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Der Mauerfall – ein Geschenk mit Langzeitwirkung?

Im November 1989 ist die Berliner Mauer gefallen. Jahrzehntelang war sie ein Symbol der Unfreiheit und Ausdruck der Abgrenzung zwischen verfeindeten Machtblöcken. Als die innerdeutsche Trennung überwunden wurde, hatte dies Folgen über unser Land hinaus: Ganz Europa hat von dieser neuen Durchlässigkeit profitiert, die schließlich auch massive Auswirkungen auf die Weltpolitik hatte. Mein Eindruck bei all dem ist, dass das Erinnern an die Vorgänge im Herbst 1989 zugleich leicht und schwer fällt: Leicht fällt es, weil aufgrund der enormen Speicherkapazitäten vor allem in den elektronischen Medien die Geschehnisse von damals sehr detailliert abrufbar sind und uns in Sekundenschnelle zur Verfügung stehen. Schwer fällt das Erinnern, weil das bloße Wiederholen von Berichten noch keine nachhaltige Wirkung erzeugt. Als Christ stelle ich mir nicht nur die Frage, wie die Vorgänge von damals auf mich gewirkt haben, sondern in welchem Zusammenhang sie mit meinem Glauben stehen.6 Denn echte Erinnerung ist mehr als ein bloßes Gedenken, das oberflächlich bleibt. Wahres Erinnern muss vielmehr Ereignisse verinnerlichen, damit sie sich auswirken können.

1. Begegnung

Eine erste Erinnerung, die sich mir bleibend von den Umwälzungen vor 20 Jahren eingeprägt hat, läuft unter dem Stichwort: Begegnung. Blenden wir zurück: Innerhalb weniger Wochen vollzog sich damals eine ganz rasante Entwicklung: Mussten zunächst Menschen noch mit großem Risiko Hindernisse wie Mauer und Stacheldraht überwinden, um ein Leben in Freiheit führen zu können, waren dazu wenig später immerhin noch weite Umwege über Nachbarländer nötig, so wurde kurze Zeit später gleichsam über Nacht das Unvorstellbare möglich: Willkürlich errichtete Sperren öffneten sich, trennende Mauern wurden auf einmal durchlässig, Menschen, die trotz geographischer Nähe getrennt voneinander leben mussten, konnten unbehindert und angstfrei zusammenkommen: Die Möglichkeit der Grenzüberschreitung eröffnete ganz neue, ungeahnte Perspektiven. Aber ist die damals errungene Reisefreiheit schon alles? Was ist darüber hinaus noch nötig, damit Begegnung wirklich gelingt?

Mir ist vor allem noch jene Situation im Sommer 1989 in Erinnerung, als der deutsche Außenminister den in die Prager Botschaft geflüchteten DDR-Bürgern mitteilte, dass sie noch in derselben Nacht ausreisen könnten. Wir wissen um die Reaktion: Jubel und Freudentränen, ungläubiges Staunen und dann Begeisterung … Manche haben seinerzeit diesen Auftritt kritisiert, ihn als politische Profilierungssucht bezeichnet und eingewandt, diese Mitteilung hätte doch auch viel einfacher geschehen können. Aber wäre es wirklich dasselbe gewesen, wenn man eine solche Nachricht bloß schriftlich oder über Funk und Fernsehen verbreitet hätte? Gewiss, die Kunde davon hätte sich auch herumgesprochen – und doch wären Unsicherheit und Zweifel geblieben, ob diese Meldung denn auch wirklich wahr sei. Anders gesagt: Es kommt nicht bloß auf den Inhalt einer Botschaft an – in bestimmten Situationen ist die persönliche Begegnung einfach unersetzbar, weil sie Sicherheit schafft und Grenzen der Angst und der Ungewissheit überwindet.

Mir ist damals neu aufgegangen, wie unersetzbar Begegnung auch im Glauben ist; denn das Evangelium ist keine anonyme Botschaft, sondern eine grenzüberschreitende Begegnung, die von Gott selbst ausgeht. Er kommt in unsere Welt und spricht uns an. Das zeigt sich in der Begegnung Jesu mit den verschiedensten Menschen: Da wird deutlich, wie Grenzen fallen: Menschen, die an äußeren und inneren Verwundungen leiden, erfahren Heilung; Versager dürfen erleben, wie sich neuer Lebenssinn eröffnet, weil sie nicht abgeschrieben sind; solche, die sich bislang an den Rand gedrängt fühlen, dürfen durch Jesus spüren, dass sie für Gott wichtig sind. Überall da geschieht Grenzüberschreitung, weil in der Begegnung mit Jesus soziale und gesellschaftliche Barrieren ihren trennenden Charakter verlieren. In diesem Aspekt der christlichen Botschaft könnte ein erstes Merkmal für eine vertiefte Erinnerung an die Wende vor 20 Jahren liegen, das Konsequenzen im Glauben hat. Im Gefolge der Wende hatte man kirchlicherseits mitunter überzogene Erwartungen, es müsse zu einem großen religiösen Neuaufbruch mit einem spürbaren Zustrom an neuen Mitgliedern für die christlichen Kirchen kommen.7 Dass dies nicht eintrat, hat verschiedene Gründe – unter anderem den, dass die Religionsferne vieler Menschen speziell im Osten Deutschlands zu tiefe Wurzeln hatte, als dass sie sich durch neue Freiheitsbedingungen allein geändert hätte. Aber gerade diese Wahrnehmung braucht uns als Christen nicht mutlos zu machen. Es wäre falsch, wegen enttäuschter Wendehoffnungen zu resignieren und sich in ein binnenkirchliches Schneckenhaus zurückzuziehen. Im Gegenteil: Weil die Wende die Erfahrung vertieft hat, wie wichtig und unersetzlich im Leben die Begegnung ist, ergibt sich für den Glauben daraus eine sehr direkte Erkenntnis: Vom Verhalten Gottes her, das ganz ursprünglich Begegnung ist, ist unser Glaube von der ständigen Einmischung geprägt! Damit ist nicht besserwisserisches Belehren gemeint, sondern ein ständiges Vermitteln der Erfahrung, dass Gott selbst sich in Jesus Christus unumkehrbar in unsere Welt einmischt, indem er unser Leben annimmt. Jesu Verhalten macht dabei deutlich, dass Gott keinen Lebensbereich ausgrenzt – Verwundungen ebenso wenig wie Versagen und Leiden, nicht einmal das Sterben. Diese Einmischung Gottes macht mir Mut, in meinen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen Barrieren zu überwinden, weil ich mich von seiner grenzüberschreitenden Liebe getragen weiß, die allen gilt.

2. Bewegung

Ein weiteres Phänomen der Ereignisse vor 20 Jahren lässt sich wieder mit einem Wort kennzeichnen: Bewegung. Diese Bewegung, die vielfach auch als „friedliche Revolution“ bezeichnet wird, speiste sich aus vielen Quellen: Politische Unzufriedenheit, wirtschaftlicher Problemdruck und der Freiheitsdrang der Bevölkerung im Osten Deutschlands fanden in den Protestmärschen ihr Ventil. Das System geriet ins Wanken und beim Fall der Mauer wurde die eingetretene Bewegung in ihrer ganzen Dynamik auch sehr emotional sichtbar. Wer könnte die Bilder vergessen, die zeigten, wie sich in Berlin und anderswo wildfremde Menschen um den Hals fielen, wie auf einmal eine Welle der Hilfsbereitschaft und des Entgegenkommens spürbar war und wie scheinbar endlose Autoschlangen zu bisher unerreichbaren Zielen aufbrachen – alles kam in Bewegung!

Gilt das auch für uns Christen – ist Bewegung ein Kennzeichen meines Glaubens? Wie war es vor 2000 Jahren?

Auch Jesus brachte Menschen in Bewegung und ließ sie Grenzen des Gewohnten auf Neues hin überschreiten: Schon an die Krippe kommen so unterschiedliche Gestalten wie die Hirten, die im damaligen Palästina eher zur sozialen Unterschicht gehörten, und die begüterten Sterndeuter, die es sich ein Vermögen kosten ließen, um dem neugeborenen Kind zu begegnen. Jesu Geburt bringt nach Auskunft des Neuen Testaments sogar die politischen Machtverhältnisse in Bewegung und erschüttert die Selbstsicherheit eines Herodes. Neue Bewegung kommt andererseits ins Leben von alten Menschen wie Simeon und Hanna, die nach menschlichem Ermessen nicht mehr viel zu hoffen haben und nun in der Begegnung mit Jesus plötzlich erfahren dürfen, dass ihr Warten nicht umsonst war. Wenn man solche Stellen im Neuen Testament einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kommt vielleicht auch bei uns etwas in Bewegung. All das hält in mir jedenfalls die Hoffnung wach, dass trotz vieler trennender Gräben, aufgehäufter Hindernisse und verschütteter Hoffnungen in Kirche und Welt die Begegnung mit Jesus auch heute suchende Menschen in Bewegung bringt, sie von unterschiedlichen Ausgangspunkten her aufeinander zuführt und Grenzen des Gewohnten, Vertrauten und Eingespielten überschreiten lässt. Doch Vorsicht: Bewegung ist kein Selbstzweck. Genau diesen Eindruck könnte man nämlich bekommen, wenn man Entwicklungen in den Blick nimmt, die sich seit der Wende noch verstärkt haben. Da wird nämlich der bloße Wandel an sich zum Markenzeichen einer neuen Lebensqualität erhoben, bei der auch alles in Bewegung ist. Gefordert sind dann im persönlichen Verhalten vor allem Mobilität und Anpassungsbereitschaft. Diese Haltungen sind aber oft nicht von der Sorge um das Gemeinwohl oder die gesellschaftliche Gerechtigkeit geprägt, sondern dienen vorrangig dem eigenen Erfolg und der Selbstverwirklichung. Das hat nicht zuletzt die Finanzmarktkrise der letzten Jahre deutlich gemacht, wo buchstäblich auch alles in Bewegung geriet, weil Teile der Wirtschaft über dem Streben nach schnellen Erfolgen langfristige Ziele aus den Augen verloren hatten. Anders und allgemeiner gesagt: Wenn Bewegung nicht orientierungslos werden soll, braucht sie Ziele und Perspektiven, die in allem Wandel und seinen mitunter rasanten Veränderungen bleibende Werte verdeutlichen. Unser christlicher Glaube lebt ganz wesentlich von der Erinnerung an solche Grundlagen. Eine davon ist die Gewissheit, dass Gott uns das Ziel des Lebens vorgibt, weil dieses Leben kein Zufallsprodukt darstellt, sondern für ihn Ewigkeitswert hat. Das Wissen darum kann uns einerseits gelassener machen und zugleich neu in Bewegung bringen: Gelassener macht mich der Glaube, weil ich mich von Gott beschenkt weiß, so dass ich nicht alles selber machen und erreichen muss, damit mein Leben sinnvoll wird. In Bewegung bringt mich der Glaube, weil ich in allem Wandel meines Lebens zwar nicht weiß, was alles auf mich zukommt. Aber ich habe die Gewissheit, wer mich begleitet: Jesus Christus, der mich ermutigt, meinen Weg mit Vertrauen und Hoffnung weiterzugehen. Denn christliche Erinnerung ist keine Fixierung auf die Vergangenheit, sondern ein Kraftschöpfen für die Zukunft im Rückblick auf die Geschichte. So kann auch der Blick auf das, was vor 20 Jahren in Bewegung kam, Motivationshilfe für einen Glauben sein, der Einsichten in Vergangenes mit Aussichten auf Kommendes verbindet und daraus seine Kraft für die Gestaltung der Gegenwart bezieht.

3. Bekehrung

Schließlich hat die Aufbruchsstimmung der Wendezeit vor 20 Jahren noch eine weitere Wirkung hervorgebracht: Bei vielen Menschen gab es damals so etwas wie eine Bekehrung. Solche, die bislang Nutznießer eines totalitären Systems waren oder sich mit ihm unter dem Zwang der Verhältnisse arrangiert hatten, vollzogen mit einem Mal eine Kehrtwende in ihrem Verhalten. Freilich war dabei nicht immer klar, ob echte Überzeugung oder erneute Anpassung an die veränderten Verhältnisse im Spiel war. Von solchen schillernden „Wendemanövern“ hebt sich die christliche Glaubensbotschaft in ihrer Eindeutigkeit ab: Wer von der Begegnung mit Jesus gepackt ist und dadurch neu in Bewegung kommt, kann sich wirklich ändern, weil er aus einer Bekehrung lebt, die auf Überzeugung beruht und mehr ist als eine Anpassung an neue Lebensverhältnisse! Echte Bekehrung beginnt im Herzen und kann dann als Richtungsänderung menschlichen Verhaltens viele Formen annehmen: Einen neuen Stil im Umgang miteinander, Mühen um Verständnis und Abbau von Klischees und Vorurteilen, Argumentieren statt Polarisieren … Die Reihe der Möglichkeiten lässt sich fortsetzen, aber wichtig dabei ist, dass eine solche Bekehrung mit einer Umkehr der Vorstellungen von Gott beginnt: Er ist nicht der ferne, unzugängliche Weltenlenker, als der er manchmal dargestellt wird. Er sucht vielmehr unsere Nähe, indem er in die Gewöhnlichkeit des alltäglichen Lebens hineingeht. Das hat eine ganz wichtige Folge: Scheinbar unwichtige Dinge, Ereignisse, Situationen, Begegnungen und Beziehungen werden bedeutend, weil Gott selbst, der in Jesus unser Leben teilt, in ihnen anzutreffen und aufzuspüren ist. Daraus ergibt sich für unseren Glauben: Der christliche Ruf zur Umkehr ist kein bloß menschlicher Appell zur Verhaltensänderung. Es geht vielmehr darum, immer wieder neu die liebende Zuwendung Gottes zu entdecken, damit konkrete Korrekturen im Leben möglich sind. Sie betreffen sowohl das persönliche wie das gemeinschaftliche Leben: Echte Umkehr beginnt zum Beispiel da, wo Schuld weder verharmlost noch verdrängt wird. Deshalb ist es wichtig, dass sowohl im politischen wie im kirchlichen Bereich die ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit weitergeht. Die Tendenz zu einer nostalgischen Verklärung der DDR zum Beispiel, wie sie derzeit wieder neu zu beobachten ist, stellt keinen hilfreichen Weg dar. Ganz allgemein gilt vielmehr: Echte Bekehrung beginnt im Herzen, das durch eigene Einsicht offen wird für die Anliegen anderer. Deshalb ist Solidarität auch zwanzig Jahre nach der Wende das Gebot der Stunde. „Wir sind das Volk“ – so lautete der zentrale Ruf bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig und in anderen Städten der damaligen DDR. Bei diesen Versammlungen, die oft in Kirchen ihren Anfang genommen hatten, war viel an Gemeinschaft und an Willen zur Veränderung der Verhältnisse zu spüren. Als Christen müssten wir eigentlich nur ein Wort ergänzen, wenn wir unseren Auftrag ausdrücken wollten. „Wir sind das Volk Gottes.“ Die Besinnung darauf ist heute nötiger denn je. Blicken wir zurück: Die Wende war eine Umbruchszeit, die mit ihren Folgen bis heute andauert. Manchmal war damals eine Aufbruchsstimmung spürbar, als ob es jetzt ins Gelobte Land ginge. Sehr schnell ist diese Erwartung einer Ernüchterung gewichen. Was ist in dieser Situation unsere Aufgabe als Volk Gottes? Stimmen wir in den Chor der Resignierten ein oder haben wir eine andere Botschaft? Mir sagt ein biblisches Bild sehr viel, das auch aus einer Wendezeit stammt, die über dreitausend Jahre zurückliegt. Nach dem Auszug aus Ägypten ist im Volk Israel die anfängliche Aufbruchsstimmung schnell verflogen; es machen sich zunehmend Unsicherheit und Orientierungsnot bemerkbar. In dieser Situation werden nun Kundschafter ausgeschickt, die feststellen sollen, ob das verheißene Land wirklich bewohnbar ist. Bei der Rückkehr gibt es zwei unterschiedliche Reaktionen: Die Mehrzahl der Kundschafter lässt sich von den gewonnenen Eindrücken ängstigen und sieht nur die Schwierigkeiten. Lediglich zwei haben eine andere Sicht: Sie nehmen zwar auch die Probleme wahr, erinnern das Volk aber gleichzeitig an seine geistlichen Energievorräte, nämlich die Begleitung durch Gott und seine Verheißungen. Ihr Appell an die Glaubensgrundlagen will zum Weitergehen ermutigen und zum Abbau von Angst beitragen (Num 13,1–14,10). Ist die Lage bei uns der damaligen Situation Israels so unähnlich? Auch da ist die Euphorie der Wende mehr als zwanzig Jahre später vielfach schleichender Resignation gewichen. Um gesicherte Erkenntnisse über den weiteren Weg zu gewinnen, braucht es auch heute Kundschafter. Können wir Christen als Volk Gottes in unserer Gesellschaft diese Aufgabe übernehmen? Können wir solche Kundschafterdienste leisten oder bilden wir eine ängstliche Nachhut? Spannend wird es, wenn es um die Auswertung dieser Erfahrungen geht: Fixieren wir uns auf Risiken, die gewiss da sind, oder ermutigen wir die Menschen, ohne die vorhandenen Probleme zu leugnen, zu einer nüchternen Zuversicht und einer engagierten Gelassenheit, die auch neue Herausforderungen bestehen kann? Voraussetzung in all dem ist bei mir selbst die Offenheit zur Begegnung, der Mut zur Bewegung und die Bereitschaft zur Bekehrung. Für mich kommt diese Haltung sehr dicht in einem Lied von Klaus-Peter Hertzsch zum Ausdruck, das 1989, im Jahr der Wende also, in Ostdeutschland entstanden ist. Die Schlussstrophe8 lautet:

„Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt. Er selbst kommt uns entgegen; die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“

6 Vgl dazu Th. Brose (Hrsg.), Glaube, Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland (Würzburg 2009) bes. 143–207.

7 Belege finden sich bei M. Birkner (Hrsg.), Quo vadis Kirche? Die Zukunft der Kirche im Osten Deutschlands an der Schwelle zum dritten Jahrtausend (Leipzig 1997).

8 Der gesamte Liedtext ist publiziert in: C. Führer u. a., Kerzen und Gebete. Ein geistliches Lesebuch zur friedlichen Revolution 1989 (Leipzig 1989) 140.

Europa im Wandel – was wird aus den christlichen Werten?

Jeder von uns kennt Sätze, die sich unauslöschlich einprägen. Für mich gehört zu ihnen der Wunsch, den Papst Johannes Paul II. 1991 äußerte: dass Europa wieder „mit beiden Lungen atmen“ und „seine Muttersprache, das Christentum“, neu lernen möge.9 Mit den beiden Lungen waren das westliche und das östliche Europa gemeint; nach der politischen Wende sah der Papst die epochale Chance eines neuen Zusammenwachsens von einer posttotalitären in eine freiheitliche Zukunft gegeben, die ihr Ziel nicht bloß in einer wirtschaftlich-technischen, sondern auch in einer vertieften religiös-kulturellen Entwicklung sucht. Die Wirtschaftsgemeinschaft sollte zur Wertegemeinschaft zusammenwachsen. Blickt man auf die seither vergangenen Jahre, macht sich zunächst Ernüchterung breit. Und was das Neuerlernen des Christentums als Muttersprache betrifft, wird die Skepsis noch größer – es sind eher Sprachstörungen festzustellen als Lernfortschritte. Die Debatte um den Gottesbezug in der Präambel einer künftigen Europäischen Verfassung hat deutlich gemacht, dass Europa mehr und mehr desorientiert und geschichtsvergessen ist, wie Hans Maier bemerkt.10 Das Paradox ist noch provozierender, wenn man einerseits das postsowjetische Russland sieht, das nach der Wende in der orthodoxen Kirche den Ursprung seiner historischen Identität sucht, und auf der anderen Seite das politische Europa betrachtet, das sich weigert, ausdrücklich seine christlichen Wurzeln hervorzuheben. Hinzu kommt, dass in der kontroversen Wertedebatte11 manche Begriffe wie leere Container wirken, die man beliebig mit Inhalt füllen kann: So beruft man sich zum Beispiel sowohl gegen als auch für Abtreibung und Euthanasie auf die Menschenwürde; man benutzt sowohl gegen als auch für das therapeutische Klonen das Argument einer Sicherung der Lebensqualität; „Familie“ wird mittlerweile so verschieden verstanden, dass dabei sowohl die Ehe zwischen Mann und Frau wie auch Verbindungen von gleichgeschlechtlichen Partnern als Voraussetzungen benannt werden können. Diese wenigen Schlaglichter mögen genügen, um das Problem zu verdeutlichen. „Europa im Wandel – was wird aus den christlichen Werten?“ ist jedenfalls keine bloß rhetorische Frage. Allerdings wird die Frage mit Worten gestellt, die zunächst der Klärung bedürfen. Was ist Europa? Wie sieht der Wandel aus? Welches sind die christlichen Werte, um die es uns dabei geht? Ist die Hoffnung auf eine neue Synthese zwischen Europa und Christentum überhaupt realistisch oder eine bloße Utopie?

Gewiss, es gibt gerade von kirchlicher Seite dazu viele Äußerungen12 – von päpstlicher Seite, von Synoden, von Bischofskonferenzen und Laiengremien. Aber diese Aussagen auch nur annähernd vollständig darzustellen, wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Ich gehe vielmehr von einer Forderung aus, die seinerzeit nach den gescheiterten Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden von vielen Politikern geäußert wurde: Europa braucht eine Denkpause,13 in der die Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts von verschiedenen Seiten her neu angestoßen wird. Hierzu müssen gerade wir Christen unseren Beitrag leisten. Eine solche Diskussion über die Zukunft Europas ist jedoch nur sinnvoll, wenn sie mit einer Standortbestimmung der Gegenwart verbunden ist und darüber hinaus nach der Herkunft fragt. Diese Fragen lassen sich so formulieren: Woher kommen wir – wofür stehen wir – wohin gehen wir?

1. Woher kommen wir?

Als Theodor Heuss, der erste Bundespräsident (1949–1959), in den fünfziger Jahren gefragt wurde, was Europa ausmache, gab er zur Antwort: Europa baut auf drei Hügeln: dem Areopag (für das griechische Denken von der Demokratie), dem Capitol (für das römische Denken von der „res publica“) und Golgota (für die christliche Auffassung von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde).14 Diese Formulierung ist sicher differenzierungsbedürftig, aber macht eines deutlich: Europa ist nicht in erster Linie geographisch, sondern geschichtlich zu definieren, von seiner Entwicklung als Ideenraum und kulturelle Größe. Rein geographisch ist Europa eher ein Anhängsel des großen Nachbarkontinents Asien; schon der Versuch einer Umschreibung von Charles de Gaulle, Europa reiche vom Atlantik bis zum Ural,15 wirkt merkwürdig unbestimmt und inhaltsleer. Um eine verlässliche Sicht der Genese Europas zu gewinnen, muss man auf die äußere Entwicklung, auf das kontinuierliche innere Wachsen und auf die Brüche in diesem geschichtlichen Prozess gleichermaßen schauen.

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