Читать книгу: «Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons», страница 5

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Manchmal kommt sie einmal im Monat, manchmal zweimal, und siehe da, dann vergeht ein ganzes halbes Jahr ohne Rauch und ohne Gift. Am häufigsten dürfte sie im Sommer oder im Frühherbst auftauchen, im Winter kommt sie hingegen eher selten und im Frühjahr so gut wie gar nicht, dann geraten die Ratten endgültig außer Rand und Band.

Im Sommer setze ich mich gerne mit meinen Schreibarbeiten ans offene Fenster, denn dann kann ich den Birnbaum und den Ahorn anschauen und Golosačius das nötige Kleingeld für Bier hinausreichen. Man sieht dem Birnbaum nicht anhand der Blüten an, wie groß die Ernte an steinharten Früchten ausfallen wird: Der Baum altert, und die Atmosphäre verdichtet sich. Im Übrigen machen die Anwohner ohnehin keinen Birnenlikör mehr, weil der Zucker nicht mehr erschwinglich ist, aber wenn die Birnen gegen Herbst allmählich reifen, schlagen sie Dellen in die Autos von Fremden und von meinen Kumpels, und dann muss man sie wohl oder übel wegfegen und mit dem Besen aus der Regenrinne und aus den Löchern hervorkratzen und zum Zaun neben der Praskovja schieben, sie ist noch eine Dame. Ansonsten gibt es hier Dahlien, Lilien und Maiglöckchen, und die Blumen, die Bräuche und die Lieder, überhaupt alles, ist ländlich, unkultiviert, handfest, ungeimpft und unbeobachtet. Und schau, am Ende des Hofs grinst einem eine glänzende Ratte aus dem Gully entgegen.

Im Sommer kommt sie also besonders oft. Die Rattenfängerin Taša, Nataša. Sie kommt immer vormittags, ungefähr zwischen elf und zwölf, zwischen der »aktuellen Stunde« und den »Tagessignalen« im Fernsehen, zwischen den Morgenzeitungen und dem Drei-Uhr-Kaffee. Ich erhebe meine Augen von Aufsätzen wie »Caravaggios Einfluss« oder »Der abstrakte Expressionismus«, und siehe da, da kommt die Rattenfängerin und sagt: »Hallo, schönen guten Tag!« Über einer Schulter trägt sie eine Mappe aus nicht ganz echtem Leder, über der anderen die Tasche mit dem Gift. Sie ist schwer, schließlich muss es für ganz Žvėrynas reichen und auch noch etwas für Užupis übrig bleiben. Aber Užupis hat ohnehin schon seinen Rattenfänger, wie Hameln, Tokio und Sizilien. Diese Giftmischerin und Kammerjägerin stellt sich auf die Treppe vor dem offenen Fenster, legt ihre schwere Brust auf die Fensterbank, lächelt bis zu den Muttermalen auf ihren beiden Wangen und fragt liebenswürdig: »Gibt es hier Ratten? Gibt es hier Mäuse?«

Früher entgegnete ich meist energisch »keine Spur!« und trug, ohne aufzublicken, auf einem gelblichen, karierten Vordruck ein Kreuz bei »Nein« ein. Die Frau störte mich dabei, mich auf einen Satz bei »Das Bauhaus« oder »Die Technik des Fütterns« zu konzentrieren, aber die mir angeborene Schüchternheit und meine nicht abgeschlossene akademische Ausbildung gestatteten mir nicht, sie anzuschnauzen: »Scher dich zum Teufel, blöde Kuh!«

Natürlich fehlte es in der Gegend weder an Mäusen noch an Ratten. In den Zimmern gab es zwar fast keine, nicht einmal Kakerlaken, irgendetwas gefiel ihnen hier nicht, aber wie gesagt, dafür schlichen bei dem Plumpsklo jedes Mal die Ratten mit ihren langen grauen Körpern vorbei, wenn ich mich dem Ruf der Natur folgend von einem Aufsatz über »Die Kunst der Babylonier« oder über einen unbekannten Maler von »Schwarzfigürlichen Vasen aus dem ersten Jahrhundert vor Christus« losreißen musste, um in das Klohaus zu eilen, wo sich sonst die Pianistin Dita und Pirštinė entleeren. Pirštinė ist Schneiderin, Knöpfe nennt sie »Guzikas«, und selbst wenn sie es besonders eilig hat, meidet sie nach Möglichkeit diesen stets dreckigen Ort, an den dieselbe Natur den Wächter Jokūbas, seine Frau und seine engeren und entfernteren Verwandten sowie Männer und Frauen von der Straße ruft. Mit verzerrten Gesichtern eilen sie alle in dieses stinkende Häuschen, kauern sich auf dem Sitz zusammen und kommen dann würdig und erhobenen Hauptes wieder zum Vorschein, die Röcke beziehungsweise Hosen zurechtgezupft und mit frisch gewonnener Selbstbeherrschung. Das sind die Stilistik und die Mentalität in diesem Hof.

Im letzten Frühjahr, als gerade die ersten Kohlköpfe und die Kirschbäume neben dem Brunnen ausgeschlagen hatten, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf: Die Rattenfängerin betrat den Hof. Normalerweise ließ sie sich hier nie im Frühjahr blicken, warum also ausgerechnet jetzt? Zuerst überreichte sie allen Nachbarn schwere Giftpakete und machte sich die Mühe, jedem zu erklären, wie man sie anzuwenden habe, und erst dann pirschte sie sich wie eine Füchsin an mein Fenster heran und erkundigte sich hinterhältig: »Gibt es hier Ratten? Gibt es hier Mäuse?«

»Ich sehe bloß eine Katze«, lachte ich. »Nun geh schon, Taša.«

Taša war der Arbeitsname der Rattenfängerin, aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass man sie während der Arbeitszeit Nataša oder Natalija nannte. Taša sprach Litauisch mit einem kaum vernehmbaren Akzent; während ihres Studiums an der Veterinärakademie hatte sie sogar in einem Zimmer mit einer litauischen Lyrikerin und Martyrologin gelebt, die furchtbar wie der Tod war, wenigstens hatte sie mir das erzählt. »Sie war damals noch eine schöne Frau, aber sie war eine Sadistin und unendlich grausam. Sie wollte mit mir schlafen, verstehst, du? Aber sie schlug niemanden, verstehst du?«

»Du kannst durch das Fenster steigen, Taša«, sagte ich ihr in jenem Frühling, in dem es so viele Kohlweißlinge gab, aber die Rattenfängerin schritt mit ihrem gesamten Gift zur Tür herein, lehnte die angebotene Tasse Melissentee ab, rauchte eine Zigarette, erkundigte sich nach der Talkshow zu dem Thema »Was spricht gegen die Todesstrafe?« und fragte, woran ich gerade so schrieb; zu dem Zeitpunkt saß ich gerade an einer Einführung in die angewandte Glistik.

Sie betrachtete noch einmal die Bilder an den Wänden, ihre kakaofarbenen Augen blinzelten, sie seufzte und fragte dann ganz direkt: »Hör mal, hast du ein Präservativ da?«

Dummerweise hatte ich keines vorrätig, aber schon allein eine solche Frage hätte mich mit Freude veranlasst, zum nächsten Kiosk zu laufen und gleich mehrere zu kaufen. Aber sie winkte ab, lächelte wehmütig und kramte aus ihrer Kunstledertasche ein glänzendes Päckchen mit einem noch vergleichsweise harmlosen Bildchen hervor. Es rief in mir recht widerstrebende Gefühle und Gedanken hervor, dass sich meine unerwartete Besucherin so gründlich auf den intimen Umgang mit mir vorbereitet hatte, aber erst »danach«, als ich das Fenster wieder öffnete und sie ihre Strumpfbänder hochzog (sie mochte keine Strumpfhosen), brachte ich den Mut auf, mich danach zu erkundigen, ob sie auf diese Weise dem Wunsch nach Leben in jedem Anwesen von Žvėrynas entgegenkomme, wo eventuell Nager auftauchten.

Sie machte ein beleidigtes Gesicht, als wolle sie sagen: »Du bist genau wie all die anderen«, aber dann lachte sie plötzlich und entgegnete fröhlich: »Nein, nicht in jedem!« Und sie klagte nach Frauenart, was sie denn machen solle, nie hätten die Männer Kondome im Haus, selbst die schlimmsten Lustmolche nicht. Und sie lamentierte weiter, sie sei noch jung und gesund, sie mache garantiert Safer Sex, und außerdem sei ich ihr schon vor langer Zeit aufgefallen, immerhin sei ich sogar ein Schriftsteller! »Übrigens, mein Mann ist Litauer!« Darauf legte Taša Wert. »Er hat sich eine Eisenwarenhändlerin gesucht, eine Kuh aus demselben Hof. Er geht mit ihr überallhin, wohin es ihm gerade einfällt. Aber ich gehe nicht mit jedem!« Sie war eine stolze, sympathische Frau. Eine echte Russin und eine Rattenfängerin. »Ich könnte auch in einem Labor arbeiten, aber ich finde es spannender mit Menschen!« Natürlich hatte sie Recht. Aber ich war mir trotzdem nicht ganz sicher. Sie wandte sich wieder mir zu: »Und immer ist er beschäftigt!«

Ich dachte: Will er denn wirklich nie? Und sagte mit gesenktem Blick: »Ich bin fürchterlich schüchtern, Taša …« Ich hatte beschlossen, es kein zweites Mal mit ihr zu machen. »Wann kommst du wieder?«

»Was, du schmeißt mich schon raus?« Sie erbleichte regelrecht vor Wut. »Mein Litauer ist auch so: Kaum ist es ihm gekommen, schnarcht er auch schon. Schläft oder liest. Liest oder sieht fern. Hockt sich vor die Glotze und knallt sich Bier rein. Und weißt du, was dieser Idiot dann auch noch zu mir sagt, hä? ›Weck mich morgen um sieben, vielleicht stecke ich ihn dir dann noch mal rein!‹« Sie saß mit ihren gespreizten kurzen Beinen da, auf einem Schenkel prangte noch ein nicht allzu alter gelber Prügelfleck, und als sie meinen Blick bemerkte, bestätigte sie gleichgültig: »Das ist sein Werk. Gib mir etwas von dir zu lesen.«

»Das hat doch keinen Sinn, Taša«, winkte ich ab. »Ich habe nichts Interessantes da.« Und ich brach sogar mein soeben abgelegtes Gelübde: »Machen wir es lieber noch einmal …«

Da begann die Rattenfängerin so zu toben, dass sich die im Allgemeinen auch als »Tapete« bezeichnete Wandverkleidung zusammenrollte: »Männer wollen doch alle nur das eine, immer nur ihr Ding reinstecken! Unterhalte dich doch mal mit mir oder erkundige dich wenigstens, wie es mir geht!«

Ich wusste nicht, was sie jetzt vorhatte: Würde sie aufschluchzen, mich in Stücke reißen oder mich auf irgendeine seltsame Weise vergiften? Das war für diese Rattenfängerin wahrscheinlich gar kein Problem, sie würde später einfach behaupten, dass ich selbst schuld gewesen sei, ich hätte das Gift eben nicht richtig angewendet.

»Lies mir etwas vor. Diese Marodeurin«, nun sprach sie wieder von ihrer Studienfreundin, »hat mir manchmal auch etwas vorgelesen. Aber in mein Bett habe ich diese Person nicht gelassen!«

Ich hatte gerade mein Werk bei Professor Kalibatas aus Užupis abgeholt und wollte es unbedingt auf eigene Kosten oder mit Fördermitteln herausgeben, und so bereitete ich es eifrig für den Druck vor. Kalibatas hatte eine ungewöhnlich wohlwollende Zusammenfassung für die Akademie der Wissenschaften geschrieben und selbst hundert US-Dollar gespendet, aber das war zu wenig. »Weißt du was?«, sagte ich zu Taša. »Ich lese dir diesen Aufsatz vor! Vielleicht interessiert er dich ja: Er handelt von Mäusen, ein ganzes Manuskript voll mit Anmerkungen! Ich habe damit angefangen, als ich noch in der Baltasis skersgatvis gewohnt habe, und jetzt überarbeite ich es. Es heißt ›Glis Glis oder Die Große Schlafmaus‹. Natürlich spielen diese Tiere in meinem Aufsatz eine viel größere Rolle als deine Ratten, aber vielleicht kannst du darüber hinwegsehen.«

Taša zuckte mit den Achseln. »Ist mir wurscht.« Sie hatte auf Lyrik gehofft, aber nun machte sie es sich auf dem Sofa bequem und streckte die Beine aus. Als ich auf der Mitte der vierten Seite angelangt war, schnarchte sie schon wie ein Erdhörnchen oder vielleicht auch wie eine echte Schlafmaus. Aber ich bemerkte nichts oder tat zumindest so und las begeistert und artikuliert, setzte logische Akzente und machte Pausen. Ach, wie viele Dinge wir nur für uns selbst machen …

»He, Taša!« Taša schnurrte wie eine Nähmaschine, doch ich hatte viel Zeit …

Glis Glis oder Die Große Schlafmaus

Kaum ein Litauer hat eine »Glis Glis«, unsere Große Schlafmaus, aus der Nähe gesehen. Eher wird sich so manch einer damit brüsten, eine Chimäre gesehen zu haben, in einer Parallelwelt gewesen zu sein oder mit Poltergeistern verkehrt zu haben, als eine Glis Glis gesehen zu haben. Und darauf angesprochen, wird er wahrscheinlich abwinken: »Was ist das denn? Brauche ich so etwas? Wem nützt das etwas? So etwas Überflüssiges!« Eine solche Einstellung gegenüber seltenen Pflanzen und Tieren ist bei uns heute so weit verbreitet, dass die meisten schon bald garantiert nicht mehr wissen, was diese Glis Glis ist oder wie sie aussieht.

Meine bitteren Bemerkungen über dieses auf die litauische Rote Liste gesetzte Geschöpf werden nicht allzu wissenschaftlich ausfallen, aber dafür stelle ich sie in einen Kontext mit dem politischen, ökologischen und geistigen Zustand des Volkes und seines Erfahrungshintergrundes: Sie werden schon sehen, wie harmonisch sich das alles verbindet. Es ist also eher eine Abhandlung von jemandem, der das Leben beobachtet, als ein trockener wissenschaftlicher Aufsatz. Ich weiß, manch einer wird sagen: »So kann man auch über eine Streichholzschachtel schreiben.« Und damit hat er wahrscheinlich vollkommen Recht.

Ich habe eine Glis Glis gesehen, schlafend, wach, auf Nahrungssuche und bei der Fortpflanzung, krank, fröhlich und wütend, und darum wage ich, Folgendes zu sagen: Die Große Schlafmaus (Glis Glis) erreicht eine Körperlänge von fünfzehn bis zwanzig Zentimetern und ein Gewicht zwischen hundert und hundertachtzig Gramm.

Wichtige Anmerkung des Autors: Die ausgewachsene Schlafmaus wiegt tatsächlich so viel, aber meine Maus ist zwischen achtundvierzigeinhalb und fünfzig Kilogramm schwer, ist Literatin und nimmt an Poesiewettbewerben, Stehempfängen und Präsentationen teil.

Die manische Glis Glis erkrankt noch nicht an der für Schlafmäuse typischen Paranoia, kennzeichnend für sie sind vielmehr ihre chronischen Wut- und schizophrenen Anfälle. Die Symptome sind offensichtlich, die Prognosen günstig. Zum Glück machen die Schlafmäuse ihrem Namen alle Ehre: Sie können schlafen. Der Schlaf von Säugetieren unterscheidet sich seinem Wesen nach durch nichts von dem des Menschen: Seine größte Funktionsstörung heißt »Schlaflosigkeit« (russisch: »bessonnica«, »dežurka«, polnisch: »bezsennos´c´«); zu erwähnen sind weiterhin der physiologische Schlaf und die pathologische Lethargie.

Anmerkung: Manchmal schläft meine Schlafmaus vierundsechzig Stunden lang, wenn sie Tranquilizer geschluckt hat, und, um ehrlich zu sein, währenddessen geht es auf der Welt etwas ruhiger zu.

Wenn die Schlaflosigkeit wieder kommt, helfen nur die täglichen Spanischübungen:

Buenas tardes = Guten Abend

O. P. = Obras Publicas = Staatlich unterstützte Vorhaben

Su atento y seguro servidor de su Alteza Real = Ihr ergebener Diener Ihrer königlichen Majestät

Sobre toda España el cielo despejado = Wolkenloser Himmel über ganz Spanien!

An genau dieser Stelle schnarchte Taša in ihrem Schlaf auf, als habe sie unbewusst den Übungen gelauscht. Sie lag ruhig mit einem Paket Rattengift unter dem Kopf, hatte sich ein bisschen auf die Seite gedreht, und ihr kurzer Rock war so weit hochgerutscht, dass man die himmelblauen Höschen sah, die sie in der Eile des Gefechts vergessen hatte, wieder richtig hochzuziehen. Ich verstummte kurz. Taša entspannte sich vollständig, gab einen lauten Furz von sich, murmelte etwas und fing wieder an zu schnarchen.

Die Strahlen der Frühlingssonne blinzelten neugierig herein und erleuchteten das kleine Schwalbennest zwischen ihren Beinen. Eine Katze sprang herein und schnupperte daran, aber als sie keine Eier fand, fauchte sie und huschte wieder davon. Ich zupfte Tašas Kleidung zurecht und fuhr fort, für mich allein den Aufsatz vorzulesen:

Der Schlaf ist für die Schlafmäuse eine besonders heilige Angelegenheit in diesem irdischen Jammertal, und er ist das beste Heilmittel gegen Neurasthenie und andere Nervenkrankheiten.

Arteriae carotides: die Schlafarterien; ohne sie geht auch nichts. Medizinern und Kriminellen sind sie wohl bekannt.

Eine verletzte Schlafarterie: Wenn man die Schlafarterie getroffen (durchbissen, durchschnitten etc.) hat.

Eine Querflöte: Schlafmäuse spielen nicht auf Querflöten. Flöten werden überhaupt nicht gespielt, sie werden geblasen.

Kehren wir zu den Arterien zurück: Schlafarterien sind für die Glis-Glis-Population sehr wichtig, da sie die Dauer des Schlafes regulieren. Manch eine Schlafmaus würde eingehen, würde sie mitten im Winter aufwachen. Nicht selten geschieht dies auch.

Die Querflöte ist eine zylindrische Röhre mit einem schnabelförmigen Mundstück.

Holozän: die letzte Periode des Quartär. Sie begann vor ungefähr zehntausend Jahren. Es ist nämlich eine Tatsache, dass im Holozän der Mensch aufgetaucht ist (siehe Max Frisch: »Der Mensch erscheint im Holozän«). Frisch bringt einen Mann in eine unangenehme Situation: Durch den Willen des Schriftstellers wird er um das Jahr 1958 herum in den Schweizer Alpen durch einen Schneesturm von der Zivilisation abgeschnitten. Da dieser Mann jede Menge nutzloser freier Zeit hat, klebt er verschiedene Ausschnitte mit Zitaten und seinen eigenen Aufzeichnungen an die Wände des Häuschens. Da wird ihm klar, dass der Mensch im Holozän aufgetaucht ist. Dann schläft er ein und wacht nie wieder auf, oder vielleicht doch, ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Eine nette Lektüre für Schlafmäuse, Kretins, Trogloditen, Urmenschen und Glistiker!

Abbreviaturen: Sie haben eine mystischen Zauber, denn du weißt nie, wie etwas zu Ende geht. Genauso wenig, wie du weißt, mit wem deine Glis Glis jetzt gerade wieder schläft. Abbreviaturen, geformt vom Verstand eines heranreifenden Menschen, sind notwendig wie Vitamine, besonders die selteneren. Die Abkürzung für die Schlafmaus ist natürlich GG, Glis Glis.

A. A. – Auswärtiges Amt, Anonyme Alkoholiker

B. B. – Brigitte Bardot, Bernardas Brazd žionis und Bertolt Brecht

C. C. – Corps consulaire. Außerdem: Claudia Cardinale

CD = DC – Corpo Diplomatico, Diplomatic Corps. Washington DC = District of Columbia. Dacė ist auch DC.

Fr. – Frau. Freitag. Frist. Wie viel wir verpassen, weil es uns langweilig wird. Aber überspringen wir das nächste Stück, sonst wird es langweilig.

NST – Nelly Staphonkus (das ist irgendeine Frau). Aber Nst bedeutet auch »Nebenstelle«; n. St.: neuen Stils (gemäß dem gregorianischen Kalender; im Holozän gab es den aber noch nicht, und NST hat auch noch nicht existiert).

PLO – Palestine Liberation Organization

P.O.B. – Post Office Box. Manchmal schlafen die Schlafmäuse in Briefkästen, aber das kommt eher selten vor.

SS – Schutzstaffel, auch: Sommersemester

SSSR, russisch für UdSSR – Union der sozialistigen Sowjetrepliken

S.R.K.T. – Damit ist ein estnisches Sprichwort gemeint: »Situ ruttu, karu tuleb«. Heißt: »Scheiß schneller, da kommt ein Bär!« Für die Esten ist das aktuell, für uns nicht. Trotzdem lohnt es, sich diesen Satz zu merken.

Das Glis-Glis-Weibchen ist eine neugierige, aufdringliche Heuchlerin. Marie Antoinette war zum Beispiel eine typische Glis Glis, rachsüchtig und durch und durch verlogen. Auch Katharina II, Bonna Sforza und Nabė haben folgende typische Züge einer Glis Glis: ein weibliches Nagetier, eine unverbesserliche Träumerin und egozentrisch. Es ist noch unklar, ob sie insgesamt typisch ist. Ein Typus, aber nicht typisch?

Ich wiege sie: oho! Diesmal fast einundfünfzig Kilogramm. Glänzendes Haar. Breites Gesäß. Gut gepflegte G. P. »Gėdos plaukai« = Schamhaare. G. P. bedeutet auch general practitioner, praktischer Arzt. Die meisten Glis Glis sind jedoch eher general purpose.

Die Glis Glis ist eingeschlafen, so ein Glück. Später schreibe ich: »Taša auch.« Ein Pflock in der Scheide. Ich ernenne sie zur Glis Glis. Ein Aufsatz und ein Sonettkränzchen. Dorno, dorno, cara mia! Schlafe, meine Liebe!

Aber zurück nach Litauen: Im Jahre 1707 wurde Johann Heinrich Kunzmann geboren. Lexikograf, Liederdichter und Priester. Verfasste ein kleines Wörterbuch der litauischen Sprache, das unveröffentlicht blieb. Starb am 27. Oktober 1755 in Stalupėnai.

Etwas später, am 13. Januar 1947, wurde Jurgis Kunčinas in Alytus geboren. Feinfühliger Beobachter des Lebens, ewig verschnupfter Knabe. Außerdem tätig als Korrepetitor, Synoptiker und Hilfspfleger in der Psychoneurologie. In der Kindheit musste er einige Mandel- und Polypenoperationen über sich ergehen lassen. Nahm als Beobachter an den Kämpfen von Žalgiris und Pabaiska teil, heilte Pestopfer in Vilnius und kämpfte 1700-1715 gegen die Schweden. Überschritt mit Suvorovas die Alpen und nahm an der Revolution von 1905 und am Umsturz von 1926 teil. Seine Verbindungen zu der Person Grand Trix kosmischen Ursprungs sind unklar. Verfasste einige Aufsätze. Am bekanntesten ist der über die Glis-Glis-Population in Litauen und über den Wechsel der Jahreszeiten. Behauptet, bereits im Holozän gelebt zu haben, gibt sein Geburtsdatum mit 11 947 an und behauptet, das Jahr habe dreizehn Monate. Er ist eng mit der Geschichte der Dezivilisation verbunden, schließt sich aber auch der Lehre von der Defenestration, der Decollage und der Defloration an.

Am 13. Januar unterschiedlicher Jahre sind weiterhin geboren: 1831 Jonas Katelė, 1842 Petras Rimkevičius, 1869 Jadvyga Juškytė, 1880 Jovaras (in Wirklichkeit Jonas Krikščiūnas), 1888 Adomas Milka, 1900 Vincas Giedra und 1934 Eduardas Jonušas. Gestorben sind an diesem Tag im Jahr 1880 Motiejus Žūtautas sowie 1986 Elijas Bilevičius. »Ad majore natus sum!« Jawoll, ich bin zu größeren Dingen geboren!

Fahren wir fort, mein lieber Leser. Obwohl du vielleicht gar nicht lieb bist, so wie ich nicht herzlich bin: Dies sind einfach nur Bestandteile der Phrase »Lieber XY, herzlichst, dein YZ!« Die Multiplikation von Schablonen.

Meine Glis Glis schläft. Ihr Gewicht nimmt langsam zu. Ihr Gehirn ist im Ruhezustand, ihr Stoffwechsel hat sich verlangsamt. Historische »Große Schlafmäuse Glis Glis«: Ali Baba, der Führer der ersten schnellen Eingreiftruppe der Welt, Diogenes, der Fassbewohner, Alfred de Musset, der Romantiker, Musorgskij, Mitwirkender des Chovanščina-Ensembles, Mustafa, der große osmanische Wesir, der bis Wien vorstieß, und Heinz Guderjan, Zögling der Kazaner Militärschule, später Panzerfahrer bei der Wehrmacht. Weitere Beispiele: Seneca, Aesop, Krylov, D. Poška, Vorošilov und Goethe.

Was Mustafa betrifft, den osmanischen Wesir, so behaupten die Polen, dass die Türken bei einem Sieg vor Wien den Westen erobert hätten. Ebenso wären ohne die polnischen Legionäre die Bolschewiken im zwanzigsten Jahrhundert von der Weichsel bis zu den Ufern des Atlantik vorgestoßen. Wenn also die Litauer und die Polen nicht gewesen wären, würden die NATO und die EU heute von Istanbul (früherer Name: Konstantinopel) aus geleitet. (s. die Studie von Pašuta: Die Schlafmäuse der Polen und Litauer).

Nota bene: Im Jahre 1870 wurde in einem kleinen Häuschen auf der Kurischen Nehrung »Fräulein Preila« geboren, die Volkspoetin Nabelija Putriūtė-Puttersen. Nabė behauptet, sie sei ihr Großmütterlein (oder Urgroßmütterlein) väterlicherseits gewesen. Auf ihrem Taufschein steht auf Deutsch: »Geborene Putriute«, und Nabės Worten zufolge war die Alte eine typische Glis Glis. Sie ließ das »Memeler Dampfboot« und die »Königsberger Allgemeine« drucken, und sie war eine bedeutende Exhibitionistin ihrer Zeit: Splitternackt saß sie zwischen ihren Bienenkörben und kurierte durch die Stiche ihr Rheuma, ihr Zipperlein und ihre multiple Sklerose. Die Familie versuchte, sie aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Sie wurde für ihre provozierenden und pronazistischen Verse angegriffen und starb 1914, als sie durch ein Geschoss aus einem russischen Flugzeug an einer empfindlichen Stelle getroffen wurde. Sie wurde in Preila begraben, und jetzt wird ihr Grab von ihrer Nachfahrin gepflegt. In Literaturgeschichten und Autorenverzeichnissen wird sie unverdienterweise nicht erwähnt, obwohl es Hinweise darauf gibt, dass es Putriūtė gewesen sei könnte, die als Vorbild für die Figur des »Ännchen von Tharau« gedient hat.

Grundsätzlich ist die Glis Glis noch eine Maus mit den für alle Nagetiere charakteristischen Merkmalen sowie deren Mentalität und Lebensart (siehe Juozas Katinas: Die Maus im litauischen Alltagsleben, Tilsit 1914). Es gibt darüber hinaus die domestizierte Hausmaus, eine Allesfresserin bzw. Allesnagerin, die Kirchenmaus und die Speichermaus. Keine Maus gleicht der anderen. Mäuse haben ein schweres Leben.

Die Maus in der Folklore: »Da beißt die Maus keinen Faden ab.« Und: »Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse.« Auf solche Mäuse gehen Monchichis, Micky Maus, Kutuzovas und der große Mahlke zurück (siehe Günter Grass: »Katz und Maus«). Weiterführende Literatur: »Rettet die Katzenzüchter!« (Staatlicher Verlag für wissenschaftliche Literatur 1954, Charles Perrot: »Der gestiefelte Kater« usw.) Oder um es volkstümlich auszudrücken: Mit Speck fängt man Mäuse. Über Katzen haben außer Perrot Autoren wie Jonas Biblunas, G. Grass, E. T. A. Hoffmann, Romualdas Granauskas und, wie die Italiener sagen, quanti tutti geschrieben.

Die Glis Glis schläft noch, Gott sei Dank.

Die Große Schlafmaus. Sie riecht nach sizilianischen Lorbeerhainen, zart belaubten, südländischen Lorbeerhainen. Dorno, dorno, cara mia! Aber: Quandoque bonus dormitat Homerus, manchmal passiert es auch dem guten Homer, dass er einnickt. Trotzdem: Nulla dies sine linea! Kein Tag ohne Vers, und vor allem kein Tag ohne Re-Vers! Das Copyright © für dieses Phänomen haben Viktoras Brazauskas und Algirdas Steponas Valentinas: Die beiden banden sich jeden Tag breite Krawatten um und gingen mit Reversen spazieren. Kein Tag ohne Kontro-Verse oder ohne Re-Vers, das ist sonst per-vers.

Die Glis Glis als solche. Ihre Bedeutung für Zivilisation, Kunst und Kultur.

Die Glis Glis ähnelt in mancher Hinsicht echten Künstlern, zum Beispiel in puncto Dösen, Exzesse und Egozentrik. Schöpferische Menschen handeln meistens ohne Maß, ob sie nun schwelgen oder ruhen, und sogar dann, wenn sie eine kreative Phase haben. Und so endet meistens alles in gewöhnlichem Sex, vollständiger Erschöpfung, abgewetzter Kleidung und zweifelhaftem Ruhm. Dafür gibt es in unserem Lande beliebig viele Beispiele. Nicht selten tritt aber auch das »Delirium tremens« auf, von dem das Wort »Deliriker« oder »Delyriker« abgeleitet ist, das bedeutet natürlich dasselbe wie »Ex-Lyriker«, vergleiche »Ex-Premier«, »Excavator«, »Ex libris« oder »ex machina«. Alle diese Dinge sind allein auf unmäßigen Schlaf und unmäßiges Schlemmen zurückzuführen, aber auch auf eine unmäßige Gier nach Ruhm, die nicht einmal Asketen fremd ist.

Inzwischen ist die Kultur übersättigt wie Salzlösung, und die darin schwimmenden Kristalle erinnern an Krebsmetastasen, denn sie vermehren sich ab einem gewissen Zeitpunkt wie von selbst und werden zu Massenkultur. Schlafmäuse reden wie Menschen viel über Kultur, werfen mit Namen und Vornamen um sich, und häufig brüsten sie sich damit, mit wem sie getrunken, Mittag gegessen oder gevögelt haben, oder auch nur, mit wem sie Bus gefahren sind oder dergleichen mehr.

Das Trinken von Alkohol ist ein weiterer gemeinsamer Zug von Schriftstellern und Schlafmäusen. Die Russen haben sogar eigens die Bezeichnung »Tichij p’janica« hierfür geprägt, und auf einem Plakat im Fenster eines Feinkostladens war zu lesen: »Trinkst du ohne Maß, stirbst du ohne Zeit«. In der Sowjetzeit wurde in Litauen gar die Parole ausgegeben: »Ein Säufer hat kein Heimatland!« Kurze Zeit später wurde ein Meisterwerk der Philumenie (das Sammeln von Streichholzschachteletiketten) mit einer entsprechenden Aufschrift geschaffen, und sofort bedienten sich auch die Dichter dieses Spruches, siehe das Buch von Juozas Erlickas S. 461.

Es ist ein geringer Trost für uns, liebe Schwestern und Brüder, dass die Schlafmaus »absoljut trezvaja« schläft, absolut nüchtern, denn sie wird schon vom Schlaf selbst und von leichter Großtuerei berauscht, der sogar ein Professor anheim fallen kann. Trotzdem ist es schwierig, die Bedeutung der Schlafmäuse für die Gegenwartskultur einzuschätzen. Die Kultur selbst ist Freundin und Bettgenossin der Schlafmäuse, aber allein aus der Tatsache, dass beide Substantive Feminina sind, sollten wir keine lesbischen Züge ableiten. Freilich überraschte ich Nabė einmal, wie sie zusammen mit der Kulturträgerin Martha Ū . ihren Sommerschlaf hielt. Die beiden waren nackt, hatten sich in ein Bettlaken gewickelt und waren so angeregt in einen Catullband vertieft, dass sie weder mein diskretes Hüsteln noch das Poltern des zusammenkrachenden Schrankes hörten. Ich stand eine geschlagene Stunde neben den beiden, kitzelte ihre Fußsohlen und streichelte ihre Hüften, aber keine merkte etwas, bis Onega Mažgirdas unerwartet hereinplatzte, um Hausarbeiten durchzusehen und ein paar Prisen Machorka zu schnupfen. Als sie die beiden raffinierten Lustmolche sah, hielt sie ihnen eine lange Gardinenpredigt …

Später stieß ich auf ein ähnliches Phänomen, und zwar in der in Bad Soden (Hessen) herausgegebenen Literaturzeitschrift »Der Literat«. Dieses Blatt gedachte in wohl gesetzten Worten des 150. Geburtstages von Elisabeth Förster-Nietzsche, Ehefrau von Friedrich Nietzsche und ebenfalls Kulturträgerin, und in dem Aufsatz wurde auf ein sehr ähnliches Ereignis hingewiesen, das Nietzsche angeblich von dem Bekannten eines Freundes zugetragen worden war, einem Dragoner, der von dem Kollaps eines Pferdeknechtes in seiner Schar berichtet habe. Das war freilich nichts Schlimmes oder Kriminelles und zog auch nicht den Untergang des Abendlandes nach sich.

Es hat weder Sinn, Nüchternheit zu überschätzen, noch sollte man tiefen, gesunden Schlaf unterschätzen. Und sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall sollte man sich auf das Jüngste Gericht vorbereiten, wo keine Klagen durch die Berufungsordnung angenommen werden. Der Evangelist Lukas gemahnt ausdrücklich: »Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen und täglichen Sorgen und dieser Tag nicht plötzlich über euch komme wie ein Fallstrick; denn er wird über alle kommen, die auf der ganzen Erde wohnen.« (Lk 21, 34-35). Ob nun der Antipode an die Nüchternheit oder an das Wachsein gemahnt? Wer betrunken vor sich hindöst, hat jedenfalls seine Fehler und seine Vorzüge.

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