Читать книгу: «Wie Frau Krause die DDR erfand», страница 2

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Bei ihrem ersten Berlin-Besuch hatte Isabella mit ihrer Schulklasse auch das Brandenburger Tor besucht. Weit vor dem Tor gab es einen halbhohen Metallzaun, dahinter, in sichtbarer Entfernung, standen Soldaten mit Maschinenpistolen. Sie schützten eine Betonfläche, die links und rechts von Rasen und Blumenkübeln gesäumt war. Isabella und ihre Schulfreundinnen hatten ihnen zugewinkt und Grimassen gezogen, aber die Gesichter der Soldaten waren wie versteinert geblieben. Nicht einmal ein Zwinkern war zu erkennen gewesen.

Niemand wunderte sich, dass die Soldaten nicht in Richtung des Brandenburger Tores guckten, durch das der Feind kommen und angreifen würde.

Was war das für eine Grenze gewesen, an der die Soldaten das Gesicht dem eigenen Volk zuwandten und dem Feind den Rücken?

Es dauerte fast eine Stunde, bis Isabella wieder ins Zimmer gerufen wurde. Jetzt waren zehn Personen um den Tisch versammelt, die ihr alle erwartungsvoll entgegensahen.

»Ja, Frau Krause, schön, dass Sie da sind!«, sagte der Chief lauter als nötig und machte eine Geste, als erwartete er von Isabella, dass sie sich verbeugte.

Isabella fühlte, wie sie sich verkrampfte.

»Aber setzen Sie sich doch. Wollen Sie einen Kaffee?«

»Ich hatte schon zwei«, sagte Isabella.

Der Chief wirkte wie aufgezogen. Er wippte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und vermittelte den Eindruck, als hinge er an einem Gummiband und würde in wenigen Minuten nach oben gezogen, um zurück nach Zürich zu fliegen.

»Darf ich Ihnen Ihre Kollegen vorstellen: Herrn Fuchs aus Köln, er ist der Autor und, wie der Name sagt, ein Fuchs.« Der Chief lachte meckernd über seinen Witz, während der Fuchs eine abwiegelnde Geste machte, die weder auf Zustimmung noch auf Ablehnung schließen ließ. Der Fuchs hatte passend zu seinem Namen rote Haare. Der Chief setzte fort: »Das ist Frau Glaubitz, die auch für das Casting zuständig ist. Herr Becker, Herr Krake …« Die Namen von Kameramännern, Tonassistenten, Cuttern, Praktikanten zogen an Isabella vorüber. Sie nickte immer nur kurz, als müsse sie die Personalien bestätigen.

»Und was sind Sie von Beruf?«, fragte der Fuchs.

»Schauspielerin«, sagte Isabella.

Der Fuchs verzog seinen Mund zu einem milden Lächeln. Und betrachtete Isabella, so wie man ein Kind ansah, das gerade bei einer Lüge ertappt wurde, die aber so offensichtlich schien, dass es nicht der Mühe wert war, sie aufzudecken.

»Machen wir es kurz«, sagte der Chief, »wir bereiten da gerade eine Serie vor, sechs Folgen, Primetime.« Er zeigte auf das Plakat, das Isabella schon kannte: »Wild-Ost«. »Ein bedeutendes Projekt in unserer Fernsehserienwelt«, sagte der Chief. »Und wir geben Ihnen die Möglichkeit, daran mitzuwirken.«

Isabella schwieg.

»Ich sehe, Sie sind beeindruckt«, sagte der Chief. »Drehbeginn wird bereits nächste Woche sein. Es eilt also. Menschen, die uns erzählen werden, wie es wirklich war. Das ganz normale Leben in den Familien und den Betrieben, die kämpferischen Frauen, die den Alltag organsiert haben. Und die politischen Aspekte nicht vergessen: die Mangelwirtschaft und die Bevormundung durch den Staat. Sie wissen schon.«

»Ja«, sagte Isabella gedehnt.

»Ich sehe, wir verstehen uns!« Der Chief nahm eine Mappe in die Hand. »Das Konzept ist klar. Die Inhalte stehen fest. Meine Sekretärin wird Ihnen die Schwerpunkte kopieren. Das Enzige, was uns jetzt noch fehlt, sind die Menschen. Das wäre dann Ihre Aufgabe. Sie sind doch geboren im O… oh …?«

»Osten«, sagte Isabella.

»Na, sehen Sie, dann dürfte es doch für Sie kein Problem sein. Sagen wir fünf bis zehn Protagonisten bis Ende des Monats?«

»Tot oder lebendig?«, fragte Isabella.

Der Chief lachte verstört.

»Ach so«, sagte er, »was haben Sie sich denn so vorgestellt, ich meine als Honorar?«

Isabella zuckte mit den Schultern.

»Sagen wir 500?«

»Pro Kopf?«

»Allerdings nur, wenn sie wirklich genommen werden«, rief der Fuchs. »Und maximal 3000«, sagte der Chief.

»Kennen Sie Tele-Lotto?«, fragte Isabella.

Der Chief schüttelte den Kopf.

»Das war ein Durchläufer, Herr Rohr!«

Isabella genoss die Irritation.

»Nehmen Sie nun den Auftrag an?«, fragte der Chief.

Und Isabella dachte an die 3000 Euro und an die offene Rechnung im Pflegeheim ihrer Mutter und nickte.

Während sie zurück zum Bahnhof lief, war sie sich nicht mehr sicher, ob dieser Tag wirklich ein Glückstag war.

3

Isabella hatte sich in ihrem Überschwang für die Aussicht, mit der Rolle im Werbefilm schnell 6000 Euro zu verdienen, bei der Hinfahrt eine Fahrkarte erster Klasse gegönnt, jetzt war sie aus Sparsamkeit wieder auf die zweite Klasse zurückgefallen und verzichtete freiwillig auf eine Platzkarte. Als sie die Menschen auf dem Bahnsteig sah, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war. Einerseits war es bei ihrer Körpergröße leicht, sich vorzudrängeln, da sie viele, die ihr auf den Kopf guckten, für ein Kind hielten, das zu seiner Mutter wollte, anderseits fehlte ihr die Kraft, um gegen die Aktenkoffer-Barrieren der dienstreisenden Männer anzukommen. Die silbernen Metallkoffer dienten nicht nur als Statussymbol, sondern auch als Waffe beim Vordrängeln. Dienstreisende Männer hatten es immer eilig und schoben, ob Mann, Frau oder Kind, alles beiseite, was ihnen beim Einsteigen den Weg versperrte.

Der Nahkampf erinnerte Isabella an Zeiten, in denen sie im Bahnhof Schöneweide versucht hatten, auf die Trittbretter der einfahrenden Züge zu springen, um vor allen anderen in einen Waggon zu kommen. Dieser Trick wurde im neuen Zeitalter durch die selbstöffnenden Türen vereitelt.

Alle Plätze im Großraumwagen waren bereits besetzt, und Isabella musste mit einem Abteil vorliebnehmen. Sie hasste den direkten Kontakt, dieses sich Gegenübersitzen, bei dem sie aus Angst, ihr könne beim Einschlafen der Unterkiefer herunterklappen, nicht wagte, die Augen zu schließen. Da sie einen Mittelplatz erwischt hatte, entfiel zudem die Möglichkeit, sich zur Seite zu lehnen und das Gesicht hinter dem Mantel zu verstecken. Der Mann, der ihr gegenübersaß, streckte seine Beine so weit aus, dass sie nur schräg sitzen konnte. Sicher war er der Meinung, Frauen und insbesondere kleine Frauen brauchten keinen Platz. Seine schwarzen Schuhe waren blank geputzt und sichtbar nicht mit den nassen Straßen in Berührung gekommen. Wahrscheinlich hatte er sich mit dem Taxi zum Bahnhof fahren lassen. Auf seinen Knien lag ein silberner Aktenkoffer, darauf das aufgeklappte Notebook. Er hackte auf die Tasten, als wolle er das Notebook auf dem Koffer festnageln. Seinem Gesicht war Unmut anzusehen. Er war der typische Erste-Klasse-Reisende, der darunter litt, dass es ihn, warum auch immer, zum Volk verschlagen hatte.

Als Isabella nach dem Mauerfall zum ersten Mal erste Klasse gereist war, hatte sie sich gefühlt, als täte sie etwas Verbotenes. Schon eine normale Zugfahrt im Intercity war ein Erlebnis gewesen: die mit Teppichboden ausgelegten Wagen, das gedämpfte Licht, die freundlichen Durchsagen. Es gab keine doppelt vergebenen Platzkarten, und auf jedem Sitz lag ein Faltblatt, in dem sie die Reiseroute nachlesen konnte. Doch die Fahrt in der ersten Klasse war noch eine Steigerung. Der Schaffner hatte ihr den Weg zum Platz gewiesen und geholfen, ihren Koffer in eine dafür vorgesehene Nische zu stellen, und als er sie nach der Abfahrt freundlich gefragt hatte: »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«, wäre Isabella vor Schreck beinahe von ihrem Sitz gerutscht. Das also war der Westen!

Mittlerweile war alles selbstverständlich geworden. Sie hatte sich an die neue Art des Reisens gewöhnt. Nur manchmal, wenn sich der Schaffner mit einer Durchsage für eine Verspätung von fünf Minuten entschuldigte, durchzuckte sie die Erinnerung an frühere Zeiten. Damals hätten sie einen Schaffner, der sich für eine Verspätung entschuldigte, für geistig verwirrt gehalten, vor allem, wenn es sich nur um wenige Minuten handelte. Viel logischer erschien, dass sich die Schaffner bei Problemen hinter die verriegelte Tür ihres Dienstabteils flüchteten und sich so dem Zorn der Reisenden entzogen. Verspätungen waren etwas Selbstverständliches gewesen, das alle gelassen hinnahmen, auch Isabella.

Jetzt wurde sie schon ungeduldig, wenn ein Zug wenige Minuten auf freier Strecke an einem Signal hielt, und war unwirsch, weil nur ein Mittelplatz in einem Abteil frei war. Der Bonus, den alles nach dem Mauerfall gehabt hatte, war aufgebraucht.

Es war wie bei einem Ehepaar, je länger man verheiratet war, umso deutlicher erkannte man die Fehler des anderen und störte sich daran.

Vierzig Jahre lang waren sie zwei Königskinder gewesen, die nicht zueinander kommen konnten, »denn die Mauer war viel zu hoch …«. Sie hatten sich vor Sehnsucht auf den anderen verzehrt, sich Briefe und Pakete geschickt und in der Weihnachtszeit Kerzen in die Fenster gestellt. Und als dann vor fast dreißig Jahren völlig unerwartet die Hochzeitsglocken läuteten, waren sie sich liebestrunken in die Arme getaumelt. Nur Großmutter Isa hatte die Probleme geahnt und gesagt: »Jetzt haben sie uns um den Hals wie einen Mühlstein!«

Sie sollte recht behalten, denn von Liebesheirat war schon längst keine Rede mehr, und es gab bereits einige, die sich heimlich die Scheidung wünschten. Und nun, da in wenigen Monaten die Feierlichkeiten zum Mauerfall bevorstanden, wurde unablässig an die Ereignisse von damals erinnert. Alle Facetten des untergegangenen Landes wurden beleuchtet. Kein Thema wurde ausgelassen, keine Bettdecke blieb zugedeckt. Was trank der DDR-Bürger, was aß er, in welcher Stellung hatte er Sex? Es war niemanden übel zu nehmen. Es war ein Elfmeter, bei dem der Stürmer allein mit dem Ball vor dem Tor stand, weil der Torwart für immer nach Hause geschickt worden war.

Und nun stand auch Isabella vor dem Tor und würde für jeden Treffer 500 Euro erhalten.

Je länger sie über ihren neuen Auftrag nachdachte, umso mehr ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hätte ihn ablehnen sollen. Ihre Ziel sollte sein, vor einer Kamera zu stehen und nicht dahinter. Wo war das Scheinwerferlicht, in dem sie sich sonnen wollte? Statt vorwärts zu sehen, musste sie nun wieder zurückblicken. Doch konnte sie es sich leisten, den Auftrag abzulehnen? Es galt der Grundsatz: »Sie war alt und brauchte das Geld.« Jetzt half nur Augen zu und durch. Oder besser: Augen auf! »Sie müssen sich doch nur auf der Straße umsehen«, hatte ihr der Chief nach der Verabschiedung hinterhergerufen.

Er hatte recht, von nun an war jeder, der ihr begegnete, ein Protagonist. Isabella musterte ihre Mitfahrer. Auf den Fensterplätzen saß sich ein älteres Ehepaar gegenüber. Wortlos reichten sie sich gegenseitig die Brotbüchsen mit Apfelspalten und belegten Broten. Sie befanden sich im Ehezustand von »Silberhochzeit plus«, in dem entweder alles so eingespielt war, dass sie keine Worte mehr brauchten oder sie nur noch das Nötigste besprachen. Beide waren beige gekleidet, mit beigen Hosen, beigen Schuhen, und sogar die Socken waren beige. Der Unterschied war nur, dass die Frau eine beige Jacke trug, während der Mann mit einer beigen Weste ausgestattet war, die Kampfbereitschaft signalisierte. In den zahlreichen Taschen und Schlaufen hätte er bequem Patronen, Messer und anderes kleines Kriegsgerät verstauen können. In wenigen Jahren würde die beige Armee dieses Land, und das in beiden Teilen, demoskopisch fest im Griff haben. Isabella beschlich eine leise Ahnung, was ihr auf der Suche nach Protagonisten bevorstehen könnte.

War das ihre Zielgruppe? Mürrische alte Menschen, die sie dazu bewegen sollte, aus ihrem ostdeutschen Leben zu erzählen? Es war einmal.

Isabella schloss innerlich die Wette ab, dass die beiden gleich den rot-gelben Eierbehälter mit dem kleinen Salzstreuer aus DDR-Zeiten hervorholen würden.

Gewonnen!

Seit Isabellas Kindheit bildeten Essen und Zugfahren eine Einheit. Nie hätte Großmutter Isa einen Zug ohne die in Butterbrotpapier gewickelten Leberwurstschnitten und die Thermosflasche mit dem Pfefferminztee bestiegen, und selbstverständlich niemals ohne den rot-gelben Eierbehälter mit dem kleinen weißen Salzstreuer. Und es galt die strenge Regel: Nur wer seine Leberwurstschnitte aufaß, bekam ein hartgekochtes Ei. Schon kurz nachdem der Zug die Bahnhofshalle verlassen hatte, saßen sie alle andächtig kauend, in Wurstbrotgeruch gehüllt, im Abteil.

Aber war das Essen im Zugabteil eine rein ostdeutsche Angelegenheit? Ließen sich alle Westdeutschen ausschließlich im Speisewagen bedienen? Nicht einmal die Mitropa war, wie Isabella immer geglaubt hatte, eine ostdeutsche Erfindung, sondern gesamtdeutsch. Als sie vor einem Monat im Bahnhof von Frankfurt am Main ihre Wartezeit mit Kaffeetrinken verkürzen wollte, hatte sie zu ihrer Verwunderung das bekannte weinrote »M« über der Tür eines Cafés gesehen und sich gefragt, ob es jetzt bereits in der Bankenstadt Frankfurt Ostalgie-Lokale gab? Der Irrtum klärte sich schnell auf, denn die Bilder an den Wänden zeigten unter dem Leitspruch »Mitropawagen verkehren überall« Waggons seit dem Gründungsjahr 1916.

In der DDR, in der alle Dinge, die aus dem Land des Klassenfeindes kamen, umbenannt worden waren, aus Pizza »Krusta« wurde, aus Hot-dog »Kettwurst« und das Christkind, wenn möglich, aus den Liedtexten verschwand, hatte sich niemand die Mühe gemacht, die »Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft« umzubenennen, zum Beispiel in »Kommunistische Versorgung auf Schienen – Koveschi« oder »Kantine der Völkerfreundschaft – KadeVö«. Das war erstaunlich.

Nur das Angebot hatte sich sozialistischen Gegebenheiten angepasst. Es gab Bockwurst mit Brötchen, Bulette mit Kartoffelsalat und selbstverständlich den legendären Mitropa-Kaffee, dessen Geheimnis der mehrfach verwendete Kaffeesatz war. Optimale Ausnutzung der Ressourcen, in diesem Fall allerdings nicht zum Wohle der Volkswirtschaft, sondern zum Wohle des Verkaufspersonals. Beschwerden machten wenig Sinn, und es kursierten verschiedene Witze:

Gast: Herr Ober, das Schnitzel ist steinhart.

Ober: Dann bringe ich Ihnen eine Bulette!

Gast: Aber ich habe das Schnitzel schon angebissen?

Ober: Macht nichts, wir haben auch angebissene Buletten.

Im Hause von Großmutter Isa durfte sich weder über Zugverspätungen beschwert noch über Mitropa-Kaffee gelästert werden, denn Großvater Bruno arbeitete bei der Bahn. Wenn er nach seinem Dienst nach Hause kam, zog er noch vor dem Hauseingang seine Uniformjacke aus und hängte sie auf einen Kleiderbügel an einen extra dafür bestimmten Haken unter dem Vordach. Die Kleiderbürste lag immer auf dem Fensterbrett neben dem Vogelhäuschen. Bedächtig, Strich für Strich, bürstete der Großvater seine Jacke aus. Erst wenn sie eine Stunde gelüftet hatte, brachte er sie ins Haus und hängte sie an die Garderobe. Doch egal wie lange die Jacke lüftete, der Geruch hatte sich über die Jahre in den Filz eingenistet und blieb. Der »Bahnhofsgeruch«, wie ihn Isabella später nannte, war eine Mischung aus Schmieröl, dem Rauch der damals noch fahrenden Dampflokomotiven, abgestandenem Bockwurstwasser und einer Prise Herrenklo. Wann immer sie auf dem Korridor an der Jacke vorüberkam, drückte sie ihre Nase in den blauen Filz und sog den Geruch des Reisens ein. Damals war ihr die Welt riesengroß erschienen.

Als sie lesen konnte, hatte sie in dem Kursbuch geblättert, das immer neben der Eisenbahnermütze auf der Hutablage der Garderobe lag.

Die Zauberformel hieß »Minkewitz ab«, und dahinter folgten drei Punkte, die alles offen ließen. Wollte einer der Nachbarn verreisen, dann klingelte er am Abend und fragte den Großvater nach einer Verbindung. Und der Großvater blätterte bedächtig im Kursbuch und leckte jedes Mal an seinem Daumen, bevor er umblätterte.

Minkewitz ab.

Sellerau an.

Sellerau ab.

Die Dicke des Kursbuches gab dem Land eine immense Weite. Geheimnisvolle Bahnhöfe warteten darauf, dass Isabella sie betrat. War es in Ludwigslust wirklich lustig, gab es in Perleberg einen Perlenberg, und welches Geheimnis verbarg sich hinter Anklam und Jüterbog?

Der Zug wurde immer langsamer und stand. Isabella sah aus dem Fenster in eine Landschaft, für die ihr ganz unpoetisch nur das Wort »flach« einfiel.

»Der Zug steht!«, sagte der Mann mit dem silbernen Koffer.

»Ach«, sagte Isabella und zog in Oma-Isa-Manier die Augenbrauen nach oben.

»Isch meine ja nur.« Zu ihrer Überraschung schwang in seiner Stimme ein verweichlichter sächsischer Klang, ein Schlittern auf Konsonanten, der sich auch mit viel Mühe nicht aus der Sprache waschen ließ. So konnte man sich täuschen. Ein Ostdeutscher ausgestattet mit den Insignien eines westdeutschen Büroleiters. Das Schaf im Wolfspelz. Die Sprache verriet immer. Nicht nur der Dialekt, der in einigen Gegenden nicht eindeutig zuordenbar gewesen wäre, wie sollte man einen Ostberliner und einen Westberliner unterscheiden, sondern die Wortwahl. Wer Plaste statt Plastik, Kosmonaut statt Astronaut oder Kaufhalle statt Supermarkt sagte, war enttarnt. Das war auch fast drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall so.

Ganz schwere Vergehen waren Datsche oder Sprelacart. Auch bei den Zeitangaben schieden sich die Geister. Bestellte man einen Hamburger um Viertelsieben, kam sofort die Nachfrage: »Viertel nach sechs?« Aber waren das nicht eher regionale Unterschiede? Was sagte man in Castrop-Rauxel oder Bietigheim-Bissingen?

Der Sachse hatte sich nach dem Mauerfall zum Deppen der Nation qualifiziert. Benötigte man für einen Fernsehbeitrag Protagonisten aus dem Osten, die einen möglichst dümmlichen Eindruck machten, dann musste man sich nur mit Kamera und Mikrofon in Sachsen auf die Straße stellen, und der Lacherfolg war garantiert. Jetzt konnte man sich in BadenWürttemberg zurücklehnen und endlich zugeben, dass man alles außer »Hochdeutsch« konnte. Leider war es den Sachsen im Laufe der Jahre nicht gelungen, ihr Image zu verbessern, im Gegenteil. Und dazu hatten vor allem Pegida und die anderen »Idas« beigetragen. Verändert hatte sich nur, dass jetzt allen das Lachen im Hals stecken blieb. Isabella musterte den Mann gegenüber. Alles stimmte, der silberne Aktenkoffer, das weiße Hemd, der roter Schal, nur die Schuhe waren falsch. Beim näheren Betrachten bemerkte sie das fehlende Lochmuster. Und handgenäht waren die Schuhe auch nicht. Ein westdeutscher Mann, der etwas auf sich hielt, trug Brogues. Eine Freundin hatte die These aufgestellt, dass man Westdeutsche immer an den Gürteln in ihren Jeans und an ihren hochwertigen Schuhen erkannte. Es schien zu stimmen, denn auch der Gürtel fehlte.

Sie überlegte, was der Mann vor dem Mauerfall gemacht haben könnte. Hatte er in einem Büro gearbeitet? War er Parteimitglied gewesen? Nach ersten optischen Schätzungen war er etwa vierzig Jahre alt. In diesem Fall war die Antwort ganz einfach: Er war zur Schule gegangen.

Die fast dreißig Jahre im »Westen« waren nach Isabellas Empfinden ausgesprochen schnell vergangen. Sie hatte fast zehn Jahre mehr im Westen als im Osten verbracht, der Gedanke daran erschien ihr unwirklich. Lag es daran, dass im Alter die Zeit schneller verging? Oder waren DDR-Jahre wie Hundejahre, die mehrfach zählten?

Isabellas Erinnerungen lagen im Ungleichgewicht. Sie stellte es sich als eine Wippe vor. Auf der einen Seite saß das Kind Isabella, das, obwohl es kaum Gewicht hatte, die Wippe nach unten zog. Die Frau Isabella auf der anderen Seite, die deutlich mehr Gewicht aufbrachte, schwebte mit baumelnden Beinen in der Luft. Aber war es nicht generell so, dass die Erinnerung an die Kindheit und Jugend schwerer wog als an alle anderen Zeiten? Hatten sich nicht auch Großmutter Isa und Frau Magdas Erzählungen immer in einer Zeit bewegt, die weit zurücklag? »Das war, als du noch ›Quark im Schaufenster‹ warst«, hatte der Hallodri immer zu Isabella gesagt.

Die beiden jungen Menschen, die sich an der Abteiltür gegenübersaßen, waren in Isabellas Kindheit und Jugend noch nicht einmal »Quark im Schaufenster« gewesen und viel zu jung, um die DDR zu kennen. Wie auch das alte Ehepaar sprachen sie kein Wort miteinander, sondern nestelten nervös an ihren Telefonen, die jetzt nicht mehr Telefon, sondern Phone hießen. Jeder war für sich in seiner Phone-Welt versunken. Für die beiden wäre eine Erzählung über die DDR ebenso eine Märchenstunde gewesen wie für Isabella die Erzählungen von Großmutter Isa und Frau Magda vom Krieg.

Nur Großvater Bruno erzählte nie eine Geschichte. Der einzige Hinweis auf seine Vergangenheit war eine Narbe an seiner rechten Wade, die stets mit dem kurzen Kommentar »ein »Streifschuss« abgetan wurde. Darüber, wer auf Großvater Bruno geschossen hatte, wurde nie gesprochen.

Der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung, und dann tauchte die Vorstadt auf und die Bahnhofsgegend, die wie in allen Städten auf der Welt hässlich war.

Der Büroleiter klappte sein Notebook zusammen. Das beige Ehepaar räumte die Brotbüchsen in die Tasche. Nur die beiden jungen Menschen an der Tür starrten weiter auf ihr Phone und beachteten auch den Schaffner nicht, der über den Gang eilte, wahrscheinlich warteten sie darauf, dass ihnen auf dem Display angezeigt wurde, dass sie angekommen waren.

Kurz darauf kam die Durchsage: »Werte Reisende, in wenigen Minuten haben wir unseren Zielbahnhof erreicht. Unsere Zugfahrt endet hier.«

Es klang, als hätten sie gemeinsam einen Ausflug gemacht.

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