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2.2 ARISTOTELISCHE TUGENDETHIK

Die Philosophie Griechenlands, später adaptiert durch die römische Akademie und die Stoa, hat unterschiedliche Moralsysteme hervorgebracht. In der vorsokratischen Philosophie wurden menschliche Handlungen in diversen Gottheiten idealisiert. Dennoch haben Philosophen den Götterglauben nicht nur verteidigt, sondern durchaus auch kritisiert. So hat Xenophanes die griechischen Götter, wie sie bei Homer geschildert werden, als menschliche Projektionen bezeichnet. Auch Demokrit meinte, dass der Götterglaube nur aus Furcht vor Himmelserscheinungen entstanden sei. Heraklit betonte – wie bereits zitiert –, dass die Menschen im Logos (im gemeinsamen Sprechen) miteinander verbunden sind, obgleich sie glauben, ein Denken für sich allein zu haben. Diese Ansätze wurden von den Sophisten zu der Vorstellung verallgemeinert, dass jede Perspektive, also auch alle Moral, durch die Menschen gesetzt wird. Der berühmte Homo-Mensura-Satz des Protagoras lautet in seiner Kurzform: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Gemeint ist der Einzelmensch, der sich jeweils in einer konkreten Situation entscheiden muss. Ein anderer Sophist – Gorgias – bestreitet die Möglichkeit einer allgemeingültigen Erkenntnis. Falls sie doch möglich sei, könne sie nicht mitgeteilt werden. Deshalb betonen die Sophisten – die in der späteren Philosophiegeschichte eher einen schlechten Ruf haben – die Wichtigkeit der Situation, in der Menschen handeln.{27} Die Situation richtig zu erkennen und dann die richtige, passende Entscheidung zu treffen wurde in dem Wort kairós (»der richtige, entscheidende Augenblick«) ausgedrückt. Aristoteles kennt gleichfalls diesen Begriff, der in den frühgriechischen Dichtungen (Hesiod, Pindar) eine wichtige Rolle spielte. Alle Handlungen haben ihre rechte Zeit. Sie zu beachten, kann man als Erbe der sophistischen Morallehre betrachten: Es gibt für Gorgias keine allgemein gültigen Regeln oder Begriffe. Richtiges Handeln bedeutet, in jeder Situation dieser gemäß den richtigen Augenblick zu erkennen. Es lässt sich hier ein ähnlicher Gedanke bei Sartre, aber auch in den Lehren des Buddha finden, der Abstraktionen als Einseitigkeit für die Beurteilung von Situationen ablehnt (vgl. AN 5.189).

Mit Sokrates beginnt dagegen die abstrakte, theoretische Philosophie, auch in der Morallehre. Platon – hierin Schüler des Sokrates – stellt die Frage nach dem Wesen des Guten. Das Gute ist eine Idee, die prinzipiell in jedem Menschen angelegt ist. Durch einen systematischen Diskurs kann diese Idee ins Bewusstsein gehoben werden (durch sokratische Mäeutik = Geburtshelferkunst). Das Gute ist die höchste aller Ideen. Platon deutet die Lehre der Sophisten als egoistische Morallehre. Er bekämpft diese Lehre und rückt die Rolle des Staates und der Gemeinschaft in den Mittelpunkt. Er konstruiert in seinem Dialog Politeia einen utopischen Idealstaat durch rein vernünftige Überlegungen, worin jeder Mensch eine besondere Rolle zugeteilt bekommt.

Ein vergleichender Einschub kann das vielleicht illustrieren: Diese Vorstellung Platons erinnert an das Kastensystem Indiens, das der Buddha bekämpfte. Dieses System wird gerade durch die Karmalehre ideologisch stabilisiert: Eine soziale Reform ist sinnlos, weil Benachteiligte durch gehorsames Einfügen in die bestehende Ordnung als moralische Tugend in einem künftigen Leben in höhere Kasten aufsteigen und damit den Lohn für die Leiden als sozial Unterprivilegierte erhalten. Diese Vorstellung ist einer der Gründe, die Karmalehre einer gründlichen Revision zu unterwerfen (vgl. Abschnitt 3.3.4). Auch kann man im Konfuzianismus ähnliche Moralvorstellungen, dort ohne eine Wiedergeburtstheorie, finden. Moralisch handelt, wer sich in eine tradierte Ordnung widerspruchsfrei einfügt. Gleichzeitig sieht Konfuzius aber – darin liegt eine Nähe zum Buddhismus – moralisches Handeln »in der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen« verwirklicht.{28} Dieser Gedanke taucht in Platons Staat durch die am hierarchischen Lebensstil von Befehl und Gehorsam orientierten Vorstellungen vom Handeln in der Gemeinschaft nicht auf.

Platons Konstruktion eines Idealstaates unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Punkt von der indisch-brahmanischen und der konfuzianischen Vorstellung. Denn der Staat bei Platon soll gelenkt werden durch Intellektuelle (Philosophen). Deren Handeln wird aber philosophisch begründet; es leitet sich nicht einfach aus einer übernommenen Tradition (z.B. die Vorstellung vom »Goldenen Zeitalter« bei Konfuzius) ab. Allerdings entsteht die Moral bei Platon nicht aus dem Diskurs der Vielen auf dem Marktplatz (ágorá). Gegen Gorgias betont Platon, dass die bloße Rhetorik zur Bildung der Moral nicht ausreicht. Alle Moral gründet im sittlich Guten, das nicht durch anderes bedingt ist und als reine Idee geschaut werden müsse. Um die Ideen zu erkennen, dazu bedarf es der Philosophen. Die moralische Ordnung des Staates wird also durchaus philosophisch begründet; doch dies nur durch eine soziale Herrschaft der (männlichen) Philosophen, nicht durch die Einsicht vieler Menschen. Sklaven, Frauen und Fremde{29} bleiben von jeder Einspruchsmöglichkeit ausgeschlossen – was übrigens auch noch für Aristoteles gilt und ein bleibender dunkler Fleck in dessen Philosophie ist.

Die Ethik als Wissenschaft wird erst durch Aristoteles begründet. Seine Morallehre wird gemeinhin als klassische Form einer Tugendethik betrachtet. Das griechische Wort, das Aristoteles für Ethik verwendet, lautet ēthos (ἦθος) und bedeutet »Charakter« und »Sitte«, im Griechischen eng verwandt, dennoch unterschieden von ἜθΟς, »Gewohnheit«.{30} Beide Bedeutungen werden sich im Folgenden noch genauer in ihrer inneren Verbindung zeigen. Kurz gesagt: Man kann einmal vom ēthos als der vereinzelten Gewohnheit im menschlichen Handeln sprechen, zum anderen aber ist ēthos auch die soziale Institutionalisierung solcher Gewohnheiten (Sitten, Erziehungssysteme, Normen). Ēthos ist also eine Qualität an menschlichen Handlungen (Praxis), die sie privat und sozial formt. Aristoteles folgt Platon in dessen Kritik der Sophisten, indem er ausdrücklich die Lehrbarkeit des sittlichen Handelns betont. Es gibt, wie auch Platon sagt, mehrere »Seelenvermögen«, die den Charakter eines Menschen ausmachen. Die nicht vernünftigen Seelenvermögen sind jene, in denen der Mensch seiner Lust folgt (hēdonē). Aristoteles lehnt mit Platon die Lehre jener ab, die ausschließlich die Lust als moralischen Handlungsantrieb behaupten (Hedonismus). Die vernünftige Überlegung kann zwischen Lust und Unlust abwägen und so Entscheidungen treffen. Hier führt Aristoteles den Begriff der Tugend ein.

»Tugend« (aretê) bedeutet allgemein eine Vollkommenheit, die einer Handlung zukommt. Insofern ist die Tugend eine Vollendung jeder Handlung. In der Ethik ist die Tugend eine Art Superlativ: das Beste, das Äußerste und das dem Gutsein nach Höchste, die beste Haltung. Aristoteles betont, dass man für tugendhaftes Handeln soziale Anerkennung findet und deshalb auch gelobt wird. Die Tugend ist ein Gegenstand von Lobreden und wird in der Dichtung oder im Theater gleichsam modellhaft vorgeführt. Das Vortrefflichste beim Menschen, die höchste menschliche Tugend, ist in der Vernunft zu suchen. Je nach der Stellung eines Menschen in der Gesellschaft spielen unterschiedliche Tugenden eine vorrangige Rolle. Platon hatte die menschliche Seele in drei Teile eingeteilt, die man kurz mit Vernunft, Wille und Leidenschaft übersetzen kann. Aristoteles verwendet nur eine Zweiteilung. Er unterscheidet zwischen einem rationalen und einem irrationalen Seelenteil. Verstand und Vernunft werden gelehrt und in der Erziehung geübt. Die Tugenden, die den irrationalen Seelenteil, den Willen und die Leidenschaften formen, heißen bei Aristoteles die ethischen Tugenden. Sie formen das Ungeformte am Menschen. Während man Erkenntnisse durch die Vernunft, den Intellekt erwirbt, werden die ethischen Tugenden durch Gewohnheitsbildung anerzogen. Im Unterschied zu den ethischen Tugenden kennt Aristoteles auch die sogenannten dianoetischen Tugenden, die unmittelbar auf den Intellekt bezogen sind: Wissenschaft (epistêmê), Wohlberatenheit (euboulia), Klugheit (phronêsis), Weisheit (sophia), Verstand (synhesis) und Kunstfertigkeit (technê).

Die ethische Tugend formt gleichsam die ungebändigte Natur im Menschen (Wille und Trieb) und verwandelt ihn dadurch in ein soziales Wesen. Die Tugend bildet die Brücke zwischen den irrationalen Leidenschaften des Individuums – die vielfach egoistisch sind – und der menschlichen Gesellschaft. Aristoteles definiert »Tugend« als eine Kunst der Mitte:

»Es ist mithin die Tugend eine Gewohnheit (habitus) des Wählern, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft: bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte liegt zwischen zwei fehlerhaften Gewohnheiten, dem Fehler des Übermaßes und dem Fehler des Mangels.«{31}

Die Tugend findet den Ausgleich, die Mitte zwischen den Extremen. Sie ist »ihrem Wesen nach Mitte«.

Das oberste Ziel allen menschlichen Handelns, das zu verwirklichen auch alle Tugenden letztlich dienen, ist das Glück oder die Glückseligkeit (eudaimonia; lat. beatitudo). Wörtlich bedeutet dieser Begriff bei Aristoteles: von einem guten (eu) Geist (daimon) begünstigt oder beseelt zu sein. Das Glück ist das höchste Ziel aller persönlichen oder politischen und sozialen Praxis.{32} »Glück« ist kein mehrdeutiger Begriff. Er kann aber unterschiedlich erläutert werden, etwa als »das gute Leben« oder »das Wohlergehen«. Allerdings wünscht sich jeder Mensch je nach der konkreten Lebenssituation etwas anderes. Glück findet man durch mehrere Bestimmungen, die sich nicht ausschließen müssen: Wohlergehen; Selbstgenügsamkeit; das angenehme, mit Sicherheit verbundene Leben und ein reicher Besitz. Dieses Glück hängt an drei Gütern: äußeren, körperlichen und seelischen. Der Glückliche muss alle drei besitzen. Wahres Lebensglück ist aber für Aristoteles letztlich ein geistiges Gut. So sagt er, dass »allein Philosophen das Lebensglück zukommen wird«, denn alle anderen Glücksformen hängen am Geist (Intellekt). Wenn auch Aristoteles die Tugenden recht pragmatisch am alltäglichen Leben orientiert, so gibt es doch auch eine gleichsam höhere Sichtweise auf die Welt. Er erkennt letztlich die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Daseins:

»Darum heißt es auch mit Recht, dass der Mensch ein Nichts sei und dass nichts von den menschlichen Dingen Bestand habe. Denn Kraft, Größe und Schönheit sind zum Lachen und nichts wert; sie erscheinen uns nur so, weil wir nichts genau zu sehen vermögen.«{33}

Hier nähert sich Aristoteles der buddhistischen Auffassung, eine Nähe, die durch die theistische Rezeption seiner Schriften im Mittelalter kaum ins allgemeine philosophische Bewusstsein getreten ist. Man könnte sagen, die aristotelische Morallehre orientiert sich an der Praxis der Gesellschaft, des alltäglichen Lebens. Dafür lehrt sie die Tugenden als Vollendung des Handelns, um dadurch jeweils in allen Situationen den mittleren Weg zu wählen. Letztlich ist aber eine moralische Vervollkommnung des Menschen nicht von der Welt, der Gesellschaft her zu interpretieren, sondern aus der Erkenntnis des eigenen Geistes, der eigenen Seele. Aristoteles sagt:

»Ehre und Ansehen, Dinge, die man mehr als das übrige zu erstreben pflegt, sind voll unbeschreiblichen Unsinns; denn wer etwas vom Ewigen erblickt hat, der findet es einfältig, sich um solche Dinge Mühe zu machen. Was ist langlebig oder dauerhaft unter den menschlichen Dingen? Nur wegen unserer Schwäche, so meine ich, und wegen der Kürze unseres Lebens scheint uns auch dieses groß. Wenn man dies in Betracht zieht, wer würde dann noch meinen, er sei glücklich und selig – wer von uns, die wir alle gleich von vornherein (wie es heißt, wenn man in die Mysterien eingeweiht wird) von Natur her entstanden sind, als ob wir zu büßen hätten? Denn göttlich ist der Spruch der Alten, wenn sie sagen, dass die Seele Buße zu zahlen habe und dass wir zur Strafe für irgendwelche großen Verfehlungen leben.«{34}

Was Aristoteles hier den »Spruch der Alten« nennt (er denkt vermutlich an Anaximander{35}), lässt sich auch als Einfluss der indischen Karmalehren auf die griechische Philosophie interpretieren. Die Lehre von der Wiedergeburt der Seele ist im alten Griechenland weit verbreitet. Gewöhnlich wird ihr Ursprung Pythagoras zugeschrieben; sie findet sich aber auch bei Pindar. Des Weiteren wurde diese Lehre von Empedokles und später von Platon vertreten und war im Neuplatonismus allgemein verbreitet. Gewöhnlich wird Aristoteles als Gegner des Reinkarnationsgedankens betrachtet. Er lehnte die individuelle Unsterblichkeit der Seele ab, sagte aber stets, dass beim Lernen und Erkennen die Menschen an ein vorher existierendes Wissen anknüpfen. So beginnt seine Schrift Analytica posteriora mit dem Satz: »Alles vernünftige Lehren und Lernen geschieht aus einer vorangehenden Erkenntnis.« Man kann deshalb sagen, dass die Reinkarnationslehre als moralische Lehre gleichwohl von Aristoteles akzeptiert wurde, wie der oben zitierte Text (Protreptikos) nahelegt. Es war wohl vorwiegend die theistische Aristoteles-Rezeption im Mittelalter, die alle Hinweise auf Reinkarnation als ein Moment der Erkenntnistheorie und der Morallehre auszublenden versuchte. Mit Blick auf die buddhistische Ethik kann ich abschließend Damien Keown über das Verhältnis zu Aristoteles zitieren:

»Die Parallele zwischen buddhistischer und aristotelischer Ethik ist, wie ich glaube, in vielerlei Hinsicht sehr eng. Die Ethik des Aristoteles scheint die nächste Analogie zur buddhistischen Ethik, und sie ist ein erhellender Führer zu einem Verständnis des buddhistischen Moralsystems. Sie ist umso wertvoller, weil die Exegese der aristotelischen Ethik ein anspruchsvolleres Niveau erreicht hat als die Ethik im Buddhismus.«{36}

2.3 THEOLOGISCHE MORALBEGRÜNDUNGEN

Die wichtigste Quelle moralischer Werte sind zweifellos die Religionen. Man kann alle Religionen in zwei große Gruppen einteilen: theistische und nichttheistische Religionen. Die theistischen Religionen gehen bei allen Unterschieden davon aus, dass alles, was existiert, von einem allmächtigen Schöpfergott (»Creator«) hervorgebracht worden ist. Die nicht theistischen Religionen verwenden dieses Konzept eines Schöpfergottes nicht – ohne es aber ausdrücklich zu bekämpfen, wie der Atheismus (frei übersetzt: »die Gottesgegnerschaft«). Der Atheismus stellt dem Begriff eines Schöpfergottes meist einen anderen obersten Begriff gegenüber: die Materie – so der kommunistische Atheismus – oder, wie der moderne Atheismus (z.B. Richard Dawkins), die Evolutionstheorie. Eine Sonderstellung nimmt der existentialistische Atheismus ein (vgl. Kapitel 2.6), der als obersten Begriff die menschliche Freiheit ansetzt.

Die nichttheistischen Religionen akzeptieren durchaus neben materiellen Gegebenheiten andere, geistige Formen. Sie berufen sich aber in ihrer Moralbegründung nicht auf eine göttliche Offenbarung (Rig-Veda, Thora, Bibel, Koran, Zend-Advesta usw.). Nichttheistisch sind Teile des Hinduismus, der Daoismus, Konfuzianismus, Shintoismus und natürlich der Buddhismus. Eine Moralbegründung nenne ich hier theologisch, wenn sie als Voraussetzung einen Schöpfergott verwendet, der zugleich Schöpfer jeder Moral ist und aus dieser Voraussetzung anhand von Offenbarungen moralische Regeln ableitet. Rationale Argumente (z.B. Gottesbeweise) stützten dann die »Wahrheiten« aus der Offenbarung. In der jüdischen, christlichen und islamischen Theologie werden beide Formen der Begründung verwendet. Man argumentiert unter Voraussetzung der Existenz eines Schöpfergottes mit philosophisch-logischen Argumenten, und man verbindet dies mit Aussagen aus »heiligen Texten«, die man entsprechend interpretiert oder unmittelbar daraus moralische Aussagen entnimmt.

In der Praxis gilt in theistischen Systemen meist eine schlicht normative Moral: Man kennt Gebote (Dekalog, Scharia) und wendet sie unmittelbar an. Logische Begründungen oder Rechtfertigungen für diese Moralregeln gibt es in den Offenbarungstexten so gut wie nie – jedenfalls nicht, wenn man diese Texte wörtlich auslegt. Eine metaphorische Auslegung findet sich allerdings häufig, bis hin zu den extremen Formen in der Kabbala, worin die Buchstaben der (hebräischen) Thora, die zugleich Zahlenwerte sind, als eine Art Modell des Kosmos interpretiert werden. Diese Art der metaphorischen Auslegung heiliger Texte wird aber auch immer wieder von anderen Religionsvertretern strikt abgelehnt: Man beharrt dann auf dem Wortlaut der Thora, der Bibel oder des Koran. Diese wörtliche Auslegung heißt »Fundamentalismus«. Luther lehnte z.B. die mittelalterliche Theologie ab, die versuchte, die Aussagen der Bibel in eine philosophische Sprache zu übersetzen (besonders Thomas von Aquin, aber auch Mystiker wie Meister Eckhart taten dies). Da sich eine wörtliche Interpretation eines »heiligen« Textes von je anderen, durchaus sehr verschiedenen Texten unterscheidet, gibt es zwischen Fundamentalisten differenter Religionen keine unmittelbare Verständigungsmöglichkeit. Dieser Fundamentalismus mündet deshalb bestenfalls in wechselseitiger Toleranz, häufig aber auch in direkten Kampf gegeneinander. Da der Sinn eines Textes dennoch immer einer Auslegung bedarf (»Hermeneutik«), geschieht es auch, dass sich fundamentalistische Gruppen, die sich auf denselben Text berufen, dennoch bekämpfen.

Wie lässt sich nun die innere Logik einer theistischen Moralbegründung beschreiben? Jede Begründung muss von Voraussetzungen ausgehen. Diese Voraussetzungen nennt man in der Neuzeit »Werte«. Da moralische Regeln keine Naturgesetze sind, die man empirisch auf ihre Geltung hin überprüfen kann, sind moralische Regeln prinzipiell aus einer anderen Quelle abzuleiten. Theistische Systeme sehen diese andere Quelle in Gott. »Gott« ist definiert als allmächtiger, allwissender Schöpfer aller Dinge. Aus welchem Grund Gott jeweils das, was ist, geschaffen hat, erschließt sich der menschlichen Vernunft nicht. Deshalb hat dieser Gott – ihm wird darin Milde und Barmherzigkeit attestiert – aus Liebe zu seinen Geschöpfen seine verborgenen Ratschlüsse in einem heiligen Text offenbart. Die Menschen stehen in der Skala der Kreaturen, die dieser Gott hervorgebracht hat, an oberster Stelle: als Krone der Schöpfung. Die Menschen bleiben dabei zwar weit unter Gott, sind ihm aber doch ähnlich. Worin besteht diese Ähnlichkeit? Menschen sind weder allwissend noch allmächtig, weder handeln sie aus reiner Liebe, noch erkennen sie alle Dinge. Aber sie besitzen Verstand (Intellekt). In ihrem Intellekt sind sie Gott ähnlich. Deshalb präsentiert Gott den Menschen nicht wie den Tieren nur die Resultate seiner Schöpfung (Nahrung und Lebensraum), sondern er spricht auch zu ihnen, teilt ihnen seine Absichten mit. Dieser Prozess heißt »Offenbarung«. Zwar sei in allen Kreaturen auch das Werk des Kreators, des Schöpfergottes, erkennbar; man nennt solch eine Erkenntnis natürliche Theologie. Doch reicht diese Erkenntnis nicht hin, vor allem nicht zur Erkenntnis der moralischen Regeln für das menschliche Handeln. Diese offenbart Gott unmittelbar, indem er moralische Gesetze aufstellt, die Menschen zu befolgen haben. Sie verstehen zwar den Wortlaut dieser Gesetze, nicht aber ihren wirklichen tiefen Sinn – der bleibt dem inneren Ratschluss Gottes vorbehalten.

Deshalb besteht der einzige Weg zur moralischen Erkenntnis im Glauben. Man muss einfach dem Wort Gottes Glauben schenken. Und man muss gehorsam sein – denn es ist ja der moralische Befehl des Allmächtigen. Gott schenkt den Menschen zwar prinzipiell die Freiheit. Das unterscheidet sie von den Tieren, die nur ihren Trieben folgen und nur auf Reize reagieren. Die Menschen wissen, was sie tun, und können folglich auch dem göttlichen Wort gehorchen. Aber sie sind dazu nicht durch eine Art Naturgesetz gezwungen. Das wäre sonst gar keine menschliche Freiheit. Weil sie also zu Gottes Befehl, zur göttlichen Moral auch Nein! sagen können, können sie sich gegen Gott stellen. Weil Gott – in diesem Argument unterscheiden sich Juden, Christen und Moslems in subtilen Details der Begründung – der allmächtige Schöpfer aller Dinge ist, deshalb gilt letztlich sein Wille auch immer (sonst wäre er gar nicht allmächtig). Deshalb kann Gott nicht zulassen, dass sich Menschen in ihrer Freiheit gegen seine moralischen Regeln stellen. Um seinen Willen wieder herzustellen, bestraft er ihre Handlungen und Gedanken, die sich gegen ihn stellen. Und da Gott unendlich in all seinen Attributen ist, bestraft er eine letzte Verweigerung seines Willens aus freier Entscheidung (»Todsünde«) auch unendlich. Eine unendliche Strafe ist die ewige Verdammnis.

Damit die göttliche Strafe gerecht ist, bleibt natürlich die Voraussetzung bestehen, dass man die Offenbarung auch tatsächlich gehört haben muss. Wer ohne Kenntnis der göttlichen Offenbarung Handlungen begeht, die für einen Gläubigen »unmoralisch« sind, der wird deshalb anders beurteilt. Auch hierin unterscheiden sich die theistischen Systeme, und ich will auf Unterschiede nur sehr skizzenhaft eingehen. Christentum und Islam leiten aus der Voraussetzung, dass alle Menschen die göttliche Offenbarung auch hören müssen, als erste Pflicht die Missionierung der Nichtgläubigen ab. »Und Wir bestrafen nicht, bevor wir einen Gesandten geschickt haben«, heißt es im Koran 17,15. Jeder soll eine Chance haben, sich aus Freiheit zu Gott zu bekennen oder aber – das wird meist zunächst nicht laut dazugesagt – sich auch gegen Gott zu entscheiden, was dann fürchterlich bestraft wird.

Das Bild des Menschen wird innerhalb der theistischen Systeme unterschiedlich entworfen. Einerseits betont die Theologie die menschliche Freiheit, den Intellekt als Ebenbildlichkeit zu Gott, andererseits wird gerade aus der Freiheit eine tiefe Neigung zur Sünde abgeleitet und insgesamt ein höchst negatives Bild von den menschlichen Möglichkeiten gezeichnet. Einigkeit herrscht nur, dass die Menschen ohne Bezug auf Gott verloren sind. Im Christentum wird die Chance, zu den Auserwählten, nicht zu den Verdammten zu gehören, ziemlich gering eingeschätzt: »Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.« (Matth 22,14) Auch die Zahl derer, von denen im Mittelalter angenommen wurde, dass sie ins Himmelreich gelangen würden, ist eher gering. Das beruht auf der Lehre von der Erbsünde. Menschen sind ihrer moralischen Natur nach verdorben durch die ererbte Ursünde von Adam und Eva. Während im Katholizismus durch die Beichte immerhin ein gewisser Freiraum zur Korrektur durch moralisches Handeln eingeräumt wird, ist der Protestantismus hier weitaus radikaler. Nach Luther können Werke überhaupt nichts zum Heil beitragen. Es ist nur der Glaube, der selig macht. Extremer noch formuliert Calvin, der vom Menschen als einem völlig verdorbenen Wesen ausgeht. Der Mensch sei bestimmt durch eine natura corrupta. Nur unaufhörliche Selbstbezichtigung der eigenen Sünden und harte Arbeit als Buße, frei von Vergnügen, biete eine Chance, den angeborenen Defekt etwas zu mildern, auch wenn er durch moralisches Handeln nicht zu beseitigen sei. Das war für den Kapitalismus eine durchaus passende Ideologie: Harte Arbeit für die Vielen, während der Zinsertrag der Reichen als Ausfluss göttlicher Gnade schon hier im weltlichen Leben galt. Warum das so gelten soll, wird nicht begründet. Nur der Glaube macht selig.

Zwei weitere Haltungen in den theistischen Systemen sind noch mit Blick auf die Moralbegründung zu berücksichtigen: Der Gedanke der Missionierung steht neben einer Elitevorstellung, der Exklusivität der eigenen Religion. Das findet sich auch im Hinduismus (Brahmanismus), demzufolge nur Angehörige einer höheren Kaste überhaupt im vollen Wortsinn moralisch aus Erkenntnis handeln können. Im Judentum gibt es eine ähnliche Vorstellung. Auch das Judentum ist eine exklusive Religion. Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Der Glaube wird also vererbt. Zwar wurden auch Menschen durch Glaubensübertritt jüdisch (z.B. die Chasaren in Osteuropa). Doch insgesamt durchzieht das Judentum die Vorstellung einer exklusiven Religion, erkennbar an der Formel vom »auserwählten Volk Gottes«. Es werden im Judentum zwar andere Religionen respektiert, allerdings in engen Grenzen: Nicht von Gott verdammt wird – z.B. nach der Lehre des Noahidismus –, wer den sieben Regeln des Noah gehorcht. Dabei sind verboten: Gotteslästerung (also eigentlich: Ablehnung des Glaubens an einen Schöpfergott), die Verwendung von Götterbildern, besondere sexuelle Praktiken und einige Nahrungsmittel. Diese Toleranz bleibt also auf den engeren Umkreis einer theistischen Moral bezogen. Katholiken oder Hindus, die Götter- oder Heiligenfiguren verwenden, wären demnach schon fast verdammt.

Die Begründung der Moral in theistischen Systemen gehorcht einer einfachen Logik: Weil Gott in seiner Offenbarung diese oder jene Regel als gültig verkündet hat, muss sie jeder Gläubige auch befolgen. Nichtbefolgung wird bestraft, wie ein Verstoß gegen eine Rechtsregel. Dies allerdings gewöhnlich noch nicht im Diesseits, in der Welt (»Mein Reich ist nicht von dieser Welt«), sondern im Leben danach, nach dem Tod, im Jenseits. Dort finden sich dann Lohn und Strafe für die Taten, gemessen an den offenbarten Moralregeln. Da Gott der Schöpfer aller Dinge ist, gibt es auch eine gottgemäße Gesellschaftsordnung. Die Regeln für das menschliche Zusammenleben sind letztlich aus den Offenbarungsschriften zu entnehmen. Hier unterscheiden sich allerdings die theistischen Systeme deutlich: Im Hinduismus wird die Kastenordnung (eine Klasseneinteilung der Gesellschaft) mit vielen Regeln recht genau vorgeschrieben. Der Buddha hat das, wie bereits gesagt, nachdrücklich kritisiert. Auch im Islam gibt es aus dem Koran oder der späteren Tradition genaue Vorschriften, wie die Gesellschaft zu gestalten ist (vgl. Scharia-Gerichtsbarkeit). Im Judentum und Christentum sind eher nur einzelne Regeln zu finden, die zudem einer Interpretation bedürfen. Beispiel »Zinsverbot«: In der Thora, im Alten Testament, ist nur das Zinsnehmen vom jüdischen Bruder verboten; von Nichtjuden darf Zins genommen werden. Dieses Gebot wurde im Christentum – mit erheblichem theologischen Interpretationsaufwand – verallgemeinert, was sich in den Wucher-Gesetzen auch rechtlich normiert niederschlug. Später hat man durch andere theologische Deutungen (Calvin im Protestantismus im 16. Jahrhundert, Oswald von Nell-Breuning für den Katholizismus im 20. Jahrhundert) dieses Verbot wieder »aufgehoben«. Da die Vorschriften im Koran eindeutiger sind, gilt das Zinsverbot im Prinzip im Islam immer noch (in der Praxis aber mit vielen Ausnahmen durch finanztechnische Tricks). Eine genau formulierte Sozialethik gibt es in allen Offenbarungsreligionen nur in Ansätzen, die jeweils einer Interpretation bedürfen.

Die meisten Moralregeln, die aus den »heiligen Schriften« entnommen werden, haben einen tugendethischen Charakter – im Sinn der griechischen Definition. Das heißt, sie zielen zuerst auf die je individuelle Vollkommenheit. Diese Vollkommenheit des Lebenswandels kann im Christentum eigentlich nur durch eine Trennung von der säkularen Welt endgültig erreicht werden – in Klöstern oder im Priesteramt. Dieser Gedanke ist durchaus der frühbuddhistischen Vorstellung verwandt, dass eine wirkliche Befreiung nur in der »Hauslosigkeit«, also der Trennung vom alltäglichen Leben der Menschen gefunden werden kann: in der »Waldeinsamkeit« (wie es in den Pali-Schriften heißt) oder im Kloster. Die Regeln für die Alltagswelt sind in diesem Verständnis immer nur vorläufig oder unvollkommen. Durchbrochen wird dieser Gedanke in dem Zugeständnis, dass auch gewöhnliche Menschen ohne Trennung vom weltlichen Leben den Stand der Heiligkeit erlangen können, wenn auch eher selten. Die Regeln für das menschliche Zusammenleben haben stets den Charakter des Vorläufigen, der nur der erste Schritt hin zur vollständigen Abkehr vom säkularen Leben ist. Dies ist ein ursprüngliches Dilemma aller religiösen Moralbegründungen. Der Islam macht hier eine gewisse Ausnahme. Er fordert in seiner fundamentalistischen Form keine Abkehr vom weltlichen, säkularen Leben, sondern dessen völlige Verwandlung gemäß der überlieferten religiösen Moral (Scharia). Es ist keine Moral für das säkulare Leben, sondern dessen völlige religiöse Überformung, weshalb Bewegungen wie der Wahabismus oder der Salafismus eine fast rein politische Form annehmen. Daneben dürfen im Islam die Ansätze zu einer säkularen Modernisierung gerade nicht übersehen werden.

Nun befindet sich eine theistische Moralbegründung allerdings noch in einem weiteren, sehr spezifischen Dilemma. Es gibt ja mehrere »Offenbarungen« Gottes. Teils beziehen sie sich aufeinander (wie Neues und Altes Testament), teils sind sie nur äußerlich beeinflusst (wie der Islam durch Judentum und Christentum), teils sind es ganz eigene Traditionen (Zoroastrismus, Brahmanismus). Trotz einiger wichtiger Übereinstimmungen in moralischen Fragen gibt es hierbei auch große Unterschiede, die durchaus praktische Konsequenzen haben. Einige Traditionen fordern, Ehebrecher zu steinigen – wie die Thora bzw. die Bibel (Lev 20,10; Dtn 22,22), auch der Steinigungsvers im Hadith, der vermutlich ursprünglich zum Koran gehörte (Sure 33). Dies widerspricht durchaus diametral der Botschaft von Liebe und Mitgefühl im Neuen Testament (Joh 8,1-8,11). Und das ist nur ein Beispiel. Hier unterscheiden sich die theistischen Systeme teils gravierend. Nicht nur hat der jeweilige Schöpfergott einen anderen Namen (Isvara, Jehova, Vater, Allah), er äußert sich auch in seiner Offenbarung sehr unterschiedlich. Der Begriff »Schöpfergott« bringt nur den gemeinsamen Gedanken zum Ausdruck, dass die Welt die Tat eines von ihr getrennten personalen Wesens ist, das von der Welt auch getrennt bleibt. Setzt man »Gott« und »Schöpfung« gleich (wie Baruch Spinoza), so wird dies als Pantheismus von den traditionell-theistischen Systemen allgemein abgelehnt.

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