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Читать книгу: «14 Falken», страница 2

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III



Gwen hat nicht oft One-Night-Stands. Aber oft genug, um zu bemerken, dass sie die Angewohnheit hat, vor ihnen aufzustehen. Da es meistens in ihrer Wohnung endet, ist ihr das ganz recht. Niemandem zu vertrauen ist keine Bürde, sondern ein Privileg, findet sie und beschließt, sich nur kurz abzuduschen, damit der Falke so wenig Zeit wie möglich hat, zwischendurch aufzuwachen. Noch liegt sie friedlich auf dem Bauch und döst mit leicht geöffnetem Mund und rissig geküssten Lippen vor sich hin, blassbraune Haut und Haare wie ein Wildkräuterbusch, als würde ihr seltsamer Geruch darin wachsen. Gwen war das beim ersten Kuss aufgefallen. Er schmeckte erdig. Sie beugt sich unauffällig zu der Kleinen vor, als sie aufsteht. Sie kennt kaum Kräuter beim Namen, aber das, wonach sie riecht, muss tief im Wald an Rändern von Mooren wachsen und mit seinen Wurzeln den Morast bis in die Blätter saugen.

Ihre Brille liegt auf dem Nachttisch. Die Moorleiche muss sie hüten wie einen Schatz, denn es war das einzige, das Gwen ihr am Vorabend nicht achtlos vom Körper reißen durfte. Gwen erinnert sich daran, ihre Unterhose neben ihr Bett fallen gelassen zu haben, steht auf und zieht sie an, nur, um nicht nackt zu sein. Sie blinzelt gegen die Sonne, die sich in den Morgenstunden ungefragt durch ihr Fenster einlädt und das Bett wärmt. Sie mag die Ausrichtung ihrer Fenster, auch, wenn es in der Küche so fast immer dunkel ist. Aber in der Küche liegt sie auch nicht faul in der Morgenwärme, bis sie nur noch eine Viertelstunde hat, um pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Sie überfliegt das Chaos achtlos und sucht nach ihren Klamotten. Ihr Magen zieht sich vorwarnend zusammen, knurrt aber nicht. Und selbst wenn, der Falke scheint einen verdammt tiefen Schlaf zu haben. Jedenfalls stört sie weder, dass das Bett knarrt, als Gwen aufsteht, noch das Rascheln der Klamotten, die sie sich unter den Arm klemmt, oder das Klingeln der Gürtelschnalle ihrer Hose. Zumindest denkt sie, es sei ihre Hose, bis sie sich erinnert, keine blaue Jeans getragen zu haben. Gwen möchte sie einen Schritt weiter auf das T-Shirt ihrer Übernachtung werfen, doch etwas rutscht aus der Hosentasche und fällt tonlos auf den Teppich. Gwen starrt das Tütchen an. Sie will den Kopf darüber schütteln, denn entweder hat der Falke Backpulver geklaut oder ist bescheuert genug, ihr Koks offen mit sich rumzutragen. Gwen sieht die Hose an, dann wieder das Tütchen und schmeißt die Jeans schließlich von sich. Das Pulver ist luftdicht verpackt. Ungeöffnet. Vermutlich gestrecktes Zeug, rät Gwen und schielt zu ihrer Übernachtung. Die schläft noch immer. Gwen beschließt, es sei nur Teil ihres Jobs, wenn sie die Tüte konfiszieren würde, immerhin ist sie nicht für nichts Polizistin geworden. Sie zuckt mit den Schultern und verzieht sich mit Klamotten und Neuschnee ins Badezimmer. Die Kleidung lässt sie achtlos neben den Mülleimer fallen, schließt die Tür von innen ab – sollte die Prinzessin auf die Idee kommen, ihr beim Waschen helfen zu wollen – und stellt die Dusche an. Der Wasserdampf beschlägt den Spiegel, bis auf eine Schmierspur, von der Gwen nicht mehr weiß, woher sie kommt. Wenn sie frontal davorsteht, zieht sie sich einmal genau über ihren Hals. Gwen kramt nach einer Nagelschere, die sie nicht mehr benutzt, seit sie einen Knipser hat und schneidet mit ihr vorsichtig das zugeklebte Tütchen auf. Sie schiebt ein wenig Pulver auf der Ablage zusammen und starrt es an, bis es zu nass ist, um es ordentlich zu schnupfen. Nur, weil etwas gratis ist, ist es nicht gleich gut, beschließt sie und schiebt es von der Ablage in den Abfluss, aus den Augen, aus dem Sinn, wie einen One-Night-Stand. Und der hat meistens sogar noch weniger Langzeitfolgen.

Gwen duscht nicht so lange, wie sie gerne würde, um sich überall zu waschen. Sie riecht jetzt nach offenen Poren, Unschuld und Nivea Sport. Und ihre Klamotten riechen dafür stechend sauer, aber Gwen wirft sie sich trotzdem über. Sie müssen es für ein Frühstück und das seltsame Gespräch danach noch tun, dann kann sie sich umziehen, ohne von ihrer Paranoia gehetzt zu werden. Gwen rubbelt sich mit dem Handtuch trocken wie ein Rennpferd, hängt es wieder an den Haken und verlässt das Bad. Sie hätte die Tür gerne im Wohnzimmer, aber irgendjemand mit fragwürdigem Hang zur Avantgarde, der gerade erst den B.A. In Architektur erworben hatte, hat sich gedacht, dass moderne Großstädter im Schlafzimmer gerne direkten Zugang zu Abstellkammer und Bad hätte.

Gwen hat erwartet, dass der Falke inzwischen vom Duschgeräusch wachgeworden ist. Und wenn nicht davon, dann von der Straßenreinigung, die inzwischen lauter piept als die Vögel im Baum vor dem Fenster. Vielleicht hätte Gwen einen weichen Moment gehabt, in dem sie die Kleine gefragt hätte, was von beidem es war.

Aber das Schlafzimmer ist leer.

»Wo bist du?«, fragt sie und stellt fest, dass die Brille fehlt. Jetzt sucht sie nach dem Haufen aus Hose und Shirt, doch beides ist weg. Durch die Nase schnaubend geht sie zur Wohnzimmertür. War die gestern Abend schon angelehnt gewesen?

»Bist du da?«, fragt sie nochmal und hat für einen Moment Panik und eine unwillkommene Vorfreude zugleich bei dem Gedanken, dass das Schönchen vielleicht Frühstück machen könnte.

Je näher ein Morgen einer RomCom mit Julia Roberts kommt, desto schlimmer ist er für Gwen. Die Bindungsängste hat sie sich nicht ausgesucht, aber sie trägt sie trotzdem meistens wie ein leuchtendes Warnsignal vor sich her. Vermutlich hat der Falke das bemerkt, denn sie ist verschwunden. Dabei hätte ihre warme Haut dem kühlen Morgen gutgetan. Gwen fühlt sich einer Chance beraubt, die sie nicht genutzt hätte.

Sie schließt das Fenster und reibt sich das Gesicht. Dann sieht sie noch mal auf das leere Bett und flucht. Mitten darauf, halb verdeckt von knittrigen Laken, liegt ihr Geldbeutel. Schnell geht sie den Inhalt durch. Ausweis, Führerschein, EC-Karte, Versicherungskarte, irgendeine Kundenkarte, die sie schon ewig wegschmeißen will und ihr Dienstausweis. Die Ratte hat ihn gar nicht übersehen können, aber ist trotzdem mit dem Bargeld verschwunden.

»Scheiße«, flucht Gwen und wirft ihren Geldbeutel zurück auf die Matratze.

Der Falke muss ihre Jacke durchsucht haben, als sie Duschen war. Ihre Jacke!

Die offene Schranktür. Dahinter liegen Klamotten ordentlich gefaltet, ihre farblosen Shirts über der Dienstkleidung neben den Sportsachen. Darauf hängt nichts mehr. Gwens Nase zuckt.

»Dieses verdammte Miststück.«

IIII




»Dieses verdammte Miststück«, fluche ich.

Kid nimmt sich mäßig interessiert einen Kopfhörer aus dem Ohr. »Was, hat sie nicht zurückgerufen?«

Ich blase Luft durch die Nase aus und kontrolliere noch mal alle vier Hosentaschen und die der Jacke, falls ich vergessen habe, dass ich umgepackt habe. Jesse beobachtet mich dabei, grinst und schmiert sich Lippenstift an die Zigarette.

»Die hat mir mein Zeug geklaut«, rufe ich dann, als ich mir sicher bin.

Jesse lacht. Kurz und auf diese schrille RTL II-Weise, die ich nicht leiden kann. Ob Kit lacht, weiß ich nicht, weil sich der Feigling zwei Schritte aus dem Tunnel verzieht, um seine Kippe auszudrücken. Ich fange Simons Blick. Simon sagt nie viel, aber denkt umso mehr. Das sieht man in seinen kleinen, dunklen Raubfischaugen, die unaufhörlich zucken, auch, wenn er sich nur auf einen Punkt konzentriert. Würfelblick, kann auch sein. Als Kit zurückkommt, sehe ich ihn breit grinsen.

»Das ist nicht witzig, das war teuer«, knurre ich.

»Wer austeilt, muss auch einstecken können, Taylor«, zitiert Kit altklug.

»Auf welchem Shirt hast du das denn gelesen?«, gifte ich und suche noch mal, hauptsächlich, um meine Hände zu beschäftigen.

Jesse macht sich nicht die gleiche Mühe wie Kit und wirft ihre Zigarette einfach vor sich auf den Boden. Feiner Rauch steigt zwischen unseren Gesichtern auf und vermengt sich mit der Wolke unter der Tunneldecke.

»War nur eine Frage der Zeit, bis dir auch mal einer ans Bein pisst.«

»Tut mir fast weh, dir das sagen zu müssen, aber das kannst du nicht bezahlen«, legt Kit drauf und irgendwie habe ich das Bedürfnis, ihm was zu brechen. »Ach, warte mal!« Er schlägt sich gegen die Stirn. Jetzt sitzt seine Cap schief. »Unsere Meisterdiebin hat dem Bullen ja eine verdammte Markenjacke abgezogen. Piss dich nicht ein, davon kannst du dir zwei Tüten leisten.«

Er greift nach dem Kragen und ich ziehe mich mitsamt Jacke zurück. »Fick dich. Ich hab‘ dir schon mal gesagt, dass ich die nicht verkaufe.«

»Und warum nicht?«, fragt Jesse.

Warum nicht. Ich weiß ganz genau, warum nicht. Sie hält warm, aber ist mir noch immer zu groß. Außerdem geht Zigarettengeruch nicht gut aus Leder raus und ich hasse den. Ich trage sie noch immer über meiner eigenen Jacke, so, wie ich Gwens Wohnung verlassen habe und jetzt stinkt sie nicht mehr und nicht weniger als vorher auch schon. Trotzdem sträubt sich in mir alles, wenn ich daran denke, sie zu verscherbeln. Ich brauche sie, aber einen Teufel werde ich tun und versuchen, es Kit zu erklären.

»Weil ich darin verdammt heiß aussehe?«, improvisiere ich also und grinse.

Allgemeines Seufzen. Ich schiele zu Simon, der bassig brummt und rede mir ein, dass wenigstens er mir glaubt. Unauffällig schiebe ich mir die langen Ärmel über die Handgelenke. Sie rutschen sofort wieder runter.

Jesse lehnt sich mit verschränkten Armen an die Wand, genau an meinen Lieblingsplatz zwischen dem Brandfleck und dem Penisgraffiti.

»Wenn du Zeug schnorren kommst, schiebe ich dir das Teil wohin.«

»Mach das nicht, das ist die nicht gewohnt«, ergänzt Kit prustend.

Simon hält sich wie üblich raus und ich hebe eine Augenbraue. Wenn man als Frau auf Frauen steht, muss man für das flache Niveau der Comebacks regelmäßig die Füße heben. Mein wöchentliches Bingo ist damit fast voll, fehlt nur noch die obligatorische Frage nach einem Dreier, gefolgt von einem liebevollen Angebot, mir doch mal zu zeigen, was ein richtiger Mann ist, aber das wird Kit auch noch schaffen. Ich sehe meine Sowas-Wie-Freunde gebildet über den Brillenrand an und habe diesen Look, den sie »sexy Streberin« nennen.

»Wieso müsst ihr eigentlich immer reden wie die letzten Assis? Gibt euch das was, eure Stereotype zu befriedigen?«

Kit verdreht die Augen und schiebt sich seine Cappi zurecht. »Oh nein, sie macht wieder den Streber.«

Ich senke weise den Blick und starre einen Moment auf Simons Chucks. »Der sexy Streber hat noch alle geschafft«, sage ich selbstsicher, obwohl es nicht stimmt. »Ich verrate euch was. Ich gehe mir mein Zeug zurückholen.«

Ich sage das, als sei das nicht sowieso mein Plan gewesen. Als sei das nicht unvermeidlich. Ich muss sie wiedersehen. Es ist ein Muss, das mir unerklärt und unverteidigt in der Kehle sitzt, und vor allem ein Muss, das ich nicht so schnell erwartet habe. Eine nette erste Nacht, drei Wochen Funkstille, dann ein zufälliges Wiedersehen. Aber nicht jetzt.

»Und wie möchtest du das machen?«, fragt Simon, und wir sehen ihn an. »Klingeln und höflich fragen?«

Ich schnaube übertrieben sarkastisch. »Mach dich nicht lächerlich.«


Eine halbe Stunde später stehe ich vor Gwens Tür und will klingeln. Leider habe ich keinen blassen Schimmer mehr, wie sie mit Nachnamen heißt. Mein Gedächtnis funktioniert nur bei ständiger Wiederholung, und ein einziges Mal Ausweis filzen reicht da nicht.

Mein Finger schwebt unschlüssig über ‚Biedermann‘, das klingt so nach ihr. Ich grinse. Gonzales, Lauch, Rivak, Lorenz, Brockmeier/Kasimir, Leiner und ein türkischer Name, den ich nicht aussprechen kann. Irgendeiner wird mich schon reinlassen und mir die tragische Nummer abkaufen, dass mich jemand über Ebay-Kleinanzeigen abgezogen hat und ich ihm jetzt die Leviten lesen gekommen bin oder so was. Ist nicht die authentischste Geschichte, aber die habe ich noch nie ausprobiert.

Und werde das auch jetzt nicht, denn mir schlägt die Tür fast ins Gesicht und wischt meinen Finger von „Rivak“.

»Oh, Entschuldigung«, sagt der Mann hastig und greift ins Leere bei dem Versuch, mich daran zu hindern, die zwei Stufen nach unten zu torkeln.

»Alles gut«, sage ich und wittere meine Chance. »Darf ich rein? Dann kann ich mir das Klingeln sparen.«

»Also eigentlich darf ich das nicht«, antwortet der Mann nachdenklich.

Ich nehme ihn unter die Lupe. Arbeitshose, Fleecejacke und ein Blick bereuter Lebensentscheidungen. Also vermutlich der Hausmeister.

»Ach, Gwen erwartet mich sowieso.« Ich setze alles auf eine Karte und habe Glück.

»Frau Lorenz? Aber die ist gar nicht hier. Ist wieder unterwegs.« Er schlägt diesen Smalltalk-Ton an, den Menschen über 40 oft haben, wenn sie nicht mehr zu reden aufhören wollen. »Sie ist nicht oft da um diese Zeit. Gott weiß, was für Berufe die jungen Leute haben.«

Ich runzle die Stirn, weil dieser Satz ihn so viel älter macht, als er es nötig hätte.

»Oh wirklich?«, frage ich und lächele interessiert.

»Soll ich ihr ausrichten, dass Sie hier waren?«, fragt der Mann.

Ich überlege einen Moment. Dann schaue ich auf das Klingelschild und grinse.

»Ja, bitte.«

»Und wer sind Sie?«

Ich schiebe meine Hände in die großen Jackentaschen und wende mich schon zum Gehen, damit er nicht auf die Idee kommt, noch etwas zu fragen.

»Eine ihrer Affären. Sagen Sie ihr, ich bin die Geschäftsreise nach Osnabrück, sie weiß Bescheid.«

Ich verschwinde.

5




Gwen bezahlt mürrisch 5,34€ für eine Brühe, eine Zeitschrift und eine Packung Kaugummi.

Und wie sie da steht und darüber das Gesicht verzieht, hat sie das Bedürfnis, der Verkäuferin so etwas wie „damals hat das noch viel weniger gekostet“ zu sagen, aber sie ist zu jung für irgendein »damals«, das die blonde Mitt-Dreißigerin nicht kennt. Unzufrieden knobelt sie an den Kordeln ihrer Jacke. Sie ist khaki-farben und sieht ganz ordentlich aus, ist aber nicht ihre Lederjacke. Der Falke hat ihr binnen einer Nacht alles genommen, was ihr heilig ist. Ihre Jacke, ihre gute Laune, ihr Bargeld, das milde Wetter und ihr gutes Verhältnis zu ihrem Hausmeister, der aus irgendwelchen Gründen nur noch fassungslos den Kopf schüttelt, wenn er sie sieht.

Der Pappbecher ist heiß, aber Gwens Finger sind kalt und sie spürt die Hitze erst langsam gegen die Gliederstarre gewinnen. Sie schließt die Augen. Prickelnder, brennender Schmerz kämpft sich durch die Haut ihrer Fingerkuppen. Und greift plötzlich beißend heiß den Rest ihrer Hand an, besonders die empfindliche Stelle zwischen Zeigefinger und Daumen, als jemand Gwen von der Seite anrempelt und einfach weiterhastet.

Gwen zieht scharf die Luft ein, stellt ihren Becher zurück auf den Tresen und schüttelt sich das schon kalte Getränk von der Hand, bevor sie die Stelle ablutscht. Die Verkäuferin bietet ihr eine Serviette an, aber Gwen lehnt ab und sieht dem Wichser mit der Kapuze nach, der um eine Hausecke verschwindet und sich einen Scheiß für die Sauerei interessiert. Die Zeitschrift leistet ungebetene Beihilfe beim Putzen und saugt das braune Getränk in die hauchdünnen Seiten, die sie eigentlich noch lesen wollte. Zum zweiten Mal weist sie die Serviette ab und schnappt sich die Packung Kaugummi und das durchnässte Klatschblatt. Auf dem gewellten Cover lächelt ihr eine gefleckte, verzerrte blonde Z-Promischönheit entgegen. Vielleicht sollte sie noch Zigaretten kaufen, um ihre neue Jacke einzuweihen, aber sie müsste noch drei haben. Und die würden ihre Nerven alleine beruhigen müssen. Sie schiebt sich durch eine Gruppe Männer mit Arbeitshosen, die hinter ihr Schlange stehen und nippt im Gehen an ihrer Brühe. Das Zeug schmeckt, wie sich Gwen vorstellt, dass das Wasser schmeckt, das manchmal zurückbleibt, wenn sie den Restmüllbeutel aus dem Eimer nimmt. Sie entsorgt das widerliche Gebräu im nächsten Abfall. Nach kurzem Nachdenken wirft sie die Blondine hinterher. Ist besser so, Gwen wollte sowieso schon lange mit dem Promiklatsch aufhören, in ihrem Leben ist nur Platz für eine Sucht.

Sie schluckt den Restgeschmack der Brühe herunter und spürt ihre Laune kippen, von der sie nicht erwartet hätte, dass sie noch schlechter werden kann. Scheinbar hat ihr Unterbewusstsein mehr von dieser Suppe erwartet, als Gwen klar war. Kraftspende, guter Geruch, das warm-wohlige Gefühl von Krank-sein-bei-Oma oder wenigstens ein brauchbarer Geschmack. Gwen schiebt ihre Hände in die Hosentaschen.

Sie kommt vom Land. Eines der ersten Dinge, die sie sich in der Großstadt angewöhnt hat, ist der unbarmherzige Scheuklappenblick, der den anderen Passierenden unmissverständlich klar macht, dass “Ausweichen” nicht zu Gwens Wortschatz gehört. Man macht ihr bereitwillig Platz. Sie hasst diese Tage, an denen es wirkt, als würden ihr alle entgegenkommen, aber niemand in ihre Richtung gehen.

»Hast du mal Feuer?«

Gwen erschreckt sich und flucht leise. Der Berufsreflex zieht ihre Muskeln zusammen und sie erwartet, dass ihr Betrunkene ins Gesicht springen oder Jugendliche versuchen würden, Gwen um ihr Bargeld zu erleichtern, damit sie ihnen dann höflich erklären kann, dass schon jemand schneller war, bevor sie ihnen ihren Dienstausweis zeigt. Es ist tatsächlich eine junge Person, aber sie ist allein. Die Kapuze über den braunen Haarschopf gezogen und langbeinig an die Mauer gelehnt wie ein verdammtes Grunge-Model. Und in der Hand hält sie eine zerknitterte Packung Marlboro Gold, aus der drei Zigaretten ragen. Gwen zuckt zu ihren Hosentaschen und klopft sie ab, obwohl sie weiß, dass sie nichts finden wird.

»Du kleine Ratte«, flucht sie, greift nach den Zigaretten, aber fasst ins Leere.

Sofort untersucht sie die Diebin auf ihre Jacke, aber die trägt eine alte Jeanskutte mit grauen Stoffärmeln. Abschätzend verfolgt sie Gwens Blick ihren Oberkörper entlang und kommt zu dem falschen Schluss, denn sie grinst anzüglich.

»Nah, wenn du eine Kippe willst, musst du schon höflich fragen, Gwendolin Lorenz.«

Gwen erstickt ihre letzten Worte fast, als sie sie am Kragen packt.

»Du-« Sie unterbricht sich. »Dann lass mich mal höflich nach der Kohle fragen, die du mir geklaut hast. Und woher kennst du meinen Namen?«

Der Falke macht ein paar müde Versuche, sich aus Gwens Griff zu winden. »Kohle? Glaub mir, ich bin eine ehrliche Haut, ich war nicht an deinem Portemonnaie!« Sie hebt verteidigend die Hände. »Und deinen Namen habe ich auf deinem Perso gelesen. Kein sehr einprägsamer Nachname übrigens, du solltest den umschreiben lassen. Was hältst du von Biedermann?«

Das Gesicht der Kleinen ist auf einmal noch viel, viel reizvoller als am ersten Abend. Findet jedenfalls Gwens Faust. Das Gesicht faselt etwas von Dienstausweis und Gwen hätte ihr gerne gesagt, dass sie das nicht aufhält. Im Gegenteil, mit so einem Wisch in der Tasche glauben die auf dem Revier einem viel, und anscheinend rechnet die Diebin nicht damit, dass Gwen diese Macht missbrauchen würde. Obwohl Gwen sehr versucht ist, ihr auf der Stelle das Gegenteil zu beweisen, verzichtet sie auf das unnötige Risiko, packt den Arm des Ungeziefers und treibt es weiter in die Seitengasse, vorbei an drei schmalen Türen zwischen zugepissten Wänden und Mülltonnen. An einer besonders stinkenden Stelle drückt sie den protestierenden Falken an die Wand.

»Jetzt pass mal auf, du Kakerlake. Ich rede von meinem Bargeld, 250€ in Scheinen, frisch aus meinem Geldbeutel. Klingelt‘s?«

Zu Gwens Überraschung hellt sich die Miene des Käfers auf, als sie den neuen Spitznamen hört. Gwen gefällt das auch viel besser als „Falke“. Falken sind stolz und frei und teuer, ganze Verbände kämpfen für ihren Erhalt und sie werden von Ölscheichs in den arabischen Emiraten als noble Haustiere gehalten. Kakerlaken gibt es überall und sie sterben nicht, wenn man nicht beherzt genug drauftritt.

»Ach, die Kohle. Richtig, da war was.« Ihr schelmisches Lächeln gefällt Gwen nicht. »Sieht aus, als ob wir beide etwas hätten, was die andere möchte.«

»Ist das so?«, fragt Gwen, obwohl sie die Antwort darauf schon kennt. Was sie von ihr hat, verziert den Mülleimer im Badezimmer von Innen mit einer hübschen Schicht Feinstaub.

Die schmale Adelsnase kräuselt sich.

»Es ist – schwer, sich zu unterhalten, wenn man gewürgt wird.«

Gwen spürt die Wut in ihrem Bauch kochen. Sie ruft ihre magmatischen Ausläufer zurück, die durch ihre Knöchel zucken, drückt das Stück fleischgewordene Dreistheit noch einmal so hart gegen die Wand, dass ihr ihre Kapuze vom Kopf rutscht und ihre Brille schief liegt und lässt sie dann los. Das Fleisch hustet und reibt sich theatralisch die Schlüsselbeine unter dem T-Shirt. Dünner Stoff schiebt sich über ihre Knochen, über ihre Haut und die Schatten von älteren Spuren, die noch von Gwen stammen.

»Besser«, keucht sie dann und hält Gwen die Marlboro Gold hin. »Zigarette zum Runterkommen?«

Gwen fehlen die Worte. Sie manifestiert das in einen bösen Blick und ertappt sich, wie sie sich einen Stängel schnappt, anstatt der Gossenprinzessin zu zeigen, wo ihr Platz ist. Mürrisch kramt sie nach ihrem Feuerzeug, findet es schnell in den viel zu schmalen Taschen und zündet ihre Zigarette an, bevor sie ihrem Gegenüber fragend zunickt. Der Falken-Kakerlaken-Wolpertinger hebt ablehnend die Hand.

»Oh, nein danke, ich rauche nicht.«

Gwen prustet und möchte darüber höhnisch schmunzelnd den Kopf schütteln, aber es wird ein Lächeln daraus, schmal und irgendwie warm. Gwen schiebt es dieses Mal dankbar auf ihren Sexualtrieb, um sich nicht weiter vor sich selbst rechtfertigen zu müssen.

»Also, was du noch von mir hast...«

Der Falke geht einen Schritt auf Gwen zu.

Gwen spannt sich schon an, aber sie schiebt nur die Zigarettenpackung mit flinken Taschendiebfingern zurück in Gwens Jacke, bevor sie sich wieder an die Wand lehnt. »Lustige Geschichte. Nachdem wir deine Nachbarn belästigt haben, bin ich nach Hause gegangen, meinen Kumpel Kit treffen. Wir wollten Brownies backen. Aber schau einer an, da hat mir mein Spezialbackpulver gefehlt. Kit hat sich wirklich geärgert.«

»Schade für Kit«, antwortet Gwen trocken, aber kann den herausfordernden Blick nicht halten. Sie starrt auf die Restmülltonne neben sich und hat das plötzliche Bedürfnis, den Großkotz kopfüber reinzustecken.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, fährt der unbeirrt fort, »du kriegst zurück, was von deinen Mücken noch übrig ist und ich kriege zurück, was von meinem Zeug noch übrig ist. Klingt fair, oder?«

Gwen muss unmittelbar schnauben und starrt dem Parasiten auf den Mund. »Ich habe eine bessere Idee. Du gibst mir meine kompletten 250 und meine Jacke zurück und ich zeige dich nicht wegen Diebstahls und Drogenbesitzes an. Klingt fair, oder?«

»Wir können das sicher so kombinieren, dass wir beide glücklich sind«, versucht die Diebin es noch mal. Erfolglos.

Gwen seufzt bassig und zieht an ihrer Zigarette. Sie beschließt, ihre beste Karte zu spielen. Das tut sie ungern, weil sie nicht will, dass andere Leute denken, sie sei über Vitamin B an ihren Job gekommen, aber manchmal tut es Not, und dann gehen ihr die Worte immer mit einer gewissen Befriedigung über die Lippen.

»Mein Vater ist Bezirkschef bei der Polizei.«

Sie pustet genussvoll den Rauch in die plötzliche Stille, die sich in der Gasse ausbreitet. Gern würde Gwen das nutzen, um einen Blick die Hauswände hoch zu werfen, falls sie von geflügelten oder gepanzerten Freunden des Falken belauscht werden, aber sie weiß genau, dass die größere Gefahr direkt vor ihr steht. Ein wenig ist Gwen gespannt auf die Reaktion der Silberzunge. Und die lauert schon hinter den listigen rissigen Lippen.

»Echt jetzt? Mein Beileid.«

Gwen ist ehrlich perplex darüber, überhaupt eine andere Antwort als einen wirklich schlecht formulierten Bestechungsversuch zu erhalten.

Die Prinzessin stößt sich von der Wand ab. »Dann hab‘ ich ja schon verloren, der hat dir bei der Geburt bestimmt eine Wanze in den Arsch geschoben.«

»Wäre ihm zuzutrauen. Und jetzt nenn‘ mir einen guten Grund, warum ich dich nicht sofort festnehmen sollte«, murmelt Gwen misstrauisch und sieht dem fleckigen Jackenrücken hinterher.

Der Falke rennt nicht. Im Gegenteil.

Sie bleibt stehen, noch gute drei Meter vor Ende der Sackgasse, zieht die Kapuzenjacke aus und wirft sie achtlos in eine der Mülltonnen. Gwen sieht, wie sich sofort Gänsehaut auf ihren nackten Armen ausbreitet.

»Weil du mich interessant findest.«

»Bitte? Ich hab‘ mich wohl verhört.«

Irgendetwas hat sich verändert. Es liegt in der Luft, und obwohl es sich wie ein Band aus Seide zwischen dem Falken und ihr zusammenwebt, tut es leider nichts gegen den Gestank. Die Seide wird zum Draht. Der Draht wird zum Stromleiter. Der Strom zu Worten.

»Es ist doch so, lieber Watson«, beginnt der Gnom und dreht sich gönnerhaft gestikulierend auf der Ferse zu Gwen. »Die simple Deduktion erleichtert uns das sachdienliche Lesen von Menschen. So lassen sich bezüglich unserer Person X deutliche Indizien finden, die da seien, dass diese die Polizei nicht schon längst eingeschaltet hat, meiner Person nicht das Nasenbein gebrochen wurde und man mir nicht zuletzt wie selbstverständlich folgt, während ich rede. Elementar.«

Gwen muss sich konzentrieren, denn die Ratte redet schnell, während sie rückwärtsläuft. Die Art, wie sie spricht, ist ein grotesker Hybrid aus zwei Dingen, die Gwen kennt: das überhebliche Gesäusel von Schwerverbrechern in den Momenten, in denen sie sich unbesiegbar fühlen und das mechanische Bandgespule einstudierter Falschaussagen von Zeugen, die sie Wort für Wort bei jeder Befragung wiederholen, bis jemand in genau dieser Perfektion den einzigen echten Fehler entdeckt. Gwen setzt den Inhalt der Worte in ihrem Kopf zusammen und stellt mürrisch fest, dass die Schabe zumindest mit dem letzten Part des Monologs recht hat. Als würde sie jemand von hinten schieben, stemmt sie ihre Füße in den Boden und bemüht sich um eine schlagfertige Antwort.

»Weißt du, was du übersehen hast, Sherlock?«, beginnt sie und weiß jetzt schon, dass ihre ungeübte Zunge nicht einmal halb so gut kontern kann, wie es nötig gewesen wäre. »Dass du meine Kohle immer noch nicht rausgerückt hast. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, ist das der Grund, warum ich dir folge.«

Der Strom wird zum Draht. Der Draht wird zu Stahl. Der Stahl wird zum Messer.

»Du wolltest doch einen Grund, mich nicht zu verpfeifen, richtig?«

Ihr Ton macht Gwen noch misstrauischer, als sie sowieso schon ist. Er war eine offene Einladung. Jetzt ist er eine Drohung.

»Sag bloß, du hast mein Geld hier im Dreck versteckt?«

»Kann man so sagen«, antwortet der Falke und zieht einen Mundwinkel hoch.

Gwen fällt erst jetzt auf, dass sie etwas in der Hand hat. Das Bündel Papier sieht nicht gefährlich aus, aber in etwa 250€ wert. Keiner von beiden rührt sich.

»Wenn du jetzt da raus rennst, muss ich nur rufen, hier sind drei aus meiner Wache auf Streife«, lügt Gwen drohend und sucht in der Körperhaltung des Gegenübers nach Anzeigen von Fluchtreflexen. Die Prinzessin zeigt keine.

Für einen Moment fühlt sich Gwen, als könne sie einfach auf sie zu spazieren und ihr das Geld aus der Hand nehmen. Aber sie kennt das hochnäsige fliegende Kriechtier besser. Wenn der Falke etwas plant, hat sie ein geübtes Pokerface, aber ein Feuer in den Augen so klar, dass Gwen sich ihre Zigarette daran anzünden könnte. Die, die sie schon angesteckt hat, erinnert Gwen schmerzhaft an ihre Existenz. Sie zieht die Luft ein und lässt den abgebrannten Stummel auf den feuchten Stein fallen. Der Falke will diese Chance nutzen und rauscht an ihr vorbei, aber Gwen hat sie am Arm gepackt, bevor sie sich in Sichtweite der Passanten werfen kann. Sie hat die Kleine herumgewirbelt, bevor sie an ihr vorbei aus der Sackgasse sprinten kann. Und sie will ihre Hand auf ihrem Mund haben, bevor sie um Hilfe rufen kann, aber hat stattdessen einen grinsenden Mund auf ihrem eigenen. Ihr rechter Arm stößt die Ratte von sich, aber die Linke hält sie fest, was darin endet, dass ihr Gesicht Gwens Faust mit einem schwungvollen Rückstoß entgegenkommt.

»Ah – Scheiße!«, flucht sie und presst sich beide Hände auf die Nase. Gwen sieht, wie sich das Geld langsam mit Blut vollsaugt und greift schnell wie ein Raubvogel nach den Scheinen, ohne Erfolg. Die Schabe entkommt ihr und zieht die Nase hoch, und Gwen fragt sich, wie viele Tierspitznamen sie für die Diebin wohl noch finden kann. Die eilt schnell und leise zum Ende der Gasse. Wiesel.

Gwen sprintet grobmotorisch hinter ihr her, erwischt beinahe den Zipfel ihres T-Shirts, aber wird abgehängt, als die Prinzessin über zwei Mülltonnen klettert und sich auf ein Vordach schwingt. Straßenkatze.

Gwen flucht, doch ist machtlos. Nicht, dass sie den Weg auf die Steinmauer nicht schaffen würde. Aber sie würde länger brauchen und weiß nicht, was sie dahinter erwartet. Das blutende Miststück dagegen scheint sich bestens auszukennen. Stadtratte.

So gut, dass sie Zeit findet, sich auf der Mauer stehend beinahe lasziv das Blut von der Oberlippe zu lecken.

»War nett. Für‘s nächste Mal brauchen wir aber dringend ein Safe Word.«

Gwen wünscht sich, sie hätte dem Drang mit der Restmülltonne nachgegeben und antwortet mit einem Mittelfinger. Die Kleine macht einen Salut, verschwindet hinter der Mauer, und Gwen würde auf der Stelle anfangen, an Gott zu glauben, wenn der dafür sorgen würde, dass der Falke auf der anderen Seite nicht mehr lebendig ankommt.

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399
570,15 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
201 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783944771328
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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