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2 Allgemeine Entwicklung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen

2.1 Zahlenverständnis bei Tieren

Wissenschaftliche Befunde aus dem Tierreich werden häufig herangezogen, wenn die biologische Basis einer Fähigkeit belegt werden soll. Obwohl unbestritten nur der Mensch in der Lage ist, komplexe und abstrakte mathematische Prozesse durchzuführen, so wird sich doch im nachfolgenden Kapitel zeigen, dass vermutlich auch Tiere über ein oft überraschend detailliertes Verständnis von Anzahlen und Mengen verfügen.


abstrakte Repräsentation

Einen eindrucksvollen Befund zur Verarbeitung von Anzahlen bei Tieren lieferten Jordan und Brannon (2003) in einer Studie mit Rhesusäffchen. Drei Rhesusäffchen wurden trainiert, visuelle Displays anhand der Anzahl der abgebildeten Elemente zu sortieren: Zuerst wurde ein Display mit entweder 2 oder 8 Elementen präsentiert. Wenn das Äffchen den Bildschirm berührte, verschwand diese Vorlage, und es erschienen zwei neue Displays mit 2 und 8 Elementen. Nun mussten die Tiere dasjenige Display auswählen, das in der Anzahl mit dem zuvor gezeigten Target-Display übereinstimmte. Jede korrekte Antwort wurde unmittelbar belohnt (durch Futter). Die Tiere konnten ihre Entscheidung nicht an visueller Identität orientieren, weil das korrekte Auswahldisplay niemals identisch zur Vorlage war: Vorlage- und korrektes Auswahldisplay unterschieden sich in Größe, Farbe und Dichte und stimmten lediglich in der Anzahl der Elemente überein. Wichtig war es auch, dass die Tiere nicht eine relativ einfache Entscheidung von „mehr“ und „weniger“ treffen konnten. Mehr Punkte verdecken üblicherweise auch eine größere Fläche des Displays. Dies wurde gewährleistet, indem in einem Teil der Aufgaben 2 sehr große Punkte 8 sehr kleinen Punkten gegenübergestellt wurden. Eine Verständnis für Ordinalität Entscheidung auf Basis von „mehr Oberfläche“ würde hier also systematisch zu falschen Entscheidungen führen.

Nach einer Lernphase waren die Äffchen gut in der Lage, ihre Entscheidung tatsächlich ausschließlich auf Basis der Anzahl der dargebotenen Elemente zu treffen und dabei gleichzeitig andere Merkmale wie Farbe, Größe oder verdeckte Fläche zu ignorieren. Um zu untersuchen, ob die Äffchen nun in diesem Experiment lediglich die Unterscheidung von „2“ und „8“ gelernt hatten oder ob sie tatsächlich verstanden hatten, dass sie Urteile auf Basis der präsentierten Anzahlen treffen sollten, wurde im Anschluss an die Trainingsphase eine weitere Aufgabe durchgeführt: Jetzt enthielt das erste Display plötzlich eine beliebige Anzahl von 1 bis 9 Elementen, anschließend wurden nach wie vor 2 oder 8 Elemente präsentiert. Die Aufgabe bestand nun darin, zu entscheiden, welches der beiden Auswahldisplays dem ersten Display ähnlicher war. In dieser Testphase ließ sich zeigen, dass die Tiere tatsächlich imstande waren, die Anzahl als zentrales Kriterium ihrer Entscheidung heranzuziehen: Während 7 Punkte eher 8 Punkten zugeordnet wurden, wurden 3 Punkte eher dem Auswahldisplay „2“ zugeordnet.

Verständnis der Ordinalität

In einem anderen experimentellen Paradigma (Brannon / Terrace 1998; 2000; 2002) lernten Rhesusäffchen, vier parallel dargebotene Displays, die jeweils 1, 2, 3 und 4 Objekte abbildeten, in ansteigender Reihenfolge am Touch-Screen zu berühren. Die vier Displays bildeten zum Teil sehr unterschiedliche Objekte ab (z. B. 1 Kreis, 2 Dreiecke, 3 Blumen und 4 Kreuze). Wiederum wurden nichtnumerische Faktoren wie Größe, Dichte und insgesamt verdeckte Oberfläche experimentell variiert. Auch hier zeigte sich, dass die Äffchen diese perzeptuellen Merkmale tatsächlich ignorieren konnten und rasch lernten, ihre Auswahl auf Basis der Ordinalität, also der ansteigenden Anzahl der vier Displays, zu treffen. Interessanterweise konnten die Äffchen das Prinzip der Ordinalität auch auf die nicht trainierten Ordinalzahlen 5 bis 9 anwenden: Die Tiere sollten nun Displaypaare ansteigend nach ihrer Ordinalität berühren, erst das numerisch kleinere und dann das numerisch größere. Im trainierten Zahlenraum 1 bis 4 konnten die beiden Äffchen diese Anforderung mit hoher Genauigkeit erbringen. Auch der Vergleich einer trainierten mit einer untrainierten Anzahl (z. B. 2 vs. 6) bereitete ihnen wenig Schwierigkeiten. Spannenderweise lag auch die Leistung bei Vergleichen von zwei untrainierten Anzahlen (z. B. 8 vs. 6) signifikant über dem Rateniveau.

Die hier beschriebenen nonverbalen Fertigkeiten, numerische Anzahlen zu unterscheiden und zu ordnen, zeigt sich interessanterweise nicht nur bei Primaten, sondern auch bei einer Vielzahl anderer Tiere. So gibt es bereits wissenschaftliche Befunde darüber, dass diverse Vogelarten (z.B. Pepperberg 2006; Pepperberg / Carey 2012), Fische (z.B. Agrillo et al. 2009) und Amphibien (z.B. Krusche et al. 2010) über ein rudimentäres Mengenverständnis verfügen. Die meisten Studien wurden allerdings im Labor durchgeführt und die Tiere waren erst nach einer intensiven Trainingsphase in der Lage, die hier beschriebenen Leistungen zu erbringen. Evidenz dafür, dass numerische Information in der freien Wildbahn genutzt wird (z. B McComb et al. 1994) sind eher selten und es ist nicht endgültig geklärt, ob Tierarten auch spontan, ohne spezifisches Training, numerische Fertigkeiten hervorbringen. arabische Zahlenrepräsentation

Ebenfalls aus dem Labor stammen die beeindruckenden Befunde, dass nicht-menschliche Primaten in der Lage sind, symbolische Darstellung von Anzahlen in Form von arabischen Zahlen zu erlernen. Washburn und Rumbaugh (1991) boten z. B. zwei Rhesusäffchen arabische Zahlenpaare auf einem Touchscreen dar. Die jeweils berührte Zahl erhielten die Tiere als Futtereinheiten (z. B. 5 Futterkügelchen, wenn sie die Zahl 5 wählten). Die beiden Äffchen lernten schnell, die jeweils größere arabische Zahl zu wählen, d.h. sie hatten verstanden, dass diese Ziffer die größere Futtermenge symbolisierte. Weitere Studien um die Forschungsgruppe von Professor Tetsuro Matsuzawa in Tokio konnten eindrucksvoll belegen, dass Schimpansin AI in der Lage ist, arabische Zahlen zu lernen, diese mit der entsprechenden Mächtigkeit von Punktemengen zu verknüpfen (5 = 5 Punkte) und der Reihe nach aufsteigend anzuordnen (Biro / Matsuzaw 2001; Matsuzawa 1985; Tomonaga / Matsuzawa 1993). Auch hier erlernen Primaten diese symbolischen Repräsentationen von Mengen nie spontan, sondern immer nur im Rahmen von teils sehr aufwendigen Trainingseinheiten. Hier wird ein wesentlicher Unterschied zur Entwicklung der Zählfertigkeiten bei Kindern deutlich. Diese erwerben gewöhnlich bereits im Vorschulalter, eingebettet in Alltagsaktivitäten, anscheinend automatisch numerische Kompetenzen, die Tiere kaum entwickeln können.

Zusammenfassend belegen diese Studien eindrucksvoll, dass Sprache keine zentrale Voraussetzung für das Verständnis von Anzahlen und Mengen ist und Tiere in der Lage sind, einfache numerische Fertigkeiten zu erwerben. Wie präzise ist diese nonverbale mentale Repräsentation von Numerositäten bei Tieren? Die derzeitigen Befunde deuten darauf hin, dass Tiere Anzahlen nicht präzise (diskret), sondern vielmehr unpräzise als ungefähre (approximative) Mächtigkeit von Mengen repräsentieren (Brannon 2006; Cantlon et al. 2009) – dies wird häufig als Approximatives Zahlensystem bezeichnet. Platt und Johnson (1971) trainierten etwa Ratten, eine bestimmte Anzahl (4, 8, 16 oder 24) von Hebelbewegungen durchzuführen, um eine Belohnung zu erhalten. Es zeigte sich, dass die Ratten die Anzahl der Hebelbewegungen natürlich nicht präzise abzählen konnten. Vielmehr ergab sich eine Normalverteilung um die geforderte Anzahl.

Interessanterweise zeigen Menschen in vielen Fällen ähnliche Antwortmuster wie Tiere, was darauf hindeutet, dass die zugrundeliegende Basis numerischer Verarbeitungsprozesse von Menschen und Tieren Gemeinsamkeiten aufweisen (Cantlon 2012). So zeigten Erwachsene ein ähnliches Verhaltensmuster wie die Ratten im Experiment von Platt und Johnson (1971), wenn sie gebeten wurden, eine Taste so schnell wie möglich und ohne explizit mitzuzählen zwischen 7- und 25-mal zu betätigen (Whalen et al. 1999). Diese und andere Befunde weisen darauf hin, dass die mentale Repräsentation von Numerositäten bei Tieren und Menschen grundsätzlich ähnlich sein dürfte, auch wenn Menschen die ihnen angeborenen numerischen Kompetenzen kulturell weiter ausdifferenzieren können. Eine wesentliche Kompetenz, die Menschen im Unterschied zu Tieren hilft, die kognitive Repräsentation von Numerositäten zu präzisieren, ist die Fähigkeit abstrakte symbolische Repräsentationssysteme wie Sprache und das Arabische Zahlensystem zu erwerben. Wir können 745 Büroklammern präzise zählen und in Form von Zahlensymbolen darstellen – eine Kompetenz, die Tieren nicht zur Verfügung steht. Nichtsdestotrotz ermöglicht uns die Erforschung der mentalen Repräsentation von Numerositäten bei Tieren einen wichtigen Einblick in die evolutionsbiologischen Grundlagen der numerischen Kognition des Menschen. Der letzte Abschnitt sollte deutlich machen, dass Vorläufer der menschlichen Kognition auch bereits im Tierreich zu beobachten sind.

Zusammenfassung

Etliche Tierarten sind in der Lage, die Anzahl von Elementen unabhängig von kontinuierlichen Merkmalen wie Größe oder Oberfläche zu repräsentieren. Es gibt sogar erste Hinweise, dass diese Repräsentationen intermodal genutzt werden können. Diese abstrakten Repräsentationen von Numerositäten können genutzt werden, um Sets von Elementen nach ansteigender Anzahl zu ordnen (ordinale Repräsentationen). Obwohl Numerosität per definitionem ein Merkmal eines diskreten Sets von Elementen ist (ein Set kann aus 4 oder 5 Elementen bestehen, aber nicht aus 4–5), ist davon auszugehen, dass das Format der nonverbalen mentalen Repräsentation von Anzahlen kontinuierlich und approximativ ist.

2.2 Präverbales Verständnis von Numerositäten bei Babys

Kernsysteme: angeborene Grundkompetenzen

Neben Belegen für numerische Kompetenzen im Tierreich bilden Befunde an Babys in den ersten Lebensmonaten die zweite Evidenzgruppe zur Beantwortung der Frage, ob und welche Aspekte der numerischen Kognition uns angeboren sind. Die Annahme besteht nicht darin, dass uns Rechenleistungen schlechthin angeboren sind – diese erwerben wir üblicherweise tatsächlich erst und nur in einem geeigneten kulturellen (zumeist schulischen) Kontext. Aber viele Forscher nehmen heute an, dass gewisse Basiskompetenzen genetisch determiniert und von Geburt an in den Grundzügen angelegt sind (z. B. Butterworth 1999; Dehaene 1999). Auf diese Grundausstattung kann die weitere, stark umweltbedingte Entwicklung geeignet aufbauen. Die kognitiv orientierte Entwicklungspsychologie spricht hier von sogenannten Kernsystemen (core systems) (Spelke / Kinzler 2007). Das Kernsystem des Verständnisses für Numerositäten bildet gemäß dieser Sichtweise also die genetisch determinierte Grundlage für alle Leistungen im Bereich der Zahlenverarbeitung und Arithmetik, die sich im Lauf des Lebens entwickeln.


Habituations-Dishabituations-Paradigma

Methodisch ist es ausgesprochen schwierig, mit Sicherheit zu bestimmen, über welche Kompetenzen Säuglinge verfügen. Die Säuglingsforschung hat in den letzten Jahren empirische Paradigmen entwickelt, die gut gesicherte Aussagen erlauben. Im sogenannten Habituations-Dishabituations-Paradigma wird Babys wiederholt ein bestimmter Stimulus gezeigt. Mit zunehmender Anzahl der Präsentationen in dieser Habituations- oder Gewöhnungsphase sinkt üblicherweise die Blickdauer, offenbar verlieren die Kinder allmählich das Interesse an diesem mittlerweile vertrauten Stimulus. Nun wird der kritische neue Dishabituationsstimulus präsentiert, der sich zumeist vom bisher präsentierten Stimulus nur in einem kritischen Merkmal unterscheidet. Nur wenn die Kinder diesen Unterschied zwischen altem und neuem Stimulus wahrnehmen, verändert sich die Blickdauer – die Kinder betrachten Stimuli, die sie als neu identifiziert haben, länger und damit aufmerksamer –, offenbar ist ihr Interesse nun wieder geweckt. Diese Unterschiede in der Blickdauer helfen uns festzustellen, wie differenziert die Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung von Säuglingen ist.


Differenzierung von Stimulus-Sets

Eine ganze Reihe von Studien liefert Belege dafür, dass Babys und zum Teil sogar Neugeborene imstande sind, Stimulus-Sets auf Basis ihrer Anzahl zu differenzieren. Babys steigern ihre Blickdauer, wenn die Anzahl der präsentierten Elemente von 1 auf 2, von 2 auf 3 und meist auch noch wenn sie von 3 auf 4 steigt. Bei mehr als 4 Elementen (z. B. 4 vs. 5) reicht die Differenzierungsfähigkeit aber üblicherweise nicht mehr aus (Antell / Keating 1983; Starkey / Cooper 1980; Strauss / Curtis 1981; van Loosbroek / Smistman 1990). Die meisten Studien untersuchten diese präverbale (d. h. vor Einsetzen des Spracherwerbs vorhandene) Differenzierung von Anzahlen anhand visueller Stimuli. Einige Studien konnten aber auch belegen, dass Säuglinge auch die Anzahl von Ereignissen oder die Anzahl akustischer Stimuli registrieren und dass sie sogar intermodale Zuordnungen machen, die basale numerische Kompetenzen voraussetzen. So diskriminieren 6 Monate alte Babys offenbar zwischen 2 und 3 Sprüngen einer Puppe (Wynn 1996). Bereits 4 Tage alte Säuglinge habituieren auf eine 2- (oder 3-)silbige verbale Äußerung und dishabituieren, wenn sie eine 3- (oder 2-)silbige Äußerung hören (Bijeljac-Babic et al. 1993). Säuglinge betrachten ein Display von Haushaltsobjekten aufmerksamer, wenn die Anzahl mit der Anzahl von akustisch präsentierten Tönen korrespondiert, als wenn diese Korrespondenz nicht gegeben ist (Starkey et al. 1983).

Neben diesen klassischen behavioralen Studien konnte erste Evidenz dafür gefunden werden, dass schon sechs Monate alte Babys bei der präverbalen Verarbeitung von Anzahlen spezifische Gehirnstrukturen aktivieren. Ähnlich wie in den oben beschriebenen Habituations-Dishabituations-Studien präsentierten Hyde und Kollegen (2010) eine Abfolge von Displays mit einer gleichbleibenden Menge von Elementen. Nach dieser Habituationsphase wurden neue Stimuli präsentiert, die sich entweder in der Anzahl oder der visuellen Form der Elemente von den Stimuli der Habituationsphase unterschieden. Mit Hilfe der funktionellen Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS) konnten die Autoren zeigen, dass sich das neuronale Aktivitätsmuster des rechten Parietallappen während der Differenzierung von Anzahlen signifikant veränderte. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass relativ umschriebene Gehirnregionen bereits im Säuglingsalter eine erhöhte Sensitivität für die Wahrnehmung von numerischen Mengen aufweisen.

Befunde zeigen des Weiteren, dass die Wahrnehmung von Numerositäten bei Säuglingen nicht – wie lange angenommen – auf den kleinen Zahlenraum bis höchstens 4 Elemente beschränkt ist. Xu und Spelke (2000) konnten etwa zeigen, dass 6 Monate alte Babys die Veränderung der Numerosität visueller Stimuli auch bei größeren Sets bemerken, solange das Verhältnis der beiden Anzahlen 2 : 1 beträgt, aber nicht, wenn dieses Verhältnis unterschritten wird. So konnten die Kinder 8 von 16 und auch 16 von 32 Elementen unterscheiden, bemerkten aber keinen Unterschied zwischen 12 und 16 oder 24 und 32 Elementen.

Verständnis für Ordinalität

Aktuelle Befunde belegen weiterhin, dass Babys auch ein rudimentäres Verständnis für die Ordinalität von Anzahlen besitzen. Brannon (2002) konnte zeigen, dass 11 Monate alte Kinder, die auf eine Sequenz von Punktemustern mit ansteigender Numerosität habituiert wurden, dishabituierten, wenn ihnen eine Sequenz gezeigt wurde, bei der die Anzahl der Items abnahm.


diskrete Anzahlen oder kontinuierliche Merkmale?

Obwohl diese Befunde ausgesprochen eindrucksvoll sind, werden nach wie vor intensive wissenschaftliche Diskussionen geführt, auf Basis welcher Informationen Kinder diese Unterscheidungen eigentlich treffen. Eine größere Anzahl von Stimuli ist üblicherweise auch mit der Veränderung von kontinuierlichen Merkmalen wie Menge oder Größe assoziiert (3 Kekse sind mehr Keksmenge als 2 Kekse). Beobachten Kinder tatsächlich die diskrete Anzahl der präsentierten Elemente oder basiert die Differenzierung eher auf kontinuierlichen, nichtnumerischen Merkmalen wie mehr versus weniger Menge oder Oberfläche?

Insbesondere aktuelle Befunde von Clearfield und Mix (1999) stellen in Frage, ob Säuglinge tatsächlich eine diskrete numerische Quantifizierung vornehmen können. In dieser Untersuchung wurden 6 bis 8 Monate alte Babys auf visuelle Displays mit entweder 2 oder 3 Objekten habituiert. Anschließend wurden zwei Arten von Testdisplays präsentiert: (1) Displays mit derselben Anzahl von Objekten, aber unterschiedlicher Oberfläche und (2) Displays mit veränderter Anzahl (3 oder 2), aber identischer Oberfläche zum Habituationsdisplay. Wenn die Kinder tatsächlich die Anzahl der präsentierten Objekte registrieren, dann sollten sie nicht nur beim ersten, sondern auch beim zweiten Testdisplay eine Dishabituation zeigen. In dieser Studie führten allerdings nur jene Testdisplays zu einem signifikanten Anstieg der Blickdauer, die eine veränderte Oberfläche zum Habituationsdisplay aufwiesen, auch wenn die Anzahl der Stimuli identisch blieb. Die Veränderung der Anzahl bei gleichbleibender Oberfläche löste dagegen keine Dishabituation aus, die Babys schienen diesen Unterschied nicht zu registrieren.

Allerdings hatten auch frühere Studien zur Differenzierung von Numerositäten in den ersten Lebensmonaten derartige kontinuierliche Merkmale kontrolliert und waren zu anderen Befunden gekommen. Xu und Spelke (2000) variierten etwa in der Habituierungsphase die Größe der präsentierten Elemente systematisch, lediglich die Anzahl der Elemente blieb in allen Habituierungsdisplays konstant. Wenn Babys tatsächlich ausschließlich kontiniuerliche nichtnumerische Merkmale registrieren, aber nicht die Anzahl, dann wäre in dieser Studie bereits die Habituierungsphase nicht gelungen. Auch in anderen Studien wurden kontinuierliche Merkmale entweder kontrolliert oder – ähnlich wie in der Studie von Clearfield und Mix (1999) – experimentell mit der Anzahl von Elementen kontrastiert (Brannon / Gautier 2003; Leslie et al. 2003). Im Unterschied zu den negativen Befunden von Clearfield und Mix schienen Babys in diesen Studien sehr wohl in der Lage zu sein, die Veränderung der Anzahl von Elementen auch dann wahrzunehmen, wenn sie nicht mit der Veränderung kontinuierlicher Merkmale korrespondierte.

Obwohl die Evidenzlage dafür spricht, dass Babys diskrete Anzahlen getrennt von kontinuierlichen Merkmalen wahrnehmen, deuten einige Befunde darauf hin, dass zwischen den beiden Systemen zumindest eine enge Interaktion besteht (Leibovich et al. 2013, 2015).

Zusammenfassung

Während einige Forscher davon ausgehen, dass am Beginn des Entwicklungsverlaufs Quantifizierung einzig und allein auf kontinuierlichen Merkmalen (mehr oder weniger) basiert, sind andere fest davon überzeugt, dass wir bereits ab der Geburt in gewissem Ausmaß in der Lage sind, die diskrete Anzahl von Elementen, zusätzlich und zumindest teilweise unabhängig von deren physischer Erscheinungsform (Größe, Umfang usw.) zu registrieren. Zukünftige Forschung mit verbesserten experimentellen Paradigmen wird hier wohl erst die Klärung dieser Diskussion erbringen.

2.3 Theoretische Modelle der präverbalen Verarbeitung von Numerositäten

Zahlverarbeitung ohne Zahlwörter

Zahlverarbeitung ohne Zahlwörter ist für uns Erwachsene nur schwer vorstellbar. Wie können Säuglinge (und Tiere) die „Dreiheit“ eines Elementsets wahrnehmen und mental repräsentieren, obwohl sie das Wort „drei“ nicht kennen? Die im nachfolgenden dargestellten Modellvorstellungen von Object Files und einem Akkumulator-Modell sind genau aus dem Grund, dass es Erwachsenen schwerfällt, ohne Zahlwörter über Mengen nachzudenken, nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Sie stellen aber eine wichtige theoretische Grundlage für das Verständnis der Entwicklung der mathematischen Kognition dar. Eine zentrale Annahme besteht darin, dass auch Erwachsene Numerositäten im Grunde genau gleich repräsentieren wie Säuglinge und Tiere. Denn ohne Zweifel sind Zahlwörter für die Repräsentation von Numerositäten zwar sehr hilfreich, aber sie sind keineswegs eine notwendige Voraussetzung.

2.3.1 Object Files

mentale Repräsentationen

Das Konzept von Object Files geht auf Kahneman und Mitarbeiter (1992) zurück, die sich mit der Verfolgung von Objekten im visuellen Umfeld beschäftigten. Object Files kann man sich als mentale Platzhalter vorstellen, die zumindest minimale Informationen über die beobachteten Objekte enthalten, nämlich Form und Position. Diese einfachen mentalen Repräsentationen spielen eine wesentliche Rolle für die Objektpermanenz (Piaget 1974), also dem Verständnis, dass Objekte permanent existieren, auch wenn wir sie gerade nicht sehen. Diese mentalen Repräsentationen benutzen auch Säuglinge, die – im Gegensatz zur Piaget’schen Konzeption – bereits wissen, dass Objekte auch dann existent sind, wenn wir sie gerade nicht sehen können (Baillargeon et al. 1985).


Studien an Erwachsenen zeigen, dass es für diese Object Files eine numerische Beschränkung gibt: Üblicherweise können lediglich 4 bis maximal 5 Objekte gleichzeitig visuell verfolgt werden (Pylyshyn 1989; Scholl / Pylyshyn 1999; Trick / Pylyshyn 1994). Bei Säuglingen scheint diese Begrenzung sogar noch etwas niedriger, nämlich bei 3 bis 4 Objekten, zu liegen (Leslie et al. 1998).

Einige Forscher nehmen an, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene derartige Object Files verwenden, um zwischen Anzahlen von Objekten im kleinen Zahlenraum (bis etwa 4) zu differenzieren (Leslie et al. 1998; Trick / Pylyshyn 1994). Anhand dieser Object Files gelingt die Unterscheidung von 2 und 3 Objekten, aber nicht mehr die von 4 und 6 Objekten, weil diese Unterscheidung die Kapazität der Object Files überschreitet. Diese Sichtweise bietet also eine plausible Erklärung für die oben dargestellten Befunde der Säuglingsforschung, dass kleine Anzahlen bis etwa 4 gut differenziert werden können.


Einschränkend ist hier allerdings zu bemerken, dass Object Files per definitionem für die visuelle Verarbeitung geeignet sind, aber nicht für die akustische. Diese Konzeption bietet also keine sehr gute Erklärung für die Tatsache, dass Säuglinge auch die Anzahl von Tönen im kleinen Zahlenraum differenzieren und dass sie intermodale Eins-zu-eins-Zuordnungen zwischen visuellen und akustischen Ereignissen herstellen können. Auch reichen Object Files nicht aus, um die neueren Befunde zu erklären, dass Säuglinge (und Tiere) in der Lage sind, auch größere Mengen nach ihrer Numerosität zu differenzieren, sofern das Verhältnis zwischen den beiden Mengen 2 : 1 nicht unterschreitet. Hier werden Vorstellungen vom sogenannten Akkumulator-Modell relevant.

2.3.2 Vom Akkumulator-Modell zum Approximativen Zahlensystem

numerische und Zeitverarbeitung

Dieses von Gallistel und Gelman (1992) propagierte Modell basiert auf einer Konzeption von Meck und Church (1983), die Befunde zur Korrespondenz der numerischen und der Zeitverarbeitung bei Ratten erklären sollte. Der Mechanismus ist in Abbildung 2.1 schematisch dargestellt und funktioniert wie folgt: Ein Schrittmacher sendet in konstanten Abständen Energieimpulse aus, die von einem Zählmechanismus, dem sogenannten Akkumulator, empfangen werden. Zwischen dem Schrittmacher und dem Akkumulator befindet sich ein Schalter, mit dem zwischen einem Zeitverarbeitungsmodus und einem Modus für die Verarbeitung von Mengen umgeschaltet werden kann. Im Zeitverarbeitungsmodus wird der Schalter am Beginn des zu messenden Zeitintervalls so gestellt, dass die Energie in den Akkumulator fließt, und bleibt so bis zum Ende des Intervalls. Die Energie, die kontinuierlich in den Akkumulator überwechselt, entspricht also direkt proportional dem Ausmaß der verstrichenen Zeit. Die Energiemenge im Akkumulator kann anschließend im Arbeitsgedächtnis mit früheren Energiemengen verglichen werden, die im Referenzgedächtnis gespeichert sind. Das heißt, es kann entschieden werden, ob das soeben gemessene Zeitintervall länger, kürzer oder gleich lang war wie frühere Zeitintervalle.


Abb. 2.1: Schematische Abbildung des Akkumulator-Modells (adaptiert nach Meck / Church 1983)

Im Zählmodus schließt der Schalter für ein kurzes, fixes Intervall, wenn ein zu zählendes Element wahrgenommen wird, und öffnet sich anschließend wieder. Der Akkumulator füllt sich also jetzt mit identisch großen Energiezuwächsen, korrespondierend zur Anzahl der beobachteten Elemente. Die Füllung des Akkumulators entspricht nun also direkt der diskreten Anzahl der Elemente. Somit kann anhand eines kontinuierlichen Energieflusses diskret gezählt werden. Dieser mentale Mechanismus enthält eine ganze Reihe von Akkumulatoren und Schaltern, so dass im Prinzip mehrere Zähl- und Zeitmessungsvorgänge parallel erfolgen können.


Zahlverarbeitung und Zeitwahrnehmung – ein und derselbe kognitive Mechanismus?

Die Annahme, dass Zeitverarbeitung und Verarbeitung von Numerositäten auf demselben kognitiven Mechanismus basieren, geht auf Befunde von Meck und Church (1983) zurück und wurde seither vielfach in unterschiedlichen experimentellen Paradigmen bestätigt (Überblick bei Brannon 2005). Meck und Church (1983) trainierten Ratten, zwei Abläufe zu unterscheiden und jeweils mit einer spezifischen Antwort zu reagieren. Ein Ablauf dauerte 2 Sekunden und bestand aus 2 akustischen Signalen, der andere dauerte 8 Sekunden und bestand aus 8 akustischen Signalen. Anschließend an dieses Training wurden unterschiedliche Testabläufe präsentiert: Entweder die Dauer des Testablaufs wurde konstant bei 4 Sekunden gehalten, aber die Anzahl der akustischen Signale wurde variiert, oder aber die Anzahl der Signale wurde konstant bei 4 gehalten, und die Dauer wurde systematisch variiert.

Interessanterweise modulierten beide Arten von Testabläufen das Verhalten der Tiere gleichermaßen. Das bedeutet, dass die Tiere offenbar Anzahl und Zeitdauer im selben Modus enkodiert hatten, ansonsten könnte es nicht zu dieser Konfundierung kommen. Die Wahrscheinlichkeit für eine „lange Zeitdauer“- oder „mehr Stimuli“-Antwort nahm bei steigender Stimulusdauer und steigender Stimulusanzahl sogar genau identisch zu, die psychophysischen Funktionen waren kaum zu unterscheiden. Verabreicht man Ratten Metamphetamin, ein Aufputschmittel, so erhöht sich im beschriebenen Paradigma die Wahrscheinlichkeit, dass die Tiere einen Testablauf als „lange“ (Zeit) oder „viel“ (Numerosität) beurteilen, in exakt gleichem Ausmaß. Die theoretische Erklärung besteht darin, dass das Metamphetamin zu einer Erhöhung der Rate der vom Schrittmacher an den Akkumulator gesendeten Impulse führt.

Ausgehend von derartigen Befunden schlug Vincent Walsh (2003) „A Theory of Magnitude (ATOM)“ vor, also ein gemeinsames neurokognitives System für die Verarbeitung von Anzahlen, Zeit und Raum (s. Abschnitt 1.6). Neurophysiologisch siedelt Walsh dieses System im inferioren parietalen Kortex an. Dieses Modell ist entwicklungspsychologisch von hohem Interesse, weil Walsh davon ausgeht, dass Neugeborene mit einem relativ undifferenzierten Kernsystem ausgestattet sind, das für die Verarbeitung aller drei Domänen zuständig ist. Erst in der Interaktion mit der Umwelt lernt das Kind, das ursprünglich gleichermaßen auf Veränderungen der Größe, Geschwindigkeit, Distanz und Dauer externer Ereignisse reagiert, allmählich zwischen den Dimensionen zu differenzieren. Diese anfangs undifferenzierten Reaktionen sind häufig sinnvoll, weil in der realen Welt Raum, Zeit, Geschwindigkeit, Größe und Anzahl ohnehin meist nicht vollständig voneinander zu trennen sind.

Zwei numerische Wahrnehmungsmechanismen?

Das Akkumulator-Modell kann gut erklären, warum Babys im größeren Zahlenraum nur Elementsets mit einem deutlichen Unterschied (8 vs. 16, aber nicht 8 vs. 12) differenzieren können. Der Schrittmacher sendet die Energieimpulse nicht mit der Präzision einer Atomuhr. Vielmehr gibt es hier leichte Abweichungen. Die Zählung von größeren Anzahlen wird somit unpräzise. Weniger gut erklären kann dieses Modell, warum Babys sehr wohl in der Lage sind, 3 von 4 Elementen zu unterscheiden. Auch hier sollte sich die beschränkte Präzision des Zählmechanismus bereits auswirken, nichtsdestotrotz treffen Säuglinge und auch Tiere diese Differenzierung mit überzufälliger Genauigkeit. Einige Forscher (Carey 2001; Feigenson et al. 2004; Xu 2003; Xu et al. 2005) gehen daher davon aus, dass Menschen und Tiere tatsächlich zwei neurofunktional separierbare Mechanismen zur Wahrnehmung von Numerositäten zur Verfügung haben: eines für die präzise Wahrnehmung von Anzahlen im kleinen Zahlenraum bis etwa 4 und ein zweites für die approximative Verarbeitung von größeren Mengen.

Aufbauend auf dem Akkumulator-Modell hat sich die Vorstellung eines approximativen Zahlensystems (im Englischen: approximate number system, ANS) in der numerischen Kognitionsforschung durchgesetzt. Die Annahme einer unscharfen Mengenrepräsentation basiert auf den bereits diskutierten Befunden, dass sowohl unterschiedliche Tierarten als auch Kleinkinder in der Lage sind, numerische Anzahlen zu unterscheiden. Diese Leistung ist aber unpräzise und folgt einer eng umschriebenen Gesetzmäßigkeit – dem vom Physiologen Ernst Heinrich Weber (1834) postulierten GesetzWebersches Gesetz der differentiellen Wahrnehmungsschwelle der differentiellen Wahrnehmungsschwelle. Damit ein Organismus die Veränderung einer Ausgangsintensität(/-menge) wahrnehmen kann (differentielle Wahrnehmungsschwelle), bedarf es einer Intensitätsveränderung, die in einem konstanten Verhältnis zur Ausgansintensität(-menge) steht. Zum Beispiel: Wenn es einer Intensitätsveränderung von 2kg bedarf um eine Veränderung der Ausgangsmenge von 10kg wahrzunehmen, bedarf es einer Intensitätsveränderung von 4kg (die doppelte Menge) um eine Veränderung der Ausgangsmenge von 20kg wahrzunehmen. Die Diskriminierungsfähigkeit von numerischen Mengen verhält sich ähnlich. Bereits im Alter von 6 Monaten können Unterschiede in der Anzahl bei einem konstanten Verhältnis von 2:1 wahrgenommen werden (8 von 16 und 16 von 32 Elementen können in den unter Absatz 2.2 beschriebenen Habituationsparadigmen differenziert werden), im Alter von 9 Monaten ist bereits eine Differenzierung von Unterschieden im Verhältnis 1:3 (also z.B. 8 vs. 12 Punkte) möglich (z.B. Xu / Spelke 2000). Auch Erwachsene benötigen mehr Zeit, die numerisch größere von zwei Zahlen auszuwählen, wenn das Verhältnis zwischen den beiden Anzahlen relativ klein ist (z.B. 8 vs. 9 – Verhältnis 0.89), als wenn das Verhältnis zwischen den Anzahlen groß ist (z.B. 4 vs. 8 = Verhältnis 0.5). Der so genannte Weberbruch ist also eine alternative Beschreibung des in Absatz 1.5 erläuterten Distanzeffekts. Zusammengefasst deuten diese Befunde darauf hin, dass Anzahlen unscharf repräsentiert sind. Aus diesem Grund werden Anzahlen im approximativen Zahlensystem als sich überschneidende Wahrscheinlichkeitsverteilungen beschrieben (s. Abb. 2.2).

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