Читать книгу: «Worte verletzen ... und Schweigen tötet», страница 4

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Das Telefon läutete, Nele ging ran und eine aufbrachte Martha meldete sich am anderen Ende: „Nele, triff dich bitte nicht mehr mit Julian. Ich habe gerade erfahren, dass er beschuldigt wird, mehrere Frauen sexuell belästigt zu haben.“

Nele atmete tief durch, ehe sie antwortete: „Es würde mich interessieren, wer das behauptet.“

„Ich habe es von einer Nachbarin, deren Schwester hat eine Freundin und deren Ehemann ist mit einem Staatsanwalt befreundet, der den Fall zugeschrieben bekommen hat.“

„Martha, tut mir leid, für solch eine Gerüchteküche habe ich keine Zeit. Julian besucht mich gleich“, tat Nele die Worte ihrer Freundin ab.

„Nein, Nele, lass ihn nicht herein“, flehte Martha ängstlich.

„Das ist doch lächerlich. Meine Jungen sind bei Pater Nikolaos und Julian und ich machen uns einen schönen Nachmittag“, sagte Nele nachdrücklich und legte auf, als Julian auch schon an der Tür läutete.

Er bezauberte Nele erneut mit seinen zärtlichen Küssen. Diesmal ließ Nele es zu, dass er ihre Brüste leicht massierte, es war ein angenehmes Gefühl. Julian stöhnte ihr erregt ins Ohr: „Schlaf mit mir.“

Doch dafür war Nele noch immer nicht bereit, zu Sex gehörte mehr als nur anfängliche Schwärmereien. Sie machte ihren Standpunkt klar und weigerte sich erneut, sich zu früh für diese besondere Intimität zu öffnen. Doch Nele hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Julians Augen blitzten wutentbrannt auf, er verbog blitzschnell Neles Hände und hielt sie fest. Sie schrie laut auf vor Schmerz, aber Julian kümmerte das wenig. Er versuchte, Nele die Hose auszuziehen, während er sie gewaltsam fest umklammerte. Nele war nun eindeutig klar, dass er sie zu vergewaltigen versuchte. Sie probierte panisch und mit aller in ihr steckenden Kraft, sich zu wehren, aber sie hatte keine Chance gegen ihn. Verzweifelt flehte sie Julian um Erbarmen an, doch der dachte gar nicht daran.

Genau in diesem Moment stürmte Nikolaos das Zimmer, riss Julian mit unmenschlicher Stärke in die Höhe und schleuderte ihn gegen die Wand. Dieser blieb bewusstlos am Boden liegen. Nele weinte, einerseits wegen des Schocks, andererseits aus Erleichterung. Der Priester hob sie behutsam hoch auf seine Arme und trug sie ins Badezimmer. Seine sanften Augen schienen ihr in die verletzte Seele zu schauen. Diese wohlige Wärme, die Nikolaos’ Körper an Nele abstrahlte, war ein wunderbares Gefühl, sie fühlte sich in Sicherheit. Nele wünschte sich, für immer in seinen Armen liegen zu dürfen, um diese Geborgenheit spüren zu können. Dass sie seine Nähe nie haben könnte, weil er Geistlicher war, gab Nele das erste Mal einen Stich ins Herz. Er war ihr Held und Retter, mehr durfte das nicht bedeuten. Er hatte sie nur vor Julian bewahrt, von dem sie nicht glauben wollte, dass er zu so was fähig war. Als Nikolaos sie absetzte, um die Polizei zu rufen, blieb eine schmerzhafte Leere in Neles Herz. Vielleicht war es doch ihre Bestimmung, ohne Partner zu sein, und sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Schließlich durfte sie nicht undankbar sein, denn das, was sie mit Jan hatte erleben dürfen, durften nicht viele Menschen erleben – eine aufrichtige, ehrliche und intensive Liebe.

Die Sanitäter nahmen Julian im Rettungswagen mit, begleitet von der Polizei. Nele und Nikolaos mussten sich den langwierigen Befragungen der Beamten stellen und deshalb auf die Polizeistation mitkommen. Auf dem Revier stellte sich heraus, dass Nele mit einem blauen Auge davongekommen war, denn ihr Peiniger war tatsächlich bereits mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt worden, aber jede dieser Frauen hatte im Nachhinein die Anzeige zurückgezogen. Es lief bereits ein Ermittlungsverfahren, ob er seine Opfer zusätzlich unter Druck setzte, ihnen zusätzliche Angst und Schrecken einjagte, damit sein gewalttätiges Treiben nicht bestraft wurde von öffentlicher Hand.

Nikolaos durfte anschließend mit Nele die Polizeistation wieder verlassen. Schließlich hatte er in Notwehr gehandelt. Martha hatte ihn Gott sei Dank auf den Plan gerufen und war an seiner statt bei Samuel und Jonas, damit der Priester der Mutter der Jungen zur Rettung eilen konnte. Nele hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrer Freundin nicht geglaubt und Martha ihr trotzdem umgehend geholfen hatte. Sie würde sich bei ihrer Freundin entschuldigen müssen.

Am verwirrendsten aber waren im Moment die unwillkommenen Gedanken, die Nele über Nikolaos im Kopf herumschwirrten. Er war ihr Held, aber das war nicht das Problem. Ein unbeschreibliches Verlangen nach diesem Mann machte sich in ihr breit. Auch das noch, konnte sie sich nicht im Zaum halten? Ihr Herz meldete sich anscheinend zu den unpassendsten Zeiten zu Menschen, gegenüber denen sie keine Zuneigung empfinden sollte. War seit dem Tod ihres Ehemannes irgendetwas falsch gepolt in ihrer Gefühlswelt? Oder war es eine unbewusste Reaktion ihres Verstandes, um ihr zu zeigen, dass sie immer noch nicht bereit war, einen anderen Mann zu lieben?

Plötzlich vermisste sie Jan schmerzlich, wäre er doch nicht gestorben, hätte sie niemals über so etwas nachdenken müssen. Wieder einmal wünschte sie sich, dass er nie krank geworden wäre, aber Wünsche brachten einen im Leben leider nicht weiter.

Um von ihrem eigenen Gefühlschaos abzulenken, erzählte Nele Nikolaos von ihrem wiederkehrenden Traum von Peristera, natürlich ohne die Worte der Inschrift zu erwähnen.

„Ich kenne diese Geschichte. Die Kirche in meinem Heimatort ist der heiligen Peristera geweiht“, erklärte der Priester.

Nele starrte ihn fassungslos an: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte, das sind Hirngespinste.“

Nikolaos redete einfach weiter: „Die Inschrift, die sie am Altar anbrachte, konnte bis heute keiner deuten. Das ist sehr geheimnisvoll und faszinierend für die Menschen, deshalb kommen viele, um das Geschriebene zu sehen. Warte, ich glaube ich weiß noch, was sie eingraviert hatte: Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung.“ Jetzt starrte der Priester Nele in peinlicher Stille an, ehe er sie fragte: „Welche Liste?“

Nele konnte sich vor lauter Schreck nicht einmal eine Notlüge zusammenbasteln, sie stammelte: „Ich hatte eine Liste von Männern, Bekanntschaften aus meiner Vergangenheit. Ich hoffte, dadurch wieder einen Ehemann zu finden, was im Nachhinein gesehen sehr naiv war, denn Julian stand auch auf dieser blöden Liste.“

Nikolaos hörte einfach nicht auf, Nele mit offenem Mund anzublicken. In ihr stieg Panik hoch. Wie konnte sie einem Geistlichen nur so etwas sagen? Was dachte er jetzt bloß? Natürlich musste er schockiert sein. Der Fluchtinstinkt meldete sich in ihr, Nele machte auf dem Absatz kehrt und ließ den erstaunten Priester einfach stehen. Hoffentlich würde er ihr irgendwann dieses peinliche Gespräch verzeihen, aber für den Moment musste sie einfach nur weg, es war besser so.

Nachdem sich alles etwas gesetzt hatte und genügend Zeit vergangen war, verbrannte Nele die Liste, die ihr eindeutig kein Glück gebracht hatte, und beschloss, sich mehr ihren Söhnen zu widmen. Sie entschuldigte sich auch bei Martha. Sie war eine sehr gute Freundin, denn sie war kein bisschen böse, hatte sich nur große Sorgen gemacht und das zu Recht – Julian saß im Gefängnis und wartete auf seinen bevorstehenden Prozess.

Außerdem organisierte Nele eine gemütliche Gartenparty zur Taufe von Lisas Baby. Die frischgebackene Mutter freute sich riesig über dieses besondere Geschenk der Taufpatin ihrer Tochter. Die Feier rundete die gelungene Taufe harmonisch ab und die Stimmung war glänzend. Die kleine Nele, die der Mittelpunkt der Feierlichkeiten war, schlief gerade seelenruhig in ihrem Kinderwagen und bekam von dem Trubel um ihre Taufe gerade nichts mit.

Nach ein paar Gläsern Wein hielt Nele eine Rede. Sie dankte darin Gott für die Ehe von Lisa und Noah und für das Mädchen, das aus dieser Verbindung hervorgegangen war und das heute getauft wurde, weil es Gottes geliebtes Kind war.

„Ich hoffe für dich auch, dass du noch einmal die Chance bekommst, zu heiraten“, sagte Lisa dankbar und merkte erst, als sie es vor allen ausgesprochen hatte, dass sie, ohne es zu wollen, wahrscheinlich einen wunden Punkt im Herzen von Nele getroffen hatte.

Aber diese reagierte souverän: „Ich bin eine starke Frau und komme ebenso gut allein zurecht. Meine beiden jungen Männer sind mir Geschenk genug, außerdem hatte ich eine wunderbare Ehe mit Jan. Prost auf die kleine Nele. Möge ihr ein glückliches, langes und vor allem gesegnetes Leben bevorstehen.“

Alle klatschten, nur einer war sichtlich unzufrieden. Nikolaos stand plötzlich eindeutig empört auf, sodass nur die gratulierende Nele und er standen, alle anderen blickten sie an und fragten sich wahrscheinlich, was das sollte. Unerwartet ergriff er ebenfalls vor versammelter Feiergemeinde das Wort: „Und was ist mit mir, Nele? Ich liebe dich und möchte mit dir zusammen sein.“

Ein schockiertes Tuscheln ging durch die Reihen. Nele war es peinlich, dass der Priester ihr öffentlich seine Liebe gestand, noch dazu im Beisein ihrer Söhne. Aber sie beschloss trotzdem, ehrlich zu sein: „Ich liebe dich auch, aber du bist doch Priester. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen dein Gelübde brichst. Die Menschen brauchen dich.“

Die Anwesenden hatten nun jede Aufmerksamkeit auf die beiden gerichtet. Es entging niemandem, dass Nikolaos aus vollstem Herzen auflachte. Keiner konnte sich dieses eigenartige Verhalten erklären. Ratlos blickten sich alle an. Aber er löste Gott sei Dank mit seiner Erklärung die peinlich anmutende Situation umgehend auf: „Nele, ich habe mich keinem Zölibat verpflichtet. Ich bin nicht römisch-katholisch, sondern griechisch-katholisch und gehöre somit zu den wenigen katholischen Priestern, die heiraten dürfen.“

„Es gibt in der katholischen Kirche verheiratete Priester?“, fragte Nele ungläubig nach.

„Ja, es sind sehr wenige, aber es gibt sie“, sagte er lächelnd.

Nele brauchte einen Moment, ehe sie begriff, was Nikolaos gesagt hatte. Dann stürmte sie auf ihn zu. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich. Ein unbeschreiblich gutes Gefühl erfüllte Neles Herz. Alle um sie herum applaudierten lautstark. Nele fand in diesem besonderen Augenblick ihr Glück wieder, alles ergab plötzlich einen Sinn. Gottes Schönheit hatte sich schon immer im Spiegel ihrer eigenen Seele gezeigt, nur war Nele das bis jetzt nicht ganz klar gewesen. Sie spürte deutlich das Geschenk eines wunderschönen Lebens, sie war wieder bei sich selbst angekommen.

Es war sogar fast so, als berührte Jan sanft ihre Schulter und flüsterte ihr zu: „Gut gemacht, Liebling. Du warst schon immer im Herzen Gottes zu Hause, darin liegt die wahre Schönheit des Lebens, im Lieben und Geliebt-zu-werden.“

*

Kapitel 3

„Emilia, du hast mich ernsthaft überrascht. Ich dachte anfänglich, dass du unheilbar psychisch krank bist. Aber das kann nicht sein, sonst würdest du nicht so schöne Geschichten schreiben. Es gibt eindeutig Heilungschancen für dich“, erzählte Frau Dr. Gabriel mit meinen Papieren in der Hand, die ich eigenhändig mit Neles Geschichte beschrieben hatte.

„Ihr hattet nicht das Recht, das zu lesen, meine Gedanken gehören mir. Diese Erzählung gehört mir. Ich habe es nicht erlaubt, dass ihr das an euch nehmt“, schrie ich aufgebracht.

„In deiner Akte steht, dass du eine Gefahr für die Menschheit bist, deshalb habe ich sehr wohl das Recht, deine Geschichten zu lesen“, sagte die Psychologin trocken.

Die Wut kochte siedend heiß in mir, aber ich wollte die Galle nicht ausspucken, die mir bitter auf der Zunge lag, und blieb lieber stumm. Was brachte es schon, zu reden? So starrte ich Frau Dr. Gabriel nur zornig an und versuchte, ihre Ausführungen über meinen geistigen Gesundheitszustand zu ignorieren. Was für ein Schwachsinn. Was wusste sie schon über mich? Nichts! Trotzdem musste ich mir ihr dummes Geschwafel anhören, sonst nahmen die Wärter mir Papier und Stifte weg, denn sie wussten genau, dass mich das am härtesten traf. Damit hatten sie mich in der Hand.

„Emilia, ich habe dich etwas gefragt?“, drang es zu meinem Ohr.

Ich zuckte mit den Schultern, die Psychologin seufzte.

„Emilia, warum schweigst du?“, setzte sie erneut an.

„Schweigen ist das Schlimmste, was man mir antun kann“, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. Ich biss mir auf die Zunge. Warum hatte ich das bloß getan?

„Das musst du mir erklären. Es tut dir nichts mehr weh, als etwas nicht verstehen zu können? Und deshalb schweigst du auch?“, fragte sie nach.

„Ich weiß es nicht – eigentlich will ich nicht so sein, aber ich kann mich nur auf mich verlassen. Es versteht mich sowieso keiner“, kämpfte ich mit den Tränen. Diese Unterhaltung war schrecklich.

„Bist du dir da ganz sicher? Emilia, da steckt mehr hinter deinem Schweigen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass man sehr viel Heilung erfahren kann, wenn man etwas anspricht, sich sozusagen von der Seele redet. Ich bin sogar so sehr davon überzeugt, dass ich es zu meinem Beruf gemacht habe“, ergänzte Frau Dr. Gabriel.

„Ansonsten hätten Sie kein Interesse an mir, wenn es nicht um Ihre Bezahlung ginge?“, schrie ich, schnellte in die Höhe und schmiss wütend den Stuhl um, auf dem ich gerade noch gesessen hatte. Mein Gegenüber schreckte zurück. Der Wärter, der im Raum stand, um aufzupassen, hielt mich umgehend fest. Aber es war gar nicht mehr notwendig, denn ich wehrte mich nicht.

„Emilia, ich werte das als ersten positiven Schritt, aus dir herauszugehen. Das war ein guter Anfang, um weiterzuarbeiten. Überlege es dir gut, ob du mir nicht doch deine Geschichte erzählst. Ich verspreche dir, dass ich dir helfen kann. Ja, ich werde dafür bezahlt, aber ich würde diesen Beruf nicht ausüben, wenn mir nicht der Mensch hinter seiner Geschichte an erster Stelle stehen würde. Es ist mir wichtig, dir zu helfen“, schloss die Psychologin ab, ehe ich abgeführt wurde.

In erneuter Lethargie verfallen, trottete ich in meine Zelle. Dort hatte ich wenigstens meine Ruhe.

*

Stille

Ein markerschütternder, kinderähnlicher Schrei hallte durch die leere Straße. Einige Tauben erschraken und suchten flügelschlagend das Weite. Das rauschende Flattern hallte durch die nebelversunkene Nacht. Suchend hielt Andreas kurz inne, sein Herz raste unaufhörlich. Keuchend sah er sich mit furchterfüllten Augen um, seine Lunge brannte höllisch. Nein, er konnte nicht stehenbleiben. Er musste weiter, immer einen Fuß vor den anderen setzen. Er rannte um sein Leben. Der Schatten war unaufhaltsam hinter ihm her.

Sollte sich doch jemand anderes um das gequälte Kind kümmern. Was ging ihn das Leid eines anderen an? Doch der herzzerreißende Laut erklang von Neuem. Andreas warf einen hastigen Blick über seine Schulter. Vielleicht könnte er es einen Augenblick riskieren, schnell nachsehen und gegebenenfalls Hilfe holen. Es war Unrecht, nichts zu tun.

Er bog mutig in die Seitengasse ein, aus der das schreckliche Gekreisch kam. Er konnte hören, wie er dem Radau immer näherkam. Hinter der schwarzen, überquellenden Mülltonne musste es sein, die Quelle der Hilfe suchenden Laute. Er hechtete ruckartig nach vorne, wühlte sich durch die stinkenden Müllsäcke, die achtlos daneben abgestellt waren. Panik stieg in ihm auf, viel zu lange verweilte er schon an diesem Ort, an dem er nicht sein sollte.

„Au, scheiße!“, schrie Andreas und hielt sich die blutende, zerkratze Hand. Fauchend sprang eine dreckige Katze aus dem Unrat und suchte umgehend das Weite. Sie tänzelte stolz über die Pfützen, die der letzte Regenschauer auf dem Asphalt hinterlassen hatte. Ihr Schweif wogte stolz hin und her, als verhöhnte sie absichtlich den Menschen, der sie gerade retten wollte. „Du Mistvieh, ich dachte du wärst ein verängstigtes Kind“, rief ihr Andreas wütend nach. Blut tropfte von seinem Handrücken auf den Boden. Aber das war jetzt nebensächlich. Er drehte sich um. Zum Glück war sein Verfolger noch nicht zu sehen. Er hastete erneut los. Doch seine fehlende Aufmerksamkeit und seine überdurchschnittliche Körpergröße wurden ihm zum Verhängnis. Unsanft stieß er gegen ein Metallrohr, das niedrig an der zerklüfteten Mauer befestigt war. Verrostet stand es gefährlich vom Ziegelwerk ab. Seine Schädelknochen knackten laut bei dem Aufprall. Das Geräusch hallte unschön in seinen Ohren nach, ehe alles um ihn in der Dunkelheit versank. Ohnmächtig sackte er zusammen in dem Wissen, dass dies sein sicheres Ende sein würde. Er hatte das unfreiwillige Spiel verloren. Es würde sein letzter Tanz mit dem besitzergreifenden Schatten sein, der ihn langsam, aber sicher einholte. Langsam kroch er näher, wie schwarze Nebelschwaden glitt er durch die Gasse. Die letzten Stunden seines Lebens zogen wie ein Film vor Andreas innerem Auge vorbei.

Am Nachmittag war die Welt noch in bester Ordnung gewesen. Andreas saß an seinem Schreibtisch und bearbeitete den letzten Papierkram, der unter der Woche liegengeblieben war. Sein Büro war geschmackvoll und modern eingerichtet. Geradlinig, hell, kein unnötiger Schnickschnack störte seine erforderliche Konzentration. Ordnung, Disziplin und Strenge waren für Andreas ein unumgänglicher Bestandteil seines selbst auferlegten Verhaltenskodex. Es war das unausgesprochenes Geheimnis seines Erfolgs.

Richter war sein Traumberuf, er fand es immer schon faszinierend, wie manche Verbrecher raffiniert an ihr Werk gingen. Wenn ihre kriminellen Machenschaften mit Präzision und Intelligenz geplant und durchgeführt wurden, war er genau in seinem Element. Es musste ihm Kopfzerbrechen bereiten, wie Details des Verbrechens überhaupt möglich waren.

Leider hatte er es allzu oft mit absoluten Versagern zu tun, die nicht einmal den einfachsten Betrug reibungslos über die Bühne brachten. Ihre Dummheit machte Andreas wütend. Er hasste Menschen, die nicht von A nach B denken konnten. Viel zu selten waren seine Fälle in letzter Zeit herausfordernd, konnte er den Nervenkitzel der Genialität hinter den Kulissen der Täter verspüren.

Andreas blickte auf seine Armbanduhr, es war bereits halb acht. Er legte alles ordentlich beiseite, an seinen von ihm festgelegten Platz, denn er wollte mit einem Freund ein Bier trinken gehen. Lieber wäre ihm zwar ein netter Fußballabend vor dem Fernseher, aber es gehörte momentan zu seinen selbstauferlegten Pflichten, sich unter Leuten blicken zu lassen. Denn er verfolgte ein Ziel, einen unerfüllten Lebenswunsch.

Vielleicht lernte er heute endlich die Frau seiner Träume kennen. Eine liebende Begleiterin an seiner Seite war alles, was ihm zum vollkommenen Glück fehlte. Bis jetzt hatte er nur Pech. Er wusste, dass er gut aussah. Er entsprach durchaus den gängigen Schönheitsidealen. Doch sein großer Körperwuchs machte ihm zu schaffen. Was in seinem Beruf ein Vorteil war, weil fast jeder respektvoll vor ihm zurückwich, war in der Damenwelt ein Problem. Viele Frauen fühlten sich nicht wohl neben ihm, weil er sie um einiges überragte. Es würde Andreas nichts ausmachen, eine große Frau zu haben, nur leider gab es die genau so selten, wie ihn selber andere Männer an Körpergröße übertrafen.

Unausgesprochene Sehnsucht machte sich in Andreas Herzen breit. Der Anflug von Einsamkeit nahm ihm die Luft zum Atmen. Um sich von dem unerwünschten Schmerz abzulenken, ging er ins Badezimmer seines Büros, weil er sich fertigmachen wollte. Stets hatte er frische Kleidung und die nötigen Toilettenartikel hier, um nicht unnötige Zeit zu verplempern, indem er nach Hause fahren musste, weil er sich duschen und umziehen sollte.

Auf dem Sprung bemerkte er den verpassten Anruf auf seinem Smartphone. Es war seine Mutter gewesen. Er musste kurz zurückrufen, ansonsten machte sie sich wieder unnötige Sorgen. „Hallo, Mama“, sagte er höflich.

„Hallo, Schatz. Kannst du morgen zu uns Mittagessen kommen? Deine Schwester kommt auch mit ihrer Familie!“

Andreas seufzte: „Klar, ich komme. Aber ich muss jetzt los. Bis morgen.“ Kaum hatte seine Mutter sich verabschiedet, legte er auf und machte sich auf den Weg. Einerseits freute er sich auf den Besuch bei seinen Eltern. Er liebte seine Neffen und mochte es, mit ihnen herumzualbern. Aber andererseits ertrug er es nicht, das Familienglück seiner Schwester zu sehen. Er war der Ältere, er hätte zuerst Frau und Kinder haben sollen. Umso mehr er sich auch einredete, dass er ihr das Glück gönnen musste, umso mehr fraß ihn der Neid auf. Nie hätte er sich gedacht, so eifersüchtig auf seine kleine Schwester sein zu können. Abgesehen von den Streitereien ihrer Kindheit war sie immer eine gute Lebensbegleiterin gewesen, die ihn ernst nahm und ihn nötigenfalls auch respektvoll kritisierte. Diese Eigenschaft schätzte er sehr an ihr.

„Aber heute ist heute und morgen ist morgen“, dachte Andreas bei sich, als er sein Auto einparkte.

Sebastian stand schon an der Bar, mit einem Bier in der Hand, als Andreas eintraf. Es war ein ruhiger Samstagabend, die vereinzelten Gäste verteilten sich im Lokal. Andreas war nicht besonders redselig, so beschloss Sebastian, mit ihm Small Talk zu betreiben, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.

„Wie siehst du die sich anbahnende Wirtschaftskrise?“

Andreas schaute seinen Freund mit zu Schlitzen verengten Augen an: „Geldgier macht uns zu leeren Hüllen, in der unsere Seelen vor Einsamkeit verbluten.“

Sebastian schaute ihn entgeistert an. Was war los mit Andreas? Woher kam diese negative Ader heute Abend? Aber er wagte es nicht noch einmal ihn in ein längeres Gespräch zu verwickeln.

Neben den folgenden wortkargen Konversationen starrten die beiden Männer auf den Fernsehbildschirm, der ein Fußballspiel ohne Ton zeigte. Nichtsdestotrotz ging regelmäßig ein Raunen durch das Lokal bei einer verpassten Torchance. Ein Bier nach dem anderen ging über die Theke, aus Langeweile kippte Andreas eins nach dem anderen in sich hinein.

Sichtlich betrunken wollte er schon seine Sachen packen, als Sebastian mit dem Kopf in Richtung Tür deutete. Andreas blickte hinüber, zwei hübsche Frauen betraten die Bar. Eine davon war riesig, aber ihr Körperbau war durchaus proportional, aufreizend und anziehend. Am liebsten hätte er an Ort und Stelle in ihre lange, nussholzbraune Mähne gegriffen. Es war durchaus sexy, wie ihre dichten, gewellten Haare das schöne Gesicht umspielten. Er musste sie kennenlernen. „Du redest mit der Kleinen“, zischte Andreas Sebastian zu.

Der Freund grinste wie ein Honigkuchenpferd: „Klar doch, alter Checker. Schmeiß dich ran an die Braut.“

Andreas ignorierte Sebastian mit seinem dümmlichen Machogehabe und wartete ab, bis die beiden Frauen in ihre Richtung steuerten. Zu seinem Glück schien ihn die Große bereits bemerkt zu haben und schaute ihn interessiert an. Als er sich noch zurechtlegte, was er zu ihr sagen könnte, stand sie bereits vor ihm.

„Und ich dachte, es gibt keine großen Männer mehr auf dieser Welt“, begann sie kokett.

Andreas lachte, übertrieb es aber in seinem Rausch zusehend. Er ermahnte sich still selbst, sich zusammenzureißen. Jede falsche Bemerkung könnte das Aus für diese Begegnung sein. Er versuchte, seine Gedanken so zu ordnen, wie er es vor seinen Verhandlungen am Gericht immer tat. Doch der Alkohol benebelte seine Sinne. „Andreas“, stellte er sich ungeschickt vor.

„Isabella“, gab sie zurück.

„Möchtest du etwas zu trinken?“, lallte Andreas unpassend.

Isabella lehnte sich an sein Ohr: „Nein, ich möchte dich.“

Andreas verlor fast das Gleichgewicht wegen dieser direkten Anmache. Und das aus dem Mund einer Frau? Das widersprach all seinen guten Manieren, die er sich so mühsam über die Jahre antrainiert hatte. Oder war es ein Wink des Schicksals, endlich zuzugreifen? Zu lange war er schon allein. Er sehnte sich danach, in den Händen einer Frau zu sein, die ihn begehrte.

Er entschied sich dafür, dass es einen Versuch wert war, und zog Isabella ohne Erklärung an sich. Er küsste sie lange und intensiv auf den Mund. Ihre Lippen schmeckten wie süße Erdbeermarmelade. Er versuchte, diese angenehme Emotion festzuhalten, doch der Alkohol begann, in seinem Kopf zu hämmern. Ein dunkler Schatten zog hinter ihm auf und ließ ihn frösteln.

„Geht es dir gut?“, fragte Isabella.

„Ich habe nur zu viel Bier getrunken“, gab er diese Halbwahrheit von sich, während ihm das eisige Gefühl weiter im Nacken saß.

„Komm, gehen wir an die frische Luft“, schlug diese Wahnsinnsfrau vor.

Bereitwillig ging er mit ihr nach draußen. Sie schlenderten den Gehsteig entlang, der von dem gedämpften Licht der Straßenlaternen erhellt wurde. Isabella führte Andreas, sie steuerte mit ihm händchenhaltend den nahegelegenen Park an. Sie bemerkte nichts von Andreas innerem Kampf. Der Schatten, der ihn begleitete, schien zu wachsen und verfärbte sich stetig dunkler. Als sie das schmiedeeiserne Tor des Parks durchschritten, schmerzte Andreas bereits der Druck, der sich in seinem Kopf aufbaute. Er versuchte, es zu ignorieren, setze sich auf eine Parkbank und zog Isabella an sich. Stürmisch küsste er sie und versuchte, ihre Leidenschaft zu genießen. Aber etwas machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er konnte fühlen, wie der aufgezwungene Schattentanz sich in seinem Inneren unheilvoll entfaltete. Viel zu oft hatte ihn dieses grauenhafte Dunkel schon in Besitz genommen, alle seine Träume vernichtend zerstört. Irgendwann würde er nicht mehr entkommen. Doch so sehr er sich auch wehrte gegen diese böse Macht, sie ließ ihn nicht los. Es war wie eine innere Grenze, die er nicht kontrollieren konnte. Er schien an ihr entlangzuschrammen, bis jemand anderer für ihn entschied, sie zu überschreiten.

Als Isabella aufschaute bemerkte sie den aufsteigenden Wahnsinn in seinen Augen. Wie ein Verrückter blickte er sie an. Ihr war, als könnte sie den schmalen Grat in seiner geweiteten Pupille erkennen, der aus einem guten einen bösen Menschen machte. Panisch versuchte sie, sich aus seiner klammernden Umarmung zu lösen. Doch Andreas wollte sie nicht loslassen. Sie war die Frau seiner Träume. Mit aller Gewalt hielt er sie fest. Dieses Mal würde er sich nicht unterkriegen lassen und mit eingezogenem Schwanz flüchten vor diesem Irrsinn, den er nicht zurückhalten konnte.

„Bleib bei mir, ich brauche dich“, flüsterte er ihr beruhigend und zärtlich zu.

Und es schien zu wirken. Isabella wehrte sich nicht mehr. Ruhig lag sie in seinen Armen und starrte ihn mit leblosen Augen an. Der Schatten stand neben ihnen und lachte hämisch. Die Trennlinie der Vernunft war bereits meterweit überschritten.

Erschrocken ließ Andreas die Leiche fallen. Die eiskalte Schwärze umgarnte ihn. Sie würde ihn genauso festhalten und zerquetschen, wie er es mit Isabella gemacht hatte. Er spürte, dass es kein Zurück mehr für ihn gab. Er musste jetzt handeln, der Überlebensinstinkt keimte noch einmal auf, Widerstand regte sich. Andreas war sich plötzlich sicher, dass er kein Mörder war. Sein Verstand schien die Barriere des Unfassbaren erneut gewechselt zu haben. Er lief los, um der Dunkelheit zu entrinnen.

Ächzend wachte er auf. Verschwommen sah er das verrostete Rohr an der Mauer, gegen das er kurz zuvor gestoßen war. Als sich sein Blick klärte, weiteten sich seine Augen panisch. Sein Verfolger war wiedergekehrt. Mit letzter Kraft stemmte sich Andreas nach oben und rappelte sich auf. Die schmerzende Last in seinem Kopf erdrückte ihn fast, er torkelte, spürte das warme Rinnsal seines eigenen Blutes über das Gesicht fließen. Er war zu spät, kein Ausweg tat sich in seiner Verzweiflung für ihn auf. Der nächtliche Schatten hüllte Andreas verborgene Bosheit gekonnt ein. Wie schwarze Nebelschwaden umwoben seinen Körper. Seine Stimme versagte. Erstickend fraß sich die Angst in seine Eingeweide. Er spürte, wie das Unheil sich seiner bemächtigte, in jede Pore drang, ehe die Welt ihren letzten Lichtschein einbüßte. In tiefster Dunkelheit sank er zu Boden. Endlich war alles vorbei, friedliche Stille breitete sich über den vorangegangenen Wahnsinn aus. Übrig blieb eine weitere Leiche heute Nacht, die mit leblosen Augen ins Nichts starrte.

Schreiend wachte ich auf und versuchte, zu begreifen, was ich gerade geträumt hatte. Es war so viel Fantasie in meinem Kopf. Wo kam die bloß immer her?

Fast automatisch griff ich zu Papier und Stift und schrieb die Geschichte auf, wie im Rausch flossen die Worte von meinem Kopf in meine Finger und formten sich zu einer Erzählung. Ich schrieb und schrieb und schrieb. Ein innerer Drang leitete mich. Das erste Mal wollte ich verstehen, was das alles sollte. Warum kamen solche Bilder in meinen Kopf, die zu Geschichten wurden? Was war bloß los mit mir? War es ein Segen oder ein Fluch, so zu sein?

Und als ich den Schreiber endlich weglegte, schoss mir die Tat in den Kopf, wegen der ich im Gefängnis saß, es war, als durchlebte ich sie noch einmal in aller Deutlichkeit, meine Erinnerungen blendeten kein einziges Detail aus. Ich begann zu weinen, aber nicht, weil ich irgendetwas daran bereute, was ich verbrochen hatte, sondern weil ich mich auf einmal selbst bedauerte. Ich konnte die Tränen nicht halten, sie waren wie ein strömender Fluss, der nicht enden wollte. Ich spürte diesen inneren Schmerz tief in mir, es war nicht auszuhalten. Meine Haut brannte höllisch wie loderndes Feuer, ich begann, sie mit meinen Fingernägeln aufzukratzen und hörte nicht auf, ehe meine Arme bluteten. Ich musste das tun, denn ich hatte mich lange selbst nicht gespürt. Der Schock darüber, ich könnte nach so langer Zeit doch noch selbst in mir sein, war sehr groß. Ich musste mit jemandem darüber reden. Mir fiel die rothaarige Psychologin ein. Vielleicht sollte ich doch mit ihr sprechen. Denn irgendein Funke in meinem Herzen wollte plötzlich wieder lebendig sein, verspürte auf einmal echtes Mitgefühl für meine eigene Situation. Irgendwo in meinem Körper war ich anscheinend noch da, die Frau mit dem Namen Emilia.

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9783960743729
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