Читать книгу: «Die falsche Frage», страница 2

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Die Kultur der Kreation schafft sich ihren ‚Text‘ selbst – ob als Musikstück, Choreografie oder Performance. […] Die Kultur der Kreation ist festlich. Sie versichert sich nicht feierlich im Abendkleid der Unvergänglichkeit großer Werke und Werte, die eine stabile Gesellschaft prägen. Sondern in ihr bilden bestimmte Milieus eine festliche Gemeinschaft auf Zeit. Das wird gerne verächtlich ‚Event‘ genannt, besitzt aber sozial eine logische und wertvolle Funktion. Daher die vielen Festivals, Raves und Langen Nächte.28

Auf der Theaterbühne hat dies laut Stegemann zur Folge, dass es keine Referenz mehr gibt: Ich bekomme nichts erzählt, keine Weltwahrnehmung, Weltverhandlung, nirgends. Zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus, behauptet wird die Gegenwart, als würde sie für sich etwas bedeuten. Die Gegenwart des aufklärerischen Dramatischen, in der alles offen ist, hat sich zur Gegenwart des Performativen verwandelt, in der alles abgeschlossen ist.

Das Utopische, für Heiner Müller immerhin noch Referenzgröße und in seinem glücklosen Engel der Geschichte begraben, ist abgefrühstückt. „Der Vorhang der Geschichte hebt sich nicht mehr, um jenes Drama aufzuführen, das ins gelobte Land führt, welches die utopischen Erwartungen vor Augen geführt haben“29 – so drückte es Frank M. Raddatz bildreich aus; es sind Gegenwartsschleifen, die Bestätigung dessen, was ist, pure neoliberale Propaganda, so würde es Stegemann fassen. Am Ende des Theaterabends sehe sich das Publikum in nicht nur einer Inszenierung des letzten Jahres (ich habe mehrere in Erinnerung) über Video selbst, wie es das Theater betrete, und feiere dies mit frenetischem Applaus.

Meine schriftstellerische Praxis mag sich auf den ersten Blick nicht mehr mit dem Utopischen in Verbindung bringen lassen, aber es verhält sich sicher so, wie Bernd Stegemann das ausgedrückt hat, dass ich doch den Wald vor lauter Bäumen noch sehen will, das heißt, ich will Gesellschaft als Zusammenhang verstehen, auch wenn er nicht mehr in der geschlossenen Form beschreibbar ist, wie man es vor dreißig Jahren gemacht hätte. Dies kann ich ganz klassisch nur in Verbindung mit der Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung, auf ein Leben, das sozial gerechter und glücklicher verläuft, wollen. Theater ist mir nicht reines Spiel, es ist nicht reines Ereignis, es ist kein kritikloses Dabeisein mit der Wirklichkeit, ich bin kein interesseloser Spaziergänger der Wirklichkeit, wie es einmal Alexander Kluge ausgedrückt hat.30 Ich will Formen des Sprechens finden, die den Gewaltzusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse deutlicher hervortreten lassen und gleichzeitig unterlaufen. Dass dabei das Uneingelöste eine gewaltige Rolle spielt, versteht sich von selbst.

Also die ungeschriebenen Texte zuerst, werde ich den Faden wieder aufnehmen, die halb geschriebenen danach und dann die geschriebenen, die nicht fertig werden, wie Roland Barthes in seiner Vorlesung Die Vorbereitung des Romans das bezeichnete.31 Schriftsteller, also Schriftsteller, die interessieren, werden nicht fertig mit ihren Texten. Sie werden nicht endgültig fertig. Wie denn auch? Sie werden weitergetrieben von ihnen. Damit sind bei Barthes vermutlich nicht die Alternativen gemeint, die Variationen, die mir einfallen, wie man etwas ganz anders hätte machen können.

Ich hätte z. B. fake reports anders angehen können, denke ich mir heute, zwölf Jahre danach,32 ich hätte eine Figur sagen lassen können: „Er gibt wieder an mit seinem Mann aus dem Nordturm, den er in der Wohnung der italienischen Germanistin stehen gesehen hat. Er gibt an mit dem Mann aus dem Nordturm, der hinter seiner Gattin auf und ab lief neben seinem Hündchen, für das man einen Teil der Wohnung abgesperrt hatte.“

Ich hätte nur über diese Wohnung in der Upper East Side schreiben sollen und den Hündchenverkehr darin nach dem 11.9. samt seinen Investmentbankerbewohnern, dieser stillen Wohnung, die nichts vermuten lässt, oder nein, ich hätte noch einen Schritt weitergehen sollen und schreiben: „Er hat den Mann aus dem Nordturm und ich nur das Tsunamiopfer, das heißt, ich hatte nur das Posttsunamithailand und nicht einmal das, weil ich war ja gar nicht da.“ Ich hätte eine Meta-Ebene mit Katastrophenkonkurrenzen aufmachen sollen, unter der dann die ganze Geschichte erzählt wird. Oder lieber doch nicht?

Nur ein halbes Jahr nach der Uraufführung meines Fluglärmstücks Der Lärmkrieg denke ich: Ich hätte die Bürgerinitiativen komplett draußen lassen sollen aus dem Geschehen, ich hätte nur drei Flughafenmanager sprechen lassen sollen und erzählen, wie man solche Leute fertigmacht, zum Schweigen bringt. Die Tricks, wie man auf die grüne Wiese ein Chemiewerk setzt, hätte ich neben die Tricks, wie man eine Landebahn in den Bannwald donnert und wie man die Ängste der Bürger miteinkalkuliert, setzen sollen. Zu einseitig? Zu polemisch? Plakativ etwa? Aber die Bürgerinitiativler mit hineinzunehmen, würde sie immer nur ins falsche Licht setzen, ins asymmetrische Licht sozusagen, werde ich sagen, das heißt, die Bürgerinitiativen waren mir ohnehin ein Dorn im Auge mit ihrer protestierenden Selbstgewissheit und Widersprüchlichkeit, und doch sind nicht sie das Problem, sondern das Problem ist die gewaltige Macht-Asymmetrie des ganzen Vorgangs.

Gewisse Dinge kommen einem später, und manchmal ist es gut, auf später warten zu können, was nicht heißt, dass die Gespenster der anders zu schreibenden Texte, die mich verfolgen, recht haben, dass die Varianten wirklich besser wären, dass sie die Stücke in ihren Schatten stellen. Tatsache ist, die Varianten erscheinen manchmal erst nach einiger Distanz, auch wenn das Stückprojekt sozusagen abgeschlossen ist.

Eine gewisse Form des Spiels mit dem Material entsteht erst durch eine gewisse Distanz, zu viel Distanz kann der Sache allerdings auch manchmal den Druck nehmen, den sie braucht. Das alles werde ich sagen, und dann werde ich mit Bernd Stegemanns „Mimesis“-Begriff eine Weile weitermachen, weil er doch meint, dass Mimesis nicht Imitatio sei, da käme noch die Dimension der Gestaltung dazu.33 Dem Weltverhältnis, das man im Stück zusammenbringt, wohnt eine merkwürdige Zeitlichkeit inne. Ein Hin- und Hergerissensein der Autoren, ein Amalgam aus Stoff und Interesse, aus Zugriff und Deutung, ein Gespräch eben. Und ein Gespräch ist keine Einbahnstraße. Stegemann, so scheint mir noch mehr in seinem Interview in der Ausgabe April 2014 von Theater der Zeit, schüttet aber doch dann immer wieder das Kind mit dem Bade aus, wenn er z. B. sagt, dass das Dargebotene die Wahrnehmungsfähigkeit des Zuschauenden oszillieren lasse und insofern der Zuschauer alleine sein Fühlen fühle und dies sei wiederum nichts als behaglich, was natürlich verwerflich und neoliberal sei.34 Ich sage: Das hängt doch ganz von der Art der Oszillation ab. Ich denke doch, dass auch durch Oszillation des Materials eine inhaltliche Engführung entstehen kann, ein zwingender Gedanke, der nicht alleine auf eine Selbstwahrnehmung des Zuschauers hinausläuft. Vielleicht verstehe ich Stegemann falsch, ich las auch seinen Text über die Kritik des Theaters immer mit einer gewissen Sehnsucht nach Texttheorie, die er nicht liefern möchte, da es ihm um Inszenierungspraktiken geht. In der Literatur bin ich weit entfernt von solchen Fragestellungen, da sowohl Polysemie als auch polymorphes Arbeiten ein fixer Bestandteil ihrer Arbeit sind, der nicht wegzudenken ist. Eindeutigkeit kann es in einem gewissen Sinn nicht geben, treten die Texte auch schlicht auf. Und doch verstehe ich ziemlich gut, was er meint, wenn ich mir die zahlreichen postdramatischen Produktionen vor Augen führe, die ich auf Festivals, Festwochen, im HAU oder an der Berliner Volksbühne gesehen habe. Die Auseinandersetzung mit seinem Buch verdeutlicht das Problem, welches ich schon oft mit jeglichen normativen Texttheorien gegenüber der Schreibpraxis erlebt habe. Sie sind einfach nicht unterzubringen in jener, Schreiben ist gleichzeitig komplexer und konkreter und umgekehrt kann jene etwas sehen und bündeln, was der Schreibpraxis unmöglich ist zu sagen. Ich möchte aber dieser Kritik des Theaters, vor allem der dahinterstehenden Rigidität, widersprechen. Polysemie, Ironie, das Spiel mit Rahmen sind nicht nur postmoderne Spielzeuge, die der Selbstwahrnehmung des Publikums dienen, sondern eben nicht unabhängig von dem Kontext zu beurteilen, in dem sie auftreten. Genauso wenig wie eine ironische Haltung allein ein sich entziehendes Subjekt kennzeichnet, sondern immer ein gespanntes Verhältnis zur Welt darstellt, genauso wenig dient das polysemische Arbeiten alleine der Selbstwahrnehmung der Rezipienten. Und doch ist mir sein Einwurf, sein Einwand, seine ins Riesenhafte ausgewachsene und mit einem irren Aufgebot an Theorie verwachsene Stopptaste näher als die „Kultur der Kreation“ von Thomas Oberender. Das werde ich sagen und mir dann plötzlich überlegen, dass mir das alles nichts hilft, dass mir als Autorin dieser Theaterdiskurs, der alles rein von der Inszenierung her denkt, im Augenblick nicht weiterhilft. Dass ich vielleicht zu sehr von der Prosa herkomme, dass ich ein Textmensch bin und müde, den Text zu verteidigen, dass mir das alles zu defensiv erscheint.

Das wird dann auch ungefähr der Moment sein, in dem Sie sich zu Wort melden und sagen: „Ja, genau! Nach den ungeschriebenen, den halb geschriebenen Texten und vergessenen Varianten müssten dann eigentlich die geschriebenen kommen!“ Das Making of könnte ich jetzt präsentieren, die Produktionsstraße könnte sich jetzt freilegen, ich könnte jetzt endlich mal den Tonfall einer Volker-Lösch-Erfolgserzählung annehmen35 oder eines Milo-Rau-Produktionsberichtes,36 einer Rimini-Protokoll-Anekdote,37 doch die fertigen Texte bestehen nicht nur aus dem Fleisch der Textzombies, sie gespenstern weiter, sie wollen auf Zukünftiges hinaus, zu Schreibendes, ich kriege sie einfach nicht in den Blick.

Wenn man mit Texten nicht fertig werden kann, heißt das nicht umgekehrt, dass man ein gespanntes, merkwürdiges Verhältnis zur Zukunft hat? Roland Barthes schrieb 1978: „Das SCHREIBEN, zumindest meines, ist nach vorn gerichtet, protensiv: es entsteht aus der Zukunft“.38 Was heißt das aber für Autoren, die im ständigen Futur leben, im ständigen Aufschub, Nichteingelösten, Uneingebrachten, wenn dem Rest der Welt das Futur aber abgeht, wenn es nur noch als Ressource für die Finanzmärkte herhält bzw. von denen vollständig aufgebraucht wurde. Was für ein Verhältnis zu ebendieser Welt stellt sich ein? Was passiert mit uns, die wir tief im Schuldeneuropa stecken, lassen wir die Zukunft wirklich versinken in den Futures, Optionen, den Derivatemärkten? Aus der Zukunft weht uns doch nur noch der Enteignungsatem an, sie wurde längst von anderen Akteuren in die Gegenwart gesaugt, verwettet, ist nur noch fiktiv, und ihre Fiktionen greifen unsere Theaterfiktionen an. Auch eine Bürokratie, die Big Data zur Verfügung hat, wird sich nicht mehr „mit dem beschäftig[en], was war oder ist, sondern mit dem, was sein wird.“39

Die Bürokratie einer „Berechnungsgesellschaft“, die Minority Report (2002) rechts überholt, lässt unsere Zukunft alt aussehen. Heißt das nicht, dass das Gespenstische, Unheimliche in dieses unser Verhältnis zur Zukunft hineinwandert? Dass es sich dort angesiedelt hat und gar nicht mehr so sehr in unserem Verhältnis zur Vergangenheit? Was bedeutet es, dass wir uns bereits als Schuldige fühlen gegenüber unseren Kindern. Dass wir der Zukunft etwas schulden? Und: Sind wir Schuldner oder Schuldige? Oder hängt dies immer automatisch zusammen in Zeiten, in denen man eigentlich nur über Märkte sprechen kann, ja, in denen die Märkte radikal geworden sind.

Vielleicht macht es Sinn, von der Utopie zur Atopie des Textes überzugehen, wie dies Roland Barthes in seiner Lust am Text getan hat. Er schreibt darin:

Der Text dagegen ist atopisch, wenn nicht in seiner Konsumtion, so doch wenigstens in seiner Produktion. Er ist nicht eine Redeweise, eine Fiktion, das System in ihm wird gesprengt, aufgelöst […]. Von dieser Atopie gewinnt und vermittelt er seinem Leser einen merkwürdigen Zustand: er ist zugleich ausgeschlossen und friedlich. Im Krieg der Sprachen kann es ruhige Momente geben, und diese Momente sind Texte („Den Frieden“, sagt eine Person bei Brecht, „gibts im Krieg auch, er hat seine friedlichen Stelln … und zwischen dem einen Gefecht und dem anderen gibts ein Bier …“). Zwischen zwei Redestürmen, zwischen den Prestigekämpfen zweier Systeme ist die Lust am Text immer möglich, nicht als eine Entspannung, sondern als ein unpassender – ein zerfließender – Durchgang einer anderen Sprache, als Anwendung einer unterschiedlichen Physiologie.40

Eine neue Form der Atopie mischt sich allerdings darunter. Als Roland Barthes das schrieb, hatte er noch nicht mit den gewaltigen Medienstürmen zu tun, in denen wir heute leben. Die Texte, die er beschreibt, von Stendhal, Proust, Flaubert, Sollers, hatten noch nicht diese medialen Umgebungen und vor allem medialen Überlagerungen um sich und in sich.

Denn in meiner Liste des Ungeschriebenen gibt es ja auch neben den nicht-konzipierten, den nicht ausgeführten, den falsch geschriebenen, den zu schnell oder zu langsam geschriebenen Texten, die nicht auswachsen durften, die, die einfach im falschen Medium hocken. Wobei ich mich langsam frage, ob es per se so ist, dass die Texte heute immer erst eine Weile lang im falschen Medium hocken müssen? Was heißt das eigentlich: Etwas sitzt im falschen Medium? Kann man das heute so einfach noch sagen? Hat sich nicht alles verflüssigt? Ist nicht alles einfach von einem ins andere zu transportieren? Adaptieren wir nicht auf Teufel komm raus? Wenn alles sich verflüssigen lässt, was für eine Rolle spielt die mediale Grenze oder gar die Gattungsfrage noch? Gerinnt sie nicht zum Medienklischee? In meiner Arbeit weiß ich, dass ein Stoff sein Aussehen radikal verändert je nach medialer Situation. Manchmal kann das interessant sein, oft genug. Im Theaterbetrieb soll manchmal aber nur der Geruch des Bestsellers transportiert werden. Zuschauerzahlen optimieren, heißt die Devise, neue Schichten fürs Theater gewinnen, was eine ernst zu nehmende Aufgabe ist. Aber es macht einen Unterschied, ob ich einfach den Thomas Mann im Programm haben will, weil er Bildungspublikum zieht bzw. ganze Schulklassen hereinschaufelt, oder ob von vornherein die mediale Situation Teil der ästhetischen Fragestellung ist. Denn wenn dem nicht so ist, erreicht man höchstens, dass man Rahmen vom ästhetischen Inhalt trennt, dass der content seltsam gleichförmig, quasi formlos anmutet und der Rahmen alles entscheidet. Es entstehen Adaptionsregeln, die die ästhetische Schärfe des Gegenstandes schleifen. Z. B. ist es sinnlos, J R (1975) von William Gaddis auf die Bühne zu bringen. Wenn alles flüssig wird, was bleibt dann übrig? Doch umgekehrt gefragt: Kann man im Zeitalter des apparäts, wie Gary Shteyngart das in seinem Endzeitroman Super sad true love story (2010) ausgedrückt hat, also dem Zeitalter der Smartphones, in dem alles flüssig wird, nur niemand weiß, wie man es bezahlt, sein Medium überhaupt noch beherrschen? Gibt es überhaupt noch eine Medientrennschärfe? Und ist Literatur nicht längst eine Dienstleistung, quasi der content-Produzent für feststehende Medienformate? Oder soll sie ihre eigenen Formate schaffen? Klar, werden Sie sagen, aber so einfach ist das nicht, das gelingt nur sehr selten. Vielleicht aber muss deswegen bei mir jeder Text auch ein bisschen das Gefühl des Nicht-heimisch-Seins im Medium transportieren? Vielleicht müssen die Medienüberlagerungen sich selbst thematisieren, um überhaupt noch so etwas wie Notwendigkeit auszudrücken? Vielleicht müssen die Texte widerständig werden gegen das völlige Verschwinden im medialen Kontext und metamedial funktionieren? Quasi in mehrere Medienbereiche wuchern?

Doch umgekehrt staune ich, wie viele Bühnenuntauglichkeiten mir derzeit begegnen, denn das gibt es auch noch: Es sieht zumindest so aus, als wäre mein eben entstehender Prosatext Nonbookecke, der von der durch Gentrifizierung hervorgerufenen Verwahrlosung von Räumen erzählt, nichts für die Bühne, genauso wenig wie das vollverabschiedete Medium Fernsehen im teilverabschiedeten Medium Theater sich gut macht.

Ja, was alles kein Theaterabend ist, summiert sich in meinem Leben: Der Vorgang, wie ich einmal keinen Film über die ZDF-Zuschauer-panik machen durfte, ist kein Theaterabend. Der Vorgang, wie ich stattdessen einen Film über den Atomkraftwerksrückbau gemacht habe, also über die Verabschiedung von Atomkraftwerken, während ich die Verabschiedung von ganzen Medien beiseiteschob aus meinem Blickfeld, ist kein Theaterabend. Der Vorgang, wie die Verkürzung der Erzählung über die Verabschiedung von Atomkraftwerken mit der Verkürzung der Erzählung über die Verabschiedung vom öffentlich-rechtlichen Medium nichts zu tun haben durfte, ist vermutlich noch weniger ein Theaterabend, weil er nach Verzettelung riecht. Und Verzettelung ist ein Theatergift, ist ein Abmurkser im dramatischen Sinn. Verzettelung ist bühnenuntauglich, es sei denn als komischer Monolog, wie er vielleicht gerade wieder modisch wird, aber der komische Monolog müsste dann mindestens rückgebunden sein an den Wunsch, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, und das kann man ab einem bestimmten Punkt nicht mehr garantieren. Der komische Monolog des Verzettelns zeigt den kauzigen Charakter, den Zerstreuten, zeigt ein Herumirren in einer Welt der Desinformation, ihm geht das Tragische ab, dem wiederum jegliches Existenzrecht auf der Bühne abzusprechen sei, weil es sich auf Subjektkonzeptionen gründet, die nicht mehr einzuhalten sind. Vielleicht, weil wir Metz & Seeßlen’schen Blödmaschinen unterworfen sind, die der Infantilisierung Vorschub leisten?41 Überraschungseiern, Fernsehserien, ICE-Schaffnern, Apps, Freizeitparks und gewissen Computerspielen? Blödmaschinen sind leider extrem realitätswirksam, sie ergeben aber für sich noch keinen Theaterabend. Oder bleibt uns nur noch der Nerdmonolog, wie ich ihn Oliver Kluck oder Wolfram Lotz zuschreibe?

Die Welt mit ihren Ausbeutungs- und Infantilisierungswirklichkeiten scheint sich mit Computerlichtgeschwindigkeit von den Theatertauglichkeiten zu verabschieden, genauso wie die ausdifferenzierten Bürokratien und Expertokratien unserer Zeit das alte Parteiensystem unterlaufen. Die Expertenbefragung und Expertendelegation ersetzt jede argumentative Durchdringung. Castingshows jegliche dramaturgische Raffinesse. Und doch sind Castingshows die alles beherrschende theatrale Form in den Massenmedien. Die Auswahl und Einwahl, wer es schafft, wer weiterkommt. Nicht umsonst wurden sie schon zahlreich zitiert, am prominentesten sicher von Christoph Schlingensief mit seinem Wiener Big-Brother-Format.42 Und doch bin ich zuversichtlich, dass das Theater mit seinen vielschichtigen Mitteln und pluralen Formen – es ist ja auch eine Fiktion, von dem Theater zu sprechen – die Möglichkeit hat, damit umzugehen, aber es wird ganz klar mit Formen des Widerständigen zu tun haben müssen.

Wenn Literatur bedeutet, Widerstand zu leisten, in dem man, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze das Ende der 1980er in dem schon erwähnten L’Abécédaire sagte, etwas Inkommensurables schafft, dann spielt nicht nur die mediale Frage, das Setting, eine wesentliche Rolle, das Inkommensurable liegt aber auch immer in einer spezifischen formalen sprachlichen Situation. Es ist nicht runterzureduzieren.

„Die guten Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben“, ist jedenfalls das Motto von Kritik und Klinik von Gilles Deleuze,43 denn was macht die Literatur in der Sprache?

Sie entwirft in ihr, wie Proust sagt, eben eine Art Fremdsprache, die weder eine andere Sprache noch wiederentdeckter Dialekt, sondern ein Anders-Werden der Sprache ist, eine Minorisierung jener großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt, eine Hexenlinie, die aus dem herrschenden System ausbricht.44

So Deleuze. Habe ich Hexenlinien entworfen? Und wie stehen die Hexenlinien in Verbindung zu den Fehlerketten, die unsere Gesellschaft gleichermaßen ausmachen? Es gibt ja nicht nur die Fehlerketten der Piloten im Cockpit, es gibt auch die Fehlerketten in der Unternehmensführung, die Fehlerkette in der Steuerneuordnung, Fehlerketten beim Entstehen eines Gesetzes, aber auch die Fehlerketten der Falschbetonung im Radio, ja, es gibt die Falschbetonung, die plötzlich eine Reise macht, die plötzlich von allen übernommen wird, und dann reden alle so! Es gibt sogar Fehlerketten im Verhältnis von Freunden, und die Fehlerketten im grammatikalischen Gebrauch, wie „etwas macht keinen Sinn“ oder „weil, das macht man nicht“.

Wir können uns fragen: Was bindet den einen Fehler an den anderen, wie hängen sie zusammen, welches Prinzip verknüpft sie? Das Prinzip der englischsprachlichen Hegemonie? Der Ökonomisierung von Sprache? Wohin führen Fehlerketten letztendlich: immer in die Katastrophe, wie gesagt wird? Und wer holt uns da wieder raus? Ist es so: Fehlerketten verwandeln uns in Automaten und Hexenlinien reißen uns wieder raus? Das müssten doch Antagonisten sein? Oder kann man einen Text wie eine Fehlerkette betrachten, die sich ein Stück Ergebnisoffenheit bewahrt hat?

Erlernen wir literarische Fremdsprachen, indem wir durch Fehlerketten durchmüssen und gleichzeitig den Hexenlinien folgen? Wie lassen sich literarische Fremdsprachen beschreiben?

Zunächst setzen sie sich aus den unterschiedlichsten, oftmals auf den ersten Blick sehr vertraut aussehenden Sprachen zusammen, die sich manchmal spinnefeind sind. Sie sind Zusammenballungen von sprachlichen Zumutungen. Es sind Börsennachrichten, die kleinen sprachlichen Gesten gegenwärtiger Wirtschaftsdiplomatie, die Businesssprachen der Politik, merkwürdige Fachbegriffe, die uns als Sicherheitsanker angeboten werden und uns nur untergehen lassen, gefährliche Wörter, plötzlich mächtig und plötzlich ohnmächtig werdende, abwartende und zupackende. Sie bestehen aus Jingles und Signaturen, aus Leitzordnerabdrücken und Lektüreergebnissen, kommen aus dem Hörensagen, dem Grundstrom der Mündlichkeit, auf der unsere Gesellschaft laut Alexander Kluge noch immer beruht.45 Oder sie kommen aus dem merkwürdigen Hybridzustand aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die unsere Alltagserfahrung ist, wie dies der Schriftsteller Hubert Fichte so genial vorgeführt hat, mit seinem poetischen Realismus, seiner musikalischen Ethnografie, seinen Sounds aus dem Jenseits. Sie sind Abkürzungen alter sprachlicher Wege oder umgekehrt Umfahrungsstraßen. Sie stehen immer in mehreren Kontexten und bilden den Kontext für neu zu Sagendes.

Die literarischen Fremdsprachen sind verbunden mit dem Verlangen, den Wald vor lauter Bäumen nicht vollständig zu übersehen. Sie zielen auf eine relevante Struktur, sie sind eine Verknüpfung von Gesten gegenüber ihren Zuhörern, Lesern, die wiederum für die Gesellschaft stehen. Denn „Schreiben ist keine private Angelegenheit von irgendwem“, wetterte Deleuze im L’Abécédaire, „Schreiben ist, sich in eine universale Angelegenheit zu stürzen!“ Nichts ist ihm widerlicher als Autoren, die ihre Privatdramen aufführen. Er fordert den Schriftsteller auf, an die Grenze zu gelangen, die die Sprache vom Schweigen trennt, die Grenze der Animalität, auf der sie entlangschreiten sollen. Was genau das sein kann, muss immer wieder neu gefunden werden. Die Grenze verläuft nicht homogen, sie ist keine einfache Linie. Sie verbindet sich mit anderen Grenzen und löst sich wieder von ihnen.

Auf der Liste meiner ungeschriebenen Stücke sollte sie vorhanden sein, doch ganz gewiss kann man sich da nicht sein. Die Grenze des Schweigens und der Animalität ist vielleicht am ehesten durch das Abwesende verdeutlicht, das mich in unterschiedlicher Weise fasziniert hat,46 weil es meiner Meinung nach gesellschaftlich eine immer größere Rolle spielt: Die Verschiebung durch den Konjunktiv, das Fehlen einer zentralen Figur, Verrückung durch Rhetorik, durch die paradoxe Anwesenheit eines Erzähler-Ichs, das aus den Figuren Anwesend-Abwesende macht, hängt zusammen mit dem Verlust von Ansprechpartnern, Verantwortungen, Auflösung sozialer Bande, Unübersichtlichkeit sozialer Situationen, Burnouts, Verlustängsten. Die Grenze des Schweigens entsteht an den Rändern der medialen Präsenzen, die auf der Bühne ebenfalls negativ zitiert sein können. Die Sogwirkung der Fehlanzeigen, die Verdichtungen aus der Negation müssen allerdings so gebaut sein, dass sie zwingend sind und eben nicht freundlich oszillierend, wie der Gegner des postdramatischen Klischees sagen würde. Ja, das werde ich sagen und ein letztes Mal auf meine Liste der ungeschriebenen Stücke sehen.

Am Schluss findet sich dort nur noch ein Stück, eines, das vielleicht bald von der Liste gestrichen werden kann, weil es hinaustritt ins Geschriebene, wer weiß? Es ist mein Stückentwurf Normalverdiener, ein Stück, in dem das Reden über Geld mit dem Schweigen über Geld zusammenkommen soll; es sich gruppiert um eine Figur, die selbst nicht auftritt, in der Szene nicht enthalten ist, eine Beschwörung der Finanzkraft von Seiten des untergehenden Mittelstandes, eine Verdrehung der Opfer-Täter-Optik, wie es nur in diesem Milieu vorkommen kann. Es ist das Stück, das JETZT geschrieben werden könnte, wenn ich nicht diese Poetikvorlesung schreiben müsste. Ein Stück, in dem die Rede über Märkte andauernd vorhanden ist, auch wenn es scheinbar um anderes geht, in dem die Marktfiktionen ohne banale Offensichtlichkeit ihre Arbeit verrichten können, ein Stück, in dem sich auf atopische Weise die Psychologie dieser Märkte mit ihren Störungsformen zeigt und wie sie längst in einer unheimlichen Machtstruktur aufgehen, überlege ich mir, etwas enthusiasmiert von meiner eigenen Vorstellung. Ich werde nicht aufhören können zu schwärmen von meinen eigenen Gehversuchen in Richtung dieses Theaterstücks. Darin enthalten: Unser Zögern, sofort zu reagieren, wenn wir eins übergebraten bekommen. Die Schockstarre, in der wir einen Großteil der Zeit unseres politisch-ökonomischen Lebens verbringen. Das Sich-Heranschmeißen und Herumscharwenzeln eines Mittelstandes, der sich mit der Leistungslüge gegenseitig abschießt. Jenes letzte ungeschriebene Stück, werde ich sagen, könnte so beginnen:

– Er hätte einen begrüßen können, finde ich, das wäre nun wirklich gegangen. Kaum kommt man an, schon muss er darüber reden, was ihm alles gehört. Er kann gar nicht anders.

– Ja, das volle Programm: mein Haus, mein Auto, meine Frau.

– Nein: meine Firma, mein Investment, mein Land. Wo er geschäftlich seine Finger drinstecken hat.

– Er kann gar nicht anders, als uns jetzt zu unterbrechen und zu sagen, was ihm gehört. Jemand in der Runde erzählt was, und er unterbricht mit seinen Eigentumsverhältnissen.

– Uns interessieren aber seine Eigentumsverhältnisse nicht. Sie kommen uns andauernd in die Quere. Jemand erzählt von seinem Karrieresprung und von links kommt ein Schloss in der Bretagne und von rechts eine Yacht.

– Er ist befreundet, quasi dauerbefreundet mit Abramowitsch und Konsorten.

– Er hat seine russischen Oligarchen und wir haben keine russischen Oligarchen. Das macht natürlich einen Unterschied.

– Wir hätten erstaunter sein können, also mich hat das schon erstaunt, wie sich da eins zum anderen fügte.

– Jemand erzählt von einem Geschäftsabschluss, einem neuen Kontakt, einer neuen Stellung, die er jetzt hat, und er platzt garantiert dazwischen. Mit dem, was er von einem gleichwertigen Freund zum Geburtstag bekommen hat. Und wie viel es ihn gekostet hat, da es hier merkwürdige Zollbestimmungen für teure Rotweine gibt.

– Er kann sich aber immer noch über zehn Euro ärgern, um die er betrogen wurde.

– Die man ihm zu viel berechnet hat.

– Er lebt dann ganz plötzlich in der Welt der zehn Euro …

– Und die Welt der zehn Euro weiß nicht, wie ihr geschieht. (lacht)

– … und will, dass wir auch in der Welt der zehn Euro leben, mit ihm zusammen.

– Das kann ich nicht, nicht so plötzlich.

– für einige Augenblicke nur, einen Moment nur, den er wieder verwischt mit einem Millionenangebot, das nur ihn allein betrifft.

– Das kommt aus dem Telefon. Online.

– Dann lebt er nicht mehr in der Welt der zehn Euro.

– Dabei haben wir uns so vorbereitet: Er erinnert uns an Putin, haben wir lachend gesagt, Saddam Hussein oder Gaddafi, und sind jetzt doch überrascht.

– Wir haben Filme angesehen, den Gaddafi-Film, den Saddam-Hussein-Film – das heißt, den Film über Husseins Sohn Udai und dessen Doppelgänger. Eine Szene, in der die beiden Saddam Husseins auf einem Dachgarten Tennis spielen, wird gezeigt. Man weiß nicht, wer der echte Saddam Hussein ist, man weiß nur, dass beide Tennis spielen. Die Welt der Doppelgänger und Doubles hat sich uns eröffnet, wie sie auf den höchsten Ebenen der Macht stattfindet und Tennis spielt. Die Autokraten müssen schließlich überall gleichzeitig sein, haben wir uns gesagt.

– Jetzt spielen wir mit ihm Tennis, aber in echt.

Wird das Stück so beginnen? Na, ich werde es vorlesen und dann wieder von den Märkten sprechen, denn am Ende, sage ich mir jetzt, kommen wir ohnehin immer zurück zu den Märkten. Den übergroßen Märkten, von denen es heißt, sie wären am besten „freie Märkte“, dann bräuchte man, so Milton Friedmans Theorie, nicht so viel über sie zu wissen, sie funktionierten ohne das Wissen ihrer Player, wie es heute so schön heißt. Sie funktionieren aber nicht ohne das Wissen, stelle ich immer mehr fest. Mehr noch: In Wirklichkeit produzieren wir nichts als Marktwissen, nichts anderes gibt es mehr. Wir sind von Marktfiktionen nahezu überwuchert. Auch ich komme da nicht raus. Vermutlich ist das meiste, was ich zu Ihnen sagen werde in meiner ersten Poetikvorlesung, auf irgendeiner Ebene reinste Marktfiktion oder zumindest bleibt das dann bei Ihnen hängen. Da kann man nur hoffen, dass sich irgendein Techno-Zwitscher-Geist darin findet, dass irgendein sprachlicher Dämon dazwischenfunken wird und dann ordentlich Krach macht. Mal sehen!

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