Читать книгу: «Salzburger Rippenstich», страница 3

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Die Frau Schneider schaut mich an, nein, eigentlich schaut sie an mir vorbei und nickt langsam. Sie ist grad ganz weit weg, gedanklich. Dieses Mal ist es sie, die redet, nicht ich.

»Spätnachts sind sie gekommen, mit der Maschinenpistole im Anschlag. Zu acht sind sie in unser Haus herein, haben herumgebrüllt. Verschwindet, haben sie gerufen. Und dann haben sie uns eine Viertelstunde Zeit gegeben. Wir konnten nur mitnehmen, was wir am Leib gehabt haben. Meine drei Geschwister und ich, wir haben gar nicht verstanden, was da los war. Ich bin die Älteste, zehn Jahre alt war ich damals. Die Kleinen sind aus dem Schlaf gerissen worden. Aber die Eltern, die haben uns gepackt und zur Tür hinausgeschleift, es ist ja um’s nackte Überleben gegangen.« Sie atmet schwer, die Frau Schneider, und ich setz mich behutsam neben sie.

»Wir sind die ganze Nacht gerannt. Zuerst in den Wald hinein, und dann einfach nur weiter. Irgendwohin. Nur weg, sonst hätten sie uns abgeknallt.«

»Und der Pechtl?« Noch verstehe ich nicht, wo der Zusammenhang sein könnte zwischen ihrer Geschichte und dem Pechtl, der früher Smolecek geheißen hat. Die Frau Schneider sammelt sich und kommt gedanklich wieder zu mir zurück. Sie schaut mich an. »Alle Einwohner mit deutschen Vorfahren wurden im Jahr 1945 aus dem Dorf vertrieben. Ausnahmslos alle. Vertrieben oder erschossen. Nur wer mit einem Tschechen verheiratet war, durfte bleiben.«

Ich frag nicht nach, sondern lasse sie selber weiterreden. Sie gönnt sich nur eine kurze Pause, atmet tief durch.

»Der Hubi war ein lediges Kind von einer tschechischen Magd. Seine Mutter, die Smolecek Anna, war Magd bei einem großen Bauern. Mit dem hat sie sich ein Pantscherl angefangen; es hat eingeschlagen. Und wie das halt so war damals: eine ledige Frau, schwanger, und noch dazu vom Bauern, war eine Last. Also hat sie weg müssen vom Hof, zurück zu ihren Eltern. Und dort hat sie das Kind bekommen. Den Hubi. Er ist furchtbar gehänselt worden von den anderen Kindern. Ledige Kinder haben es damals besonders schwer gehabt. Und Jahre später, bei der Vertreibung, da ist der Smolecek Anna das alles zum Verhängnis geworden. Als Tschechin hätte sie eigentlich im Dorf bleiben dürfen. Aber wegen dem unehelichen Kind aus dem Verhältnis mit dem Bauern … Ihre ganze Familie durfte bleiben.«

»Und wann sind die Pechtls nach Salzburg gekommen?«

»So genau weiß ich das nicht. Meine Familie hatte Verwandte in der Salzburger Gegend. Bei denen durften wir unterschlüpfen. Und Sie können mir glauben: Die haben keine große Freude gehabt mit uns. So kurz nach dem Krieg, da hat niemand viel zum Leben gehabt. Lebensmittel waren knapp und alles andere auch. Dann steht da plötzlich eine Familie mit vier Kindern vor der Tür und braucht Nahrung und ein Dach überm Kopf. Aber der Hubi … Der ist ohne seine Mutter hier angekommen. Warum es ihn ausgerechnet in dasselbe Dorf verschlagen hat wie uns … vielleicht Zufall. Jedenfalls war er knapp sechs Jahre alt und mutterseelenallein. Ich hab ihn dann aus den Augen verloren, aber ich glaub, irgendeine Familie hat ihn eine Zeit lang aufgenommen. Ich hab dann erst wieder von ihm gehört, als er volljährig war. Da hat er seinen tschechischen Namen schon längst eingedeutscht gehabt. Smole – Pech. Smolecek – kleines Pech. Pechtl.«

Clever. Und erschreckend zugleich, wie ein Name so uneingeschränkt zu einem Menschen passen kann. Das Pech war von Anfang an ständiger Begleiter im Leben vom Pechtl. Dass er von einem Bauern und dessen Magd gezeugt wurde, war sein allererstes Pech.

Frau Schneider steht auf und streckt die Hand nach dem Rezept aus, das der Drucker jetzt gnädigerweise doch noch ausgespuckt hat.

»Was dem Pechtl passiert ist, entschuldigt in keiner Weise auch nur irgendwas von alldem, was er angerichtet hat. Er hat sich einen Beruf ausgesucht, in dem er möglichst vielen Leuten viel Unglück bescheren konnte. Im Lauf der Jahre hat er sich einen Haufen Feinde geschaffen.« Sie faltet das Rezept und steckt es in ihre Handtasche. Dann gibt sie mir die Hand zum Abschied.

»Gute Besserung, Frau Dorn«, wünscht sie mir und verlässt die Praxis.

Auch Frau Doktor Fleischer ist längst nicht mehr da, also schließe ich alles ab und fahre heim.

Drittes Kapitel

Erzählt von zu viel Zwiebeln und Knoblauch. Laurenz lässt seinen Aasgeier-Charme spielen und verstimmt seine Mutter. Ich werde mit einer britischen Hobby-Kriminalistin verglichen, fühle mich aber nur bedingt geschmeichelt. Ein gesellschaftliches Ereignis weicht von der gewohnten Etikette ab und wird interessanter als befürchtet. Die Diva Salzburg ist in Wirklichkeit ein Dorf und meine beste Freundin ist mir ein Rätsel. Wir segeln Sturm und essen Brezen.

Die Praxis ist nur ein paar Minuten von meinem Zuhause entfernt.

Manchmal nimmt mir meine Schwiegermutter Hermi die Kocherei ab und schwingt den Kochlöffel für die ganze Familie. Sie wohnt praktischerweise gleich neben uns und ist deshalb für viele Mittagessen unsere Anlaufstelle. Hermi ist allerdings eine fleischfressende Pflanze und der Speiseplan nur bedingt verhandelbar. Ihre Vorliebe für deftige Fleischgerichte stellt unser aller Blutfettwerte auf die Probe. Heute steht Gulasch auf dem Speiseplan, soweit ich mich erinnere. Mit Serviettenknödeln und Vogerlsalat. Schon an der Haustür steigt mir der Duft von Zwiebeln und Knoblauch in die Nase; ich ahne Schlimmes.

»Mama! Schon wieder Knoblauch!« Laurenz. Hermis schärfster Kritiker in Sachen Kulinarik.

»Der ist sooo gesund«, zwitschert Hermi fröhlich. Sie will ihren Sohnemann von den Vorteilen der aromareichen Zutat überzeugen. Ein ehrgeiziges Ziel. Auf dem Tisch: ein großer Topf voll mit dampfendem Gulasch. Beim Anblick von Serviettenknödeln und Vogerlsalat rinnt mir das Wasser im Mund zusammen. Aber ich weiß schon, was den Laurenz stört: Das sehr knoblauchhaltige Mahl liegt zeitlich zu knapp bei unserem Nachmittagstermin. Hinz und Kunz werden in zwei Stunden, dicht aneinandergedrängt, den Festreden lauschen und beim Smalltalk maximal eine Armlänge von ihm entfernt sein. Da bekommt das Wort »Dunstkreis« dann gleich eine andere Bedeutung. Eine Knoblauchfahne ist daher ein absolutes No-Go. Für solcherlei Fauxpas ist mein Mann definitiv zu eitel. Seine Mutter hingegen betrachtet Mundgeruch eher als natürliche Auslese der Gesprächspartner.

Sie bringt es auch fertig, im Frühling jeden Tag frisch gepflückten Bärlauch zu essen. Wenn es sein muss, sogar vor einem Zahnarzttermin! Meine Schwiegermutter hat, was peinliche Momente angeht, ein Gemüt wie ein Metzgerhund. Daher also Knoblauch im Gulasch, und zwar in rauen Mengen, weil gesund. Laurenz verweigert bockig seine Portion und schimpft vor sich hin. Weil er ja Gulasch eigentlich gerne isst, heute aber aus Termingründen standhaft und in weiterer Folge hungrig bleiben muss. Hermi wiederum grantelt, dass sie jedes Mal umsonst kocht und niemand etwas isst. Dass sie wieder alles wegschmeißen kann. Und dass sie sich das Schälen von fünf Kilo Zwiebeln und zehn Zehen Knoblauch hätte schenken können.

»Zehn Zehen???«, ist der Laurenz entsetzt. »Auf gar keinen Fall ess ich das!« Er schneidet seinen Serviettenknödel jetzt so energisch, dass das Messer auf dem Teller quietscht und ich eine Ganslhaut bekomme. Natürlich kommt umgehend die Beschwerde, dass ihm der Knödel viel zu trocken ist. Hermi verschränkt die Arme über der Brust und schaut ihm beleidigt zu, wie er den Knödel runterwürgt.

»Weilst keinen Gulaschsaft zum Eintunken hast, freilich! Isst halt einen Salat dazu, dann rutscht’s leichter runter!« Ein überflüssiger Vorschlag, denn sie weiß ganz genau, wie sehr ihr Sohn Salat verabscheut. Aber jetzt ist sie eben beleidigt, weil er ihr Gulasch verweigert, und drum will sie ihn ein bisserl ärgern. Zum Schlagabtausch zwischen Mutter und Sohn kann ich nichts beitragen, also bringe ich meine Portion Gulasch mit einer kräftigen Prise Chili auf Vordermann und bin in Gedanken in meinem Kleiderschrank. Was soll ich zur Eröffnungsfeier anziehen??

Jeans, Reiterstiefel, Bluse, Gamsfrackerl und dazu ein handbedrucktes Ausseer Seidentuch: eine Möglichkeit. Stilsicher. Trachtig-elegant passt immer. Ich beende mein Mahl mit einer Tasse Espresso; die beiden streiten immer noch. Dass ich mich von Hermi verabschiede, entgeht ihr komplett, da sie gerade Laurenz’ unbenutzten Löffel zurück in die Schublade wirft.

Ich gebe meinem Outfit mit dem passenden Make-up den letzten Schliff. Laurenz steht hungrig und übellaunig in der Tür zum Bad und mustert mich. Es ist die Sorte Blick, die ich nicht leiden kann: Kritik. Keine drei Sekunden später kommt auch schon die Frage: »Du gehst doch nicht so?«

»Doch. Was ist falsch daran?«

»Na ja, die Jeans …«

»… sitzt perfekt!« Ich konzentriere mich auf den Lipliner und lasse Laurenz links liegen.

Außerdem ist nicht meine Garderobe schuld an seiner Laune, sondern der Hunger. Und die Einweihungsfeier. Seine Laune ist am Tiefpunkt, denn Termine dieser Art sind ihm zutiefst zuwider. Er hasst die Festreden, das lange Herumstehen, das Aufmarschieren der Musikkapellen in Endlosschleife. Die Bierzelte, das Händeschütteln und den unerträglich hohen Lärmpegel. Die viel zu eng gestellten Bänke, die winzigen Pappteller und die ausgezutzelten Würstel, zu denen es immer Senf gibt, nie Kren. So richtig wohl fühlt er sich erst, wenn er Fragen zu seinen Entwürfen oder zum Bauen allgemein beantworten kann. Da geht ihm das Herz auf. Stundenlang könnte er über die Form und Funktionalität von Dächern referieren, von Isolierungen schwafeln oder dichte Kellerwannen empfehlen. Leider passiert es äußerst selten, dass er die Lobhudelei und überreichten Blumensträuße übersteht und bis zum interessanten Teil der Feier durchhält.

Laurenz ist mittlerweile im begehbaren Kleiderschrank verschwunden. Als ich die Tür aufmache, steht er in Socken und Unterhose vor dem Regal und sucht im Stapel mit den dunkelblauen Wollpullis nach seinem liebsten dunkelblauen Wollpulli.

Ich lehne mich lässig an den Türstock und verschränke die Arme. »Schon komisch, das mit der Leiche, oder?«

»Mhm.« Er zieht eines seiner gut 30 weißen Hemden – alle gleich – vom Bügel und schlüpft hinein. Obwohl in Schnitt und Größe alle aus einem Guss sind und sogar vom selben Hersteller, behauptet der Laurenz, er habe ein Lieblingshemd.

»Wenn dir das mit dem Hundebiss nicht passiert wäre, wärst du gestern sicher noch mit dem Rad zur Fundstelle gefahren, oder?« Er schaut sich suchend nach einem Gürtel um, findet aber nichts Passendes. In seiner Gürtellade krame ich nach einem Exemplar, das noch nicht allzu abgewetzt ist, und bemühe mich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Könnte schon sein.«

»Ist mir ein Rätsel, welche Faszination Leichen auf Frauen ausüben!« Er nimmt den Gürtel, den ich ihm entgegenhalte, und zieht ihn durch die Schlaufen.

»Wieso?«

»Na ja …«, sagt er, während er sein Hemd in den Hosenbund stopft, »schau dir doch einmal die Krimis im Fernsehen an! Lauter Frauen!«

»Die Leichen?«

»Nein. Die Hobby-Detektivinnen. Lauter gelangweilte Weiber, die herumgschafteln.«

Schwer, jetzt noch cool zu bleiben. »Also bitte! Miss Marple ist ein Klassiker, aber doch keine gelangweilte Gschaftsnasen!«

Der Laurenz setzt einen mitleidigen Blick auf. »Geh, Klassiker! Nur weil sie die erste Detektivin in Krimis war! Freilich ist das bei den Leuten gut angekommen. Allerdings deshalb, weil’s das vorher nicht gegeben hat! Aber wurscht, es muss ja nicht die Miss Marple sein! Weibliche Ermittler gibt’s ohnehin zum Saufüttern. Zum Beispiel die Sendung mit den Freundinnen in dem oberösterreichischen Kaff. Vier Frauen und ein …«

»… Todesfall?« Eine meiner Lieblingssendungen.

»Genau! Klumpert-Sendung! Aber den Leuten gefällt’s! Und warum?« Er ist mittlerweile fast fertig und knöpft die Manschetten an den Ärmeln zu. »Weil es um die Eitelkeit geht!«

Ich versteh nur Bahnhof. »Es geht um die Aufklärung von Morden in einem Dorf, nicht um Äußerlichkeiten!«

Laurenz schnappt sich einen Pulli und dreht das Licht ab im begehbaren Kleiderschrank.

»Eben! Die Aufklärung von Morden! Bei all diesen Sendungen ist mindestens ein Polizist dabei, der zwar den Mörder finden sollte, aber als Detektiv nix taugt. Ein Volldepp sozusagen.« Er wischt mit einem Microfaserfetzen über seine Schuhe, bevor er sie anzieht.

»Aber jede Sendung hat auch mindestens ein Weib als Gegenpol zu dem Volldeppen. Meistens sind die Damen schon im gesetzten Alter, leicht übergewichtig, mit Wetterfleck oder Ischler Hut. Manchmal kommt auch eine ganze Wetterfleck-Armada daher. Und diese Gschaftsnasen haben natürlich die Weisheit mit dem Löffel gefressen und den Fall im Handumdrehen gelöst. Der Polizisten-Volldepp wiederum hat keinen Plan, wie sie das hingekriegt haben, weil er als Dorftrottel in Uniform intellektuell hinterherhinkt. Und somit werden die Pseudoermittlerinnen zu Intelligenzbestien stilisiert und in ihrer Eitelkeit bestätigt!«

Aha. Ich lasse die Theorie kurz auf mich wirken. Wenn ich sie richtig verstehe, hegt der Laurenz die Befürchtung, dass ich mich zu einer Wetterfleck-Gschaftsnasen entwickle und schlauer bin als die Polizei. Und mich, im Versagensfall, lächerlich machen könnte. Was wiederum zur Folge hätte, dass ihm, Laurenz Dorn, die Peinlichkeit nicht erspart bliebe, sich als Ehemann einer Möchtegern-Detektivin outen zu müssen. Im schlimmsten Fall als Ehemann einer erfolglosen Möchtegern-Detektivin. Genau genommen geht es also weniger um den Mord, von dem noch nicht einmal feststeht, dass es einer war, sondern um die Eitelkeit meines Mannes. Nur weil ich mich dafür interessiert habe, warum mir der Pechtl in der Nähe von dem Toten begegnet ist. Und sich nur in der Nähe eines Toten zu befinden, heißt noch lange nichts. Schließlich war ich auch in der Nähe des Toten, genau wie der Fischer Xaverl und die Hermi. So gesehen wären wir alle verdächtig. Natürlich klebt an der Theorie von meinem Mann ein kleiner Batzen Wahrheit. Muss ich zugeben. Zumindest, was die Hauptfiguren in Krimiserien betrifft. Die Fernsehkrimis haben deshalb so hohe Einschaltquoten, denke ich mir, weil Menschen wie du und ich komplizierte Mordfälle lösen. Nicht der durchtrainierte, braungebrannte Supercop bringt den Mörder zur Strecke, sondern die unscheinbare Nachbarin, das Mauerblümchen, dem man so etwas nie und nimmer zugetraut hätte. Bis zu einem gewissen Grad kann man sich mit diesen Normalos also ganz gut identifizieren. Wenn nach 45 Minuten Sendezeit der Fall gelöst ist, verspürt man – im Idealfall – sogar einen leichten Anflug von Stolz: Ich hätte das auch gewusst. Und freut sich auf die nächste Folge respektive den nächsten privaten Ermittlungserfolg. Trotzdem ist da ein Haken.

»Es gibt aber auch erfolgreiche Krimis, in denen Männer die Fälle lösen! Sind das dann auch gelangweilte Gschaftelhuber?«

Ein ungläubiger Blick von meinem Mann. »Nämlich welche?«

»Hercule Poirot zum Beispiel! Wie Miss Marple ist er ebenfalls eine Ermittlerfigur von Agatha Christie, aber halt ein Mann.«

»Das ist doch ganz was anderes!«

Da bin ich aber neugierig. »Aha, und warum?«

»Weil Hercule Poirot sowieso ein Detektiv ist! Der große Hercule Poirot! Ein pensionierter Detektiv, aber immerhin! Miss Marple dagegen ist eine schrullige Alte, die beruflich nie etwas mit der Aufklärung von Verbrechen zu tun hatte.«

Kurz vor dem Schleudertrauma lasse ich das Kopfschütteln und fasse den Schmarrn, den mein Mann gerade von sich gegeben hat, zusammen:

»Soll heißen: Agatha Christie hat zwei geniale Ermittler erschaffen: Miss Marple und Hercule Poirot. Während der Mann der geniale Ermittler ist, ist die Frau nur eine …«

»… gelangweilte Gschaftsnasen im Wetterfleck! Und drum ist es besser, du überlässt die Sache mit der Fürstenbrunner Leiche den Profis. Es sei denn, du willst dich lächerlich machen.« Er schaut mich herausfordernd an. Die Antwort, die mir auf der Zunge liegt, verbeiße ich mir mühsam. Als nach ein paar Sekunden immer noch kein Einwand meinerseits kommt, gibt er mir ein Bussi auf die Nasenspitze. Es kostet mich kolossale Überwindung, den Kopf nicht wegzudrehen.

Er schnappt sich den Autoschlüssel und schaut auf die Uhr. »Und: Bitte zieh dir was anderes an!«

»Ich gehe so oder gar nicht!« Schließlich bin ich ein großes Mädchen und habe meine Prinzipien.

Zehn Minuten später sitzen wir im Auto: er im Pulli, ich im Dirndl. So viel zum Thema Konsequenz.

Der Ablauf der Einweihungsfeier weicht komplett von meinen Erwartungen ab, denn die Aufmerksamkeit der Gäste hat sich verlagert. Nicht das neue Gemeindezentrum, sondern der Leichenfund ist Gesprächsthema Nummer eins. Alles Getuschel und Gemurmel dreht sich um den Toten von Fürstenbrunn: »… schon gehört – grauslich – genau dort geh ich auch immer spazieren! – gefährliche Gegend – immer schon gewusst – eh nicht gekannt.« Sämtliche Hörgeräte sind auf maximale Lautstärke gedreht, heute will niemand etwas verpassen. An diesem Nachmittag findet im Festzelt das größte Stille-Post-Spiel statt, das ich je erlebt habe, und nichts ist uninteressanter als das neue Bauwerk geschweige denn der Architekt dahinter. Der Bürgermeister hätte seine Festrede auf Bengali halten können; es wäre niemandem aufgefallen. Zuerst spult er seine rhetorische Allerweltsleier noch tapfer ab, aber irgendwann ist es ihm zu anstrengend, gegen die Gäste anzuschreien, und er gibt auf. Er tut mir fast ein bisschen leid, als er den Zettel mit seiner Rede resigniert zusammenknüllt und in den nächstbesten Mistkübel schmeißt. An vollkommenes Desinteresse ist er nicht gewöhnt. Aber er hat sich schnell im Griff und passt sich der neuen Situation an; eine Eigenschaft, die meiner Meinung nach zur Grundausstattung eines Politikers gehört, wahrscheinlich sogar überlebenswichtig ist. Mit einer energischen Handbewegung scheucht er den Bauamtsleiter, der sich gerade mühsam durch die unwillige Menge zum Rednerpult schiebt, zurück auf seine Bierbank. Auch das fällt kaum jemandem auf. Die Musikkapelle spielt einen Tusch, das Bierfass wird angezapft, die Wärmebehälter geöffnet und der Schweinsbraten angeschnitten. Beinahe eine Stunde früher als sonst beginnt das große Fressen, und meine 60-Minuten-Theorie wird um einen Erfahrungswert reicher. Der Laurenz wirkt gefasst und lässt sich nichts anmerken, aber das Ganze ist auch für ihn eine neue Situation. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob er die Lobhudelei und das Durchschneiden des roten Bandes vermisst, aber er wirkt zumindest ein bisschen verstört. Abweichungen vom strikten Protokoll überfordern ihn leicht.

Der Bürgermeister setzt sich zu ihm, und nach ein paar Minuten Schweigen und ratlosem Schulterzucken spülen die beiden ihr angekratztes Ego ordentlich mit Bier durch und geben sich hemmungslos die Kante. Frustsaufen. Die restliche Feier hocken die beiden wie auf einem unentdeckten Eiland; um sie herum wuselt, schreit und flüstert es, aber niemand nimmt Notiz von ihnen. Aus reiner Neugierde mische ich mich unter die Festgäste; stelle mich um eine Schnitte trockenen Schweinsbraten an und hole mir einen Krug Bier, obwohl ich eigentlich Weintrinkerin bin. Warteschlangen vor der Essensausgabe sind normalerweise die Nachrichten-Hotspots bei gesellschaftlichen Anlässen, aber wirklich Neues hat der Tratsch um mich herum nicht zu bieten, wie sich herausstellt. Und weil ich mich daran nicht beteilige, fällt mir auf, was jenseits des Fressgelages passiert. Dass ein paar Kinder quietschend herumlaufen und eine Art Trophäe hochhalten, zum Beispiel. Einer der Buben gehört zum Gasthaus »Alte Hex« in Sankt Leonhard. Der Sohn vom Wirt rennt den anderen davon, bleibt immer wieder stehen und hält einen länglichen Gegenstand hoch, der in der Nachmittagssonne glitzert. Die anderen Kinder, einige davon gehen mit Lisi in eine Klasse, versuchen ihn zu erwischen und ihm das Ding zu entreißen. Außerdem findet zu späterer Stunde hinter dem Festzelt eine handfeste Schlägerei statt; ein paar junge Männer, allesamt stämmig und vom Freibier gezeichnet, lassen ihre Fäuste fliegen. Nichts Unübliches für eine Feier dieser Größenordnung. Einzureihen unter Bewegungsdrang nach der langen Sitzerei auf Bierbänken, denke ich und mache mich auf die Suche nach einer Toilette. Das gemietete Kunststoff-Klohäuschen neben dem Festzelt ist aber dermaßen versifft, dass ich es der Wartenden hinter mir gern überlasse und mich ins nächstgelegene Gebüsch verziehe. Gott sei Dank ist es mittlerweile fast dunkel, und außer mir will sich niemand den Hintern am Gestrüpp zerkratzen. Mit geübtem Handgriff wurschtele ich den Dirndlrock in die Höhe und treffe alle anderen Vorkehrungen, um es in die Wiese plätschern zu lassen. Die anschließende Erleichterung durchströmt mich bis in die letzte Faser meines Körpers, denn nichts ist unangenehmer als eine volle Blase in einem engen Dirndl. Allerdings trifft der Strahl nicht den Boden, sondern prallt irgendwo ab und ändert die Richtung. Es klingt blechern. Ich erledige das Notwendigste mit Taschentüchern, ziehe mich wieder an und kneife die Augen zusammen: Etwas Glänzendes liegt in der Wiese, natürlich nass. Vor dem Aufheben wische ich es trocken; es ist das Ding, mit dem die Kinder am Nachmittag gespielt haben. Aber was genau es ist, erkenne ich erst unter dem funseligen Licht einer Straßenlaterne: rechteckig, leicht und hell. Ein Autokennzeichen. Am linken äußeren Rand kann ich zwölf EU-Sterne auf einem blauen Band erkennen und darunter zwei Buchstaben: CZ. Tschechien.

Am Sonntag fahren wir mit den Kindern zum Ruperti-Kirtag in die Stadt. Wunderbares Herbstwetter und die Vorfreude auf Bauernkrapfen und gebratene Mandeln lassen einem das Herz im Dirndl höher hüpfen.

Die Stadt Salzburg ist eine wandelbare Diva, die ihren Wert kennt. Das ganze Jahr über bietet sie Abertausenden Touristen Unterschlupf. Hochpreisig, versteht sich. Gönnerhaft erlaubt sie ihnen im Gegenzug, scharenweise die engen Altstadtgässchen zu verstopfen. Im Sommer während der Festspiele ist Salzburg noch teurer als sonst, dazu noch mondän und elegant. Die Altstadt wird porentief rein geschrubbt, die Aufträge an sämtlichen Baustellen termingerecht abgeschlossen, die Kühlräume der Spitzengastronomie mit erlesenen Magenfüllern bestückt. Das Rascheln der Abendkleider, das Klack-Klack der Highheels und die A-, B- und C-Promis auf dem Weg ins Festspielhaus gehören zum Salzburger Sommer wie die Preiselbeeren unter die Nockerl. Pro Jahr betten mehr als drei Millionen Gäste ihr Haupt auf einem Kopfpolster in der Mozartstadt. Die Fiaker karren seit beinahe 100 Jahren gehfaules, zahlungskräftiges Publikum an den Barockbauten vorbei und haben Debatten über Pferdewindeln und Gummihufe geduldig überdauert. Touren zu den Highlights der Sehenswürdigkeiten werden mittlerweile auch im Doppeldeckerbus oder mit dem Salzachschiff angeboten. Hat man alle bedeutenden Kirchen der Stadt gesehen, kann man die Pfade der singenden Maria von Trapp als Fahrradtour abklappern oder sich von Musikstudenten mit Livree und Perücke gesanglich einlullen lassen. Aber die Diva hat nicht nur Weltoffenheit und Kultur in ihrem Repertoire, sondern auch Traditionsbewusstsein und Brauchtum. Die frühere Residenzstadt, die von Fürsterzbischöfen nach Belieben niedergerissen, umgestaltet und schließlich als persönliches Denkmal wieder aufgebaut wurde, ist manchmal ganz für die Salzburger da. Zu Ehren des Landespatrons Rupert findet für einige Tage im September ein Kirtag statt. Die großen Plätze um Mozartdenkmal, Residenzbrunnen und Kapitelschwemme sind dann vollgepfercht mit Fahrgeschäften, Zuckerwatte-Verkäufern, Schießbuden und Lebkuchenherzen. Vor dem Dom kann man Kitschiges und Süßes kaufen, Würstel essen und Bier trinken und mit etwas Glück ein halbwegs sauberes öffentliches WC ergattern.

Der Kirtag dauert immer vom Mittwoch vor dem 24. September, der dem heiligen Rupert geweiht ist, bis zum nächsten Sonntag und endet mit einem fantastischen Feuerwerk. Also heute.

Über die lange und bucklige Moosstraße fahren wir von Glanegg in die Stadt und parken unsere Familienkutsche in der Mönchsberggarage. Meine Töchter und ich im Dirndl, Max und Laurenz in der Lederhose, denn Kirtag gleich Brauchtum gleich Tracht. Vorbei am altehrwürdigen Stift Sankt Peter schlendern wir in Richtung Domplatz, und der Lärmpegel steigt mit jedem Meter, den wir zurücklegen.

Am Kirtag ist die Hölle los. Überall klebrige Finger und Zuckerwatte, dröhnende Fahrgeschäfte und kichernde Hexen aus der Geisterbahn. Balzende Teenager beweisen ihre Männlichkeit beim Hau-den-Lukas oder beim Entenfischen, je nach Geschick, und hängen ihren Angebeteten die ergatterten Lebkuchenherzen auf das dralle Dekolleté. Und wir mittendrin.

Wir bleiben bei einem Standl stehen und kaufen gebrannte Mandeln, um erst einmal den Blutzuckerspiegel zu heben und uns zu stärken. Punktgenaues Zielen ist nicht unbedingt meine Spezialdisziplin, also lasse ich beim Dosenschießen meiner Familie den Vortritt. Lisi freut sich wie eine Schneekönigin über den ersten Treffer und sucht sich einen unglaublich hässlichen Schlüsselanhänger in Bärenform aus.

Auf dem Kapitelplatz und dem Residenzplatz stehen die meisten Fahrwerke. Jedes hat seinen fixen Standort, und das schon seit Jahren. Am Domplatz sind die Standln mit dem Krimskrams; von gefilzten Hüttenpatschen über Lebkuchenherzen, Ledergeldtascherln in quietschigen Farben, Küchenschürzen mit aufgedruckten Riesenbrüsten oder Luftballons in Schlumpfform gibt es einfach alles. Der Mozartplatz gehört den Handwerkern. Salatschüsseln aus Olivenholz, gedrechselte Massageroller, geflochtene Brotkörbe oder erlesenen Zirbenschnaps: es wird alles feilgeboten, was das Herz begehrt. Und der bronzene Wolfgang Amadeus steht mitten im Getümmel und schaut auf alles herab.

Wir sitzen vor dem ehemaligen Café »Glockenspiel« auf Bierbänken und strecken bei Würstln mit Kren und Stiegl-Bier unsere Gesichter in die herbstliche Nachmittagssonne.

Zwei Polizisten schlendern gemächlich an uns vorbei, völlig eins mit sich und der Welt. Sie halten pflichtschuldigst Ausschau nach potenziellen Störenfrieden, aber weit und breit ist keine Schlägerei zu sehen, die unterbrochen werden müsste. Die paar Betrunkenen, die herumtorkeln, sind noch nicht in Angriffslaune.

Apropos Polizei: Mittlerweile ist genau eine Woche vergangen, seit der Unbekannte mit zerdepschtem Schädel an der Glan gefunden wurde. Ich denke an die Volldeppen­theorie vom Laurenz. Bisher kann die Polizei keine brauchbaren Ergebnisse vorweisen. Nicht einmal unbrauchbare. Sogar die Patienten in der Praxis haben sich lautstark und intensiv damit beschäftigt, warum in der Sache nichts weitergeht. In der Zeitung war nur ein spartanischer Zweizeiler zu lesen: Spaziergänger haben vergangenen Sonntagnachmittag am Fürstenbrunner Glanunfer einen unbekannten Toten gefunden. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise. Das war alles. Und dann, gestern: Im mysteriösen Todesfall eines Mannes an der Gemeindegrenze zwischen Fürstenbrunn und Wals tappt die Polizei weiterhin im Dunkeln. Wen wundert’s, dass TV-Serien mit Wetterfleck tragenden Ladys in der Ermittlerrolle so erfolgreich sind? Man müsste sich halt einmal die Frage stellen, ob der arme Kerl wirklich gestolpert ist oder ob er gestolpert wurde. Und ob jemand einen Mann vermisst, auf den die Beschreibung vom Fischer Xaverl passt. Muskulöser Kerl Anfang 20, T-Shirt mit komischem Schriftzug und auffallend große Füße. Damit müsste man doch was anfangen können, oder? Zumindest ein Foto vom »T-Shirt mit komischem Schriftzug«, eventuell in der Zeitung veröffentlicht, wäre hilfreich, denn was kann man sich unter »komisch« vorstellen? Gar nichts! Wie soll man denn bitte sachdienliche Hinweise bringen, wenn es keine Anhaltspunkte gibt? Stattdessen gammelt der Kerl irgendwo mit einem Zettel am Zeh vor sich hin. Was passiert eigentlich mit einem unbekannten Toten, den niemand vermisst? Die Frage habe ich mir schon öfter gestellt. Eine Zeit lang kann er wahrscheinlich in irgendeinem Kühlhaus liegen bleiben, aber wahrscheinlich ist spätestens nach ein paar Wochen Schluss damit. Und dann? Wenn immer noch keine Angehörigen aufgetaucht sind, die ihm die letzte Ehre erweisen und sich um ein ordentliches Begräbnis kümmern? Vielleicht, stelle ich mir vor, gibt es für solche Fälle eigene Vorgangsweisen. Spezielle Gräber, in denen namenlose Tote ihre letzte Ruhestätte finden. Aus Kostengründen eher kein Einzelgrab, sondern WG post mortem. Günstiger Sarg, keine Blumen, versteht sich. Traurig eigentlich. Wenn die Polizei nicht bald herausfindet, woran der muskulöse Mann mit den großen Füßen gestorben ist, wird er sich wohl auf so ein No-Name-Grab einstellen müssen. Leider ist unter unseren Patienten kein Polizist, den ich ganz diskret nach dem aktuellen Stand der Dinge fragen könnte. Dahingehend hab ich mich schon schlaugemacht und die Kartei durchforstet. Und ich kenne auch niemanden, der einen Polizisten kennt.

Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf das alte Kettenkarussell und die Mozartstatue. Gemütlich schlendern wir durch das Gewusel an Kindern mit Luftballons, verliebten Pärchen mit überdimensionalen Kuscheltieren und kichernden Teenagern in Dirndl und Sneakers. Die Kinder kaufen sich Schaumrollen und stellen sich beim Sturmsegler an.

»Na, hast mich vergessen, du untreue Seele?« Ich fahre herum und sehe: Weninger Vroni.

Jessasmarantjosef, ich hätte mich um vier Uhr beim Sturmsegler mit ihr treffen sollen. Mittlerweile ist es halb fünf.

»Ich hab dich gefühlte 20-mal angerufen, aber bei dem Lärm hier«, sie macht eine kreisende Handbewegung und meint den Kirtag, »hört keine Sau ein Handy-Gebimmel. Drum hab ich mir gedacht, ich hol mir ein Schnapserl als Belohnung fürs Warten.«

Seit unserem sechsten Lebensjahr sind wir beste Freundinnen. Wir haben den Hype um Discoroller, Duftbleistifte, Pickerlalben und New Kids on the Block gemeinsam durchgemacht. Wir waren zusammen fischen, wandern und auf Sportwoche. Die Vroni kennt mich also wie ihre Westentasche und umgekehrt. Während Laurenz und Franz, Vronis bessere Hälfte, den Kindern Geld für Schokobrezen geben, ziehe ich meine Freundin ein wenig zur Seite und erzähle ihr von der Fürstenbrunner Leiche.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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312 стр. 5 иллюстраций
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9783839269800
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