an.

»Was wollte er?«

Und ich denke, dass ich das auch gerne wüsste.

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