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Heute fragt sich Gundi, warum Django das damals gemacht hat. Weil er’s konnte? Viel schlimmer ist, dass Gundi sich erinnert, wie sie sich für ihren Freund schämte. Dass sie nach diesem Vorfall nicht mehr mit Franz rumhing und dass sie später, als sie sich von den größeren Buben umschwärmt fühlte, öfter sogar mitlachte über den Deppen Franz, der kurz zuvor ihr Freund gewesen war.

Sie hat sich selbst eingeladen. Wollte ihre ehemalige Schulfreundin noch einmal bitten, ihr als Kommunikationszentrum für den Hausverkauf zu dienen. Am Abend nach ihrem Wiedersehen im Laden sitzen Gundi und Liesi im Wohnzimmer im ersten Stock des Waldlerhauses, trinken Prosecco und schauen vom Sofa aus durch die große Fensterwand nach hinten hinaus der Sonne beim Untergehen zu. Eigentlich wollte Gundi sofort nach der Beerdigung wieder zurück in ihr altes Leben nach München. Zurück in ihre Wohnung, zurück zu ihren feuchtfröhlichen Abenden mit Ferdl und sogar zurück zu ihrem Job und den eher ungeliebten Kollegen.

»Weißt du eigentlich, wie dein Vater gestorben ist?«, fragt Liesi, und Gundi hat sofort ein schlechtes Gewissen, weil ihr diese Frage gar nicht in den Sinn gekommen ist. Seit sie voller jugendlichem Hass auf die Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Spießer ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, hat sie nur sporadisch Kontakt zu ihrem Vater gehabt. Ein einziges Telefonat an einem seiner Geburtstage hatte im Streit geendet und sie beließen es dabei, sich schriftlich und nur über das Nötigste auszutauschen. Immerhin hat die Nachbarin mit der Todesnachricht Gundi beim Tagblatt erreicht, so viel musste er sich also über seine missratene Tochter gemerkt haben. Dass er womöglich einsam oder sogar hilfsbedürftig geworden sein könnte, schießt Gundi erst jetzt durch den Kopf. Dass er vielleicht tagelang hilflos im Bett dahingesiecht ist. Dass er sogar Selbstmord begangen haben könnte.

»Er ist nicht an Altersschwäche gestorben?«

»Das würdest du dem alten Tyrannen nicht gönnen, was?« Liesi lacht. »Dein Vater wollt was sagen, auf der Bürgerversammlung beim Bräu«, fährt sie fort und wirft damit mehr Fragen auf, als es eine Antwort eigentlich tun sollte.

»Bürgerversammlung?«, fragt Gundi. Sie hat nicht einmal gewusst, dass es so etwas gab in Hintersbrunn.

»Ja, die haben wir jedes Jahr. Unser Bürgermeister, der Bernleitner Girgl, ist da vorbildlich. Er legt alles offen und jeder darf mitbestimmen. Bei uns geht’s echt demokratisch zu. Weißt du eigentlich, dass wir schuldenfrei sind, ich mein wir, die Gemeinde Hintersbrunn? Seit fünf Jahren!«

»Geh, Liesi, ich bin zwar lange weg, aber in Hintersbrunn, da haben doch schon immer die Schickaneders geherrscht. Von wegen demokratisch. Erst der Vater, dann der Sohn.« Gundi erschrickt ein bisschen über die Schärfe in ihrem Ton. Sie mag diesen kleinkarierten Heimatstolz an ihrer ehemaligen Schulfreundin überhaupt nicht.

Tatsächlich guckt Liesi ein wenig beleidigt. »Es ist nicht mehr wie früher«, sagt sie.

Verfluchte Scheiße, denkt Gundi, doch sie kann sich einfach nicht zusammenreißen. »Moderne Zeiten, Liesi!« Gundi stellt ihr leeres Proseccoglas ein wenig zu schwungvoll auf dem Wohnzimmertisch ab. »Heutzutage bestimmen nicht mehr die größten Bauern, sondern die reichsten Unternehmer. Das Prinzip bleibt dasselbe. Und wer ist der größte Unternehmer hier? Der Django, oder? Wieder ein Schickaneder!«

So viel hat Gundi nach der Begegnung mit ihrem einstigen Schwarm schon erfahren. Django ist der größte Arbeitgeber im Ort und Auftragnehmer von allen Gemeinden der Gegend. Um seine Baufirma herum haben sich andere kleinere Betriebe gebildet. Jeder auf irgendeine Art Zulieferer oder abhängig von den Aufträgen von »Schickaneder Bau«. Nichts, was der nicht gebaut hat hier, sagen die Leute. Und außerdem: Dem gehört das ganze Dorf.

»Der Bernleitner Girgl, unser heutiger Bürgermeister, ist anders«, verteidigt Liesi weiter ihr Dorf. »Der war sogar insolvent, bevor er Bürgermeister geworden ist!«

Als ob der Pleitegeier eine Qualifikation für politische Integrität wäre, denkt Gundi, beschließt aber, es gut sein zu lassen. Eigentlich will sie ja etwas über den Tod ihres Vaters erfahren.

»Warst du dabei, bei der Bürgerversammlung?«, fragt sie. »Hast du meinen Vater sterben sehen?«

»Ja, hab ich«, antwortet Liesi. »Er hat sich zu Tode aufgeregt.«

Sein Todestag begann für den alten Bäckermeister wie fast jeder Tag in den letzten 20 Jahren, seit er seine Backstube geschlossen und die Scheiben seines Ladens mit Zeitungspapier verhangen hatte. Das Aufstehen war in letzter Zeit schwieriger geworden. Inzwischen dauerte es über eine halbe Stunde, bis seine alten Knochen nach ihrer nächtlichen Totenstarre so beweglich waren, dass er seinen hinfälligen Körper in die Senkrechte bekam. Erst musste er eine Zeit lang am Bettrand sitzen, dann eine Weile stehen, mit dem Kopf an den Schrank gelehnt. Irgendwann kamen seine Beine in einen Bewegungsfluss, und er hangelte sich die Treppe hinunter in die Küche, wo er die abends befüllte Kaffeemaschine nur einzuschalten brauchte. Abgesehen von den morgendlichen Anlaufschwierigkeiten war der Bäckermeister dennoch recht agil für seine 90 Jahre. Er hatte einen festen Rhythmus. Jeden Wochentag holte er sich zur Mittagszeit ein warmes Essen beim Bräu. Meistens Würstel. Oft Leberkäse. Manchmal Dampfnudeln. Was er sonst brauchte, kaufte er auf dem Heimweg bei der Kramer Liesi, und was er dort nicht bekam, brachte ihm die Nandl mit, die Nachbarin, die ihm auch die Wäsche machte für fünf Euro. Am Nachmittag schlief er in letzter Zeit immer öfter vor dem Fernseher ein und dreimal die Woche ging er ins Wirtshaus zum Stammtisch. Was im Dorf los war, das interessierte ihn immer noch. Vor allen Dingen, wenn es um etwas ging, was er »spinnerte Neuerung« nannte, konnte er sich richtig aufregen: eine Straußenzucht beim Weber. Ein Ruhetag beim Bräu. Fettarme Milch. Ein schwarzer Pfarrer.

Aber nicht nur deswegen war die heutige Bürgerversammlung ein Pflichttermin für ihn. Der alte Bäckermeister hatte nämlich beschlossen, sich zu wehren. Denn etwas Ungeheuerliches war geschehen. Man wollte ihn vernichten. Ihm alles nehmen. Weil er sein ganzes Leben lang geschwiegen hatte.

Um 18 Uhr ging es los. Im großen Saal im Obergeschoss beim Bräu stellte Bürgermeister Bernleitner die Finanzlage von Hintersbrunn vor. Es wurde über einen neuen Straßenbelag abgestimmt, über den neuen Wertstoffhof debattiert und die Erweiterung des Friedhofs beschlossen. Die neue Laufbahn auf dem Sportplatz, die fast nichts kostete, weil der Fürbitten-Franz alles allein machte, wurde beklatscht. Neben dem Bürgermeister, den Gemeinderäten und dem Bauleiter all der ehrgeizigen Projekte, Joachim »Django« Schickaneder, waren fast alle männlichen Dorfbewohner da. Dazu ein paar engagierte Jugendliche und zwei Frauen. Eine davon die Kramer Liesi. Als der Bürgermeister mit seiner positiven Jahresbilanz fertig war, waren zwei Stunden vergangen, die meisten hatten drei oder vier Halbe intus, und dem alten Bäckermeister schlug das Herz bis zum Hals, weil er immer noch keine Gelegenheit gehabt hatte, das himmelschreiende Unrecht anzusprechen. Da ergriff Professor Sackbauer das Wort.

»Wer genau ist denn dieser Professor Sackbauer?«, fragt Gundi.

»Der hat den Kransederhof gekauft, vor jetzt …« Liesi muss ein paar Sekunden nachdenken. »Das muss jetzt 20 Jahre her sein. Weißt schon, der Kranseder, der mit seiner Frau da oben auf dem Hang zum Scheideggerholz ohne Strom und Wasser gehaust hat wie vor hundert Jahren. Vor dem wir Kinder uns so gefürchtet haben.«

»Ja klar. Ich weiß schon noch. Wenn du bei dem am Haus vorbeigehen musstest, ist er dir mit der Mistgabel hinterhergerannt!«, erinnert sich Gundi.

»Nicht wirklich«, verbessert Liesi sie und schüttelt milde lächelnd den Kopf. »Das haben uns die Erwachsenen und die großen Kinder nur eingeredet, damit wir Angst bekommen. Der war in Wirklichkeit ein ganz trauriger und verbitterter Mann. Eine alte Streitsache hat dem keine Ruhe gelassen. Meine Mutter hat erzählt, dass der Kranseder wahrscheinlich wegen nicht gewährter Rentenansprüche gemütskrank geworden ist und deswegen mit niemandem aus dem Dorf etwas zu tun haben wollte.«

Liesi macht eine Pause und sammelt sich.

»Auf alle Fälle hat der weltfremde Sonderling vor ungefähr 20 Jahren seine Frau umgebracht und sich ein paar Wochen später aufgehängt. Im Scheideggerholz.« Sie stutzt. »Da, wo der Franz gestern den Struppi gefunden hat.«

»Und? Hat man jemals aufklären können, was den Kranseder zum erweiterten Selbstmord getrieben hat?« Gundi muss heimlich über sich selbst lachen. Die alte Neugier aus den ehrgeizigen ersten Berufsjahren ist immer noch da.

»Nicht wirklich. Der Kranseder hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Sein Hof hat keinen Erben gehabt und ist an die Gemeinde gefallen. Einen handfesten Skandal hat’s damals gegeben, weil ausgerechnet Django, der Sohn vom Bürgermeister, das Grundstück haben wollte. Da sind die Leute auf die Barrikaden gegangen, von wegen Spezlwirtschaft und so.«

»Also hat der Django den Hof nicht bekommen …«

»Es hat sich ein Interessent von auswärts gefunden. Das war der recht bekannte Bildhauer Anselm Sackbauer. Von dem steht ein steinerner Reiter im Central Park in New York, in Salzburg soll er mal einen großen Brunnen entworfen haben, solche Sachen hat der gemacht.«

Gundi zieht ein Bein unter ihren Hintern und schaut in ihr Proseccoglas.

»Was will denn ein internationaler Künstler mit einem alten Bauernhof im Nirgendwo?«

»Der hat den ganzen Hof – verfallen, wie er war – und den ganzen Grund dazu von der Gemeinde gekauft und eine Pferderanch daraus gemacht. Ein Gestüt. Seine Pferde gewinnen Rennen und mit seiner Zucht macht der ein Riesengeschäft, sagt man. Inzwischen ist er ein Kunstprofessor in München, lebt aber die meiste Zeit auf dem alten Kransederhof.«

»Ich bin jetzt genau seit 20 Jahren wohlgelittener Bürger von Hintersbrunn und ich möchte etwas zurückgeben«, begann der Professor, nachdem er sich gegen Ende der Bürgerversammlung zu Wort gemeldet hatte. Etwas großspurig, wie es seine Art war, hatte er sich vor die Stuhlreihen der versammelten Dorfbewohner gestellt. Und wie immer hatte er seinen großen weißen Hund dabei, der ruhig und wachsam an seiner Seite saß und dem Professor eine herrschaftliche Aura verlieh.

»Ich möchte Hintersbrunn Ehre erweisen. Hier leben einfache Menschen. Menschen, die sich nicht hervortun, sondern die klaglos ihrer Arbeit nachgehen und ihre Kinder großziehen. Keine Berühmtheiten, keine großen Entdecker, keine Geistesgrößen und keine Helden.«

Die ersten Dorfbewohner schauten sich irritiert an. Will der uns beleidigen?

»Und ein Großkotz!«, rief einer und der ganze Saal brüllte vor Lachen.

Solcherlei gewohnt, ließ sich der Professor nicht beirren und predigte weiter.

»Aber manchmal, da geschieht es, dass die Zeiten nach Helden verlangen. Und dann stehen die Mutigen unter uns auf. Meistens Menschen, von denen man es gar nicht erwartet. Helden aus dem Volke.«

Die Bürgerversammlung wurde unruhig und man murmelte leise durcheinander. »Was redet denn der?«

»Wen meint denn der?«

»Was will denn der jetzt?«

»1945«, fuhr der Professor fort, »war so eine Zeit. Als der Krieg verloren war, war das Morden noch lange nicht vorbei. Belegt ist, dass es im Nachbardorf Haunzenberg zu einem Haberfeldtreiben kam. Eine SS-Werwolfkompanie übte in den letzten Kriegstagen Lynchjustiz an vermeintlichen Antifaschisten, fünf Männern und einer Frau, verraten von ihren Nachbarn und denunziert als Volksfeinde.«

Jetzt war es mucksmäuschenstill im Saal.

»Sinnloses Morden, tragische Schicksale!«, rief er sichtlich zufrieden. Jetzt hatte er sie. Er wurde lauter. »Aber es gab Mutige, die sich diesem Wahnsinn widersetzten! Die Schluss machen wollten mit dem Schlachten! Auch in Hintersbrunn gab es solche aufrechten und mutigen Menschen. Einer davon war Josef Krans­eder, dessen Tagebücher ich in München mithilfe eines befreundeten Professors für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte ausgewertet und nachrecherchiert habe.«

»Der sonderbare Kranseder? Der Hinterwäldler?«, erinnerte sich laut einer der anwesenden Bauern und der Professor nickte.

»Er und ein Gleichgesinnter, ein kleiner Landwirt namens Andreas Schmied, haben sich mutig den unverbesserlichen letzten Schergen des Nationalsozialismus entgegengestellt. Andreas Schmied hat dabei tragischerweise sein Leben verloren. Ermordet in der letzten Nacht des Dritten Reichs von …«

»Halt’s Maul!«, schrie Django und stand von seinem Platz in der ersten Reihe neben dem Bürgermeister auf. »Du redest von meiner Familie! Mein Onkel war damals erst 15. Er wusste es nicht besser, wie viele damals. Dass du ihn jetzt nach so langer Zeit an den Pranger stellst, das werde ich nicht zulassen!« Django war hochrot im Gesicht.

Der Professor schaute ehrlich bestürzt und in den hinteren Reihen brach Streit aus. »Es geht mir nicht um die Verurteilung der damals Verblendeten«, sagte er. »Ich möchte ein Mahnmal stiften. Eine Erinnerung an die mutigen Menschen des Widerstands aus euren eigenen Reihen! Damit nicht nur die Namen auf den Kriegerdenkmälern …«

»Schluss!«, schnitt ihm Django erneut das Wort ab und blickte nach hinten. »Was damals passiert ist, war tragisch. Dass mein Onkel … fast noch ein Kind … dass er kurz vor Kriegsende den Schmied im Streit erschossen hat, das wissen alle im Dorf.«

Ein paar der Dorfbewohner waren inzwischen aufgesprungen.

»Aufhören!«, schrie einer.

»Er hat seine Untat bereut und mit seinem Leben bezahlt«, versuchte Django die aufgebrachte Menge zu übertönen. »Hat sich am nächsten Tag, als die Ami-Panzer kamen …«

Da schepperte es hinten im Saal. Der alte Bäckermeister war aufgestanden und hatte dabei seinen Stuhl krachend umgeworfen. Die ganze Versammlung drehte die Köpfe nach hinten, wo Erwin Starck bis dahin unbemerkt gewartet hatte. Jetzt stand er da und schnaufte schwer. Er beugte sich nach vorn, stützte sich auf dem Tisch ab und fegte dabei sein Bierglas um.

»Der Vater war’s!«, stammelte er. »Nicht der Bub! Der Vater hat geschossen!«

Dann fasste er sich an die Brust, fiel vornüber und die Hölle brach los. Die Dorfbewohner schrien wild durcheinander. Der Hund des Professors fing an, laut und dunkel zu bellen. Die Tischnachbarn des Bäckermeisters versuchten, den leblosen Körper vom Tisch auf den Boden zu legen, und nestelten an dessen Hemdkragen herum.

»Einen Krankenwagen!«

»Stabile Seitenlage, du Depp!«

»Wasser! Wir brauchen Wasser!«

Der Nandl, die gerade zur Saaltür hereinkam, flog das Tablett aus der Hand, und mehrere Biergläser fielen klirrend und spritzend zu Boden. Jemand hatte ausgeholt und aus Versehen sie getroffen. Inmitten der ganzen Aufregung um den Bäcker hatte sich in einer anderen Ecke des Saals ein kurzer Wortaustausch zu einer Schlägerei entwickelt.

»Nazisau!«, schrie einer.

»Nestbeschmutzer!«, rief ein anderer.

»Du Arschkriecher!«, schimpfte einer, der sich die Faust rieb.

Einer der Bauernsöhne drückte seinen Tischnachbarn gegen die Wand. Ein anderer hob einen Stuhl drohend in die Luft. Alois Münchinger blutete aus der Nase. Der Bräu duckte sich unter einen Tisch und tippte auf seinem Handy herum. Nur Professor Sackbauer und Django standen unbeweglich vor dem Tumult und schauten zu. Django ergriff die Gelegenheit und schnappte sich die Unterlagen des Professors. Da bellte ihn dieser Drecks­köter an und der dadurch alarmierte Sackbauer riss sie ihm wieder aus der Hand.

Django hatte genug gesehen.

Ein großer Stein sollte es sein, mitten am Dorfplatz, direkt vor dem Greimerbräu, wo ihn jeder sehen konnte. Für jedermann zu lesen sollte dort stehen:

ZUM GEDENKEN AN ANDREAS SCHMIED, DER SICH DEN BEFEHLEN DES NAZISTISCHEN TERRORS WIDERSETZTE UND AM 30. APRIL 1945 DURCH NATIONALSOZIALISTISCHE MÖRDERHAND SEIN LEBEN VERLOR.

ANDREAS SCHMIED STARB FÜR SEINE GELIEBTE HEIMAT. DIESE GEDENKTAFEL SOLL MAHNEND AN DIE SCHRECKENSZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS ERINNERN.

Es spielte keine Rolle, dass der Name Schickaneder darauf nicht erwähnt wurde. Die alte Geschichte wäre wieder präsent in den Köpfen der Hintersbrunner. Man würde wieder darüber reden. Darüber, dass die »nationalsozialistische Mörderhand« einem Schickaneder gehört hatte, seinem Onkel, der anderntags beim Einmarsch der Amerikaner ums Leben gekommen war. Und dann würde man – wie beinahe geschehen – auf das alte Familiengeheimnis um den wahren Mörder stoßen. Und vielleicht auf viel mehr …

»Das ist ja der Hammer!«, entfährt es Gundi, als Liesi mit ihrer Erzählung von der Bürgerversammlung fertig ist.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, antwortet Liesi und nestelt am Verschluss einer zweiten Proseccoflasche.

»Was hat denn mein Vater gemeint mit ›Der Vater war’s, nicht der Bub‹?«, fragt Gundi endlich.

»Kennst du die alte Geschichte nicht, vom Schickaneder-Buben?«, fragt Liesi zurück.

»Ich glaub, ich hab sie als Kind einmal gehört. Aber eigentlich weiß ich sie nicht mehr«, antwortet Gundi.

»Also damals, wie die Amis in Hintersbrunn einmarschiert sind«, erklärt Liesi, »da hat einer der verbliebenen Söhne des Schickaneders auf die Panzer geschossen, während der ganze Rest vom Dorf die weißen Fahnen in die Fenster gehängt hat. Hat er nicht überlebt.«

»Einer der verbliebenen Söhne?«

»Ja, das ist eine tragische Geschichte. Ignaz Schickaneder hat im Verlauf des Krieges fast seine ganze Familie verloren. Seine Frau und zwei seiner Söhne. Und dann hat sich der dritte von den Amis erschießen lassen, wo der Krieg eigentlich schon vorbei war. Nur der Lorenz, der Vater von Django, ist ihm geblieben. Ignaz Schickaneder hat den Buben, bei dessen Geburt die Mutter gestorben ist, ganz allein aufgezogen und sein ganzes weiteres Leben nach dem Krieg dem Wohl der Gemeinde gewidmet.«

»Und was hat diese ganze Geschichte mit dem Widerstand der letzten Kriegstage zu tun?«

»Der Sohn, der sich von den Amis hat erschießen lassen, hatte am Abend vor dem Einmarsch der alliierten Truppen einen Nazigegner ermordet. Am nächsten Tag hat er sich ganz allein den Amis entgegengestellt. Manche sagen, es war Selbstmord aus Reue. Andere sagen, er war bis zum Schluss ein fanatischer Nazi.«

Gundi geht ein Licht auf. »Der Vater war’s, nicht der Bub«, wiederholt sie.

»Das geht mir auch nicht aus dem Kopf«, antwortet Liesi.

»Bedeutet das, dass Ignaz Schickaneder, euer sauberer Nachkriegsheld, in Wirklichkeit ein Nazi und Mörder war? Dass er es war, der den Widerständler gekillt hat?«

Liesi zuckt mit den Schultern.

»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Der alte Schickaneder hat sein ganzes Leben lang nur Gutes getan. Er hat die Raiffeisengenossenschaft gegründet, Baugrund erschlossen für die Vertriebenen nach dem Krieg, er hat Straßen gebaut und Flure bereinigt …«

»Jaja«, unterbricht Gundi und Liesi verstummt.

Gundi und Liesi haben es sich auf der großen Couch in Liesis Wohnzimmer bequem gemacht. Liesi hat eine kalte Platte hergerichtet, die Füße hochgezogen, und Gundi drückt sich eines der großen Kissen an den Bauch und wischt den Gedanken beiseite, dass sie sich so spät kein Schmalzbrot mehr gönnen sollte. Sie schweigen eine Weile und sehen sich gemeinsam ihr Spiegelbild in der inzwischen schwarz gewordenen Fensterwand an.

»Der Vater war’s, nicht der Bub.« Gundi wiederholt noch einmal die letzten Worte ihres alten Herrn. Offenbar hat ihr Vater gewusst, dass Ignaz Schickaneder nicht der Heilige war, der er vorgegeben hat zu sein. Dass der in Ehren gehaltene Alt-Bürgermeister in Wahrheit ein Mörder war. Und dass er den Mord seinem toten Sohn in die Schuhe geschoben hat. Aber warum rückte ihr Vater erst über 70 Jahre später damit heraus? Und warum ausgerechnet auf dieser Bürgerversammlung?

Als der Rettungswagen mit Blaulicht und dem unrettbaren Bäckermeister aus Hintersbrunn ins nächstgelegene Krankenhaus abgefahren war, saßen einige Teilnehmer dieser denkwürdigen Bürgerversammlung bis tief in die Nacht in der unteren Gaststube beim Bräu zusammen. Die meisten Dorfbewohner hatten sich in ihre Häuser verzogen, alle geschockt von der öffentlichen Herzattacke, viele, darunter die Kramer Liesi, mit dem unguten Gefühl, dass das der Auftakt für jede Menge Ärger war. Zurück blieben Django, sein Kumpel Alois, der sich einen Pfropfen aus einem Papiertaschentuch in die blutende Nase gesteckt hatte, und ein paar Bauern aus der Umgebung, die von der Rauferei zu aufgewühlt waren, um nach Hause zu gehen. Der Bräu, müde vom Streit mit seiner Gattin, weil er erst die Polizei gerufen, dann aber abgewiegelt und die Beamten wieder weggeschickt hatte, wollte diesmal nichts mit den Gesprächen am Tisch zu tun haben. Lieber polierte er hinter dem Tresen ein paar Gläser und schimpfte leise vor sich hin. Doch nicht die bald eingetroffene Nachricht vom Tod des alten Bäckermeisters erregte die Gemüter der Männer und auch nicht dessen mysteriöse letzte Worte.

Es war Sackbauer, der sie aufbrachte.

»Dieser zugereiste Störenfried, der unser Dorf zu einem Nazikaff machen will!«

»Als ob unsere Väter und Großväter alle Nazis gewesen wären!«

»Nur einer hätte sich aufgelehnt, sagt der! Ein Held war der gewiss nicht, der Schmied!«

»Und erst recht nicht der Kranseder, dieser Hungerleider und Querulant.«

»Stellt euch das vor, ein Nazidenkmal mitten im Dorf …«

»Nach Haunzenberg kommen heute noch Leute und fragen nach den Familien der Kriegsverbrecher!«

»Was das für einen Sinn haben soll, diese alten Schauergeschichten aufzuwärmen …«

»Dieses ewige Ausgraben von damals, dieses ewige Gerede von Schuld, das geht mir schon lang auf die Nerven!«

»Mir geht dieser Gutmensch mit seinem Gestüt auf die Nerven!«

Sie hatten sich um Django versammelt. Alle, die die Untaten ihrer Väter und Großväter endlich vergessen wollten. Die sich nicht schuldig fühlten und sich auf keinen Fall schuldig fühlen wollten. Die stolz auf ihr Dorf waren und auf alles, was sie und ihre Väter hier erreicht hatten.

»Ohne deinen Großvater wäre aus Hintersbrunn niemals so eine erfolgreiche Gemeinde geworden, scheißegal, wer vor hundert Jahr wen erschossen hat«, sagte Alois, der wie alle die letzten Worte des Bäckermeisters durchaus gehört hatte. Es war ihnen gleich, an wessen Händen Blut klebte. Sie wollten sich unter keinen Umständen einen Makel anheften lassen. Nicht auf ihrem Dorfplatz.

Django war das aber nicht genug. Es reichte ihm nicht, nur das Mahnmal zu verhindern.

»Der Sackbauer muss weg«, sagte er. »Der will unser ganzes Dorf in den Schmutz ziehen. Der gehört nicht zu uns. Der soll hingehen, wo er hergekommen ist.«

Plötzlich fiel ihm dieser blöde Hund ein, der ihn angebellt hatte und mit dem sich Sackbauer immer wie ein verdammter Gutsherr inszenierte. Dem werde ich zeigen, wer hier der Herr ist, dachte er und grinste, denn er hatte eine richtig geile Idee. Er stand auf und legte einen Fünfziger auf den Tisch.

»Das geht auf mich heute«, sagte er zum Abschied. »Wegen irgendeinem Bauernfünfer, der nichts hinterlassen hat, und einem Habenichts wie dem Kranseder, der seit Jahren vergessen ist, lasse ich das Andenken an meinen Großvater nicht besudeln«, verkündete er und ging.

Tatsächlich hatte Django nichts vergessen. Er kannte die Wahrheit über seinen Großvater seit vielen Jahren. Und er hatte sie von Kranseder erfahren. Damals.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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252 стр. 5 иллюстраций
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9783839269787
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