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Über den Rand hinaus

Das Theater leben dokumentiert die Dekade eines unablässigen geistigen Stoffwechsels – mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, dem undogmatischen Feminismus oder den Folgen der brasilianischen Militärdiktatur. Prägend war Becks Neugier auf ausgegrenzte Lebensformen, mit denen er die revolutionäre Hoffnung verband, dass sich im Leben dieser Ausgegrenzten der Vorschein eines anderen Lebens entdecken und fördern ließe, das schließlich das Leben der Mehrheitsgesellschaft zum Besseren verändern könne. Daher sein Studium der spirituellen Außenseiter, der Lage der Frauen, Schwarzen, Arbeiter und Arbeiterinnen, Landlosen, der Nachfahren der Sklaven und Sklavinnen. Beck genderte lange vor dem Entstehen der Political Correctness und folgte auch darin seiner anarchistischen Hoffnung, dass die friedliche Revolution von den Marginalisierten ausgehe. Damit verbunden ist in Becks Notizen natürlich die drohende Überfrachtung der Kunst, wenn sie zum Vehikel der Revolution oder zu ihrem Labor wird, in dem als verwirklicht erlebt werden darf, worauf die Gesellschaft draußen noch wartet, ohne es zu wissen.

Mit fast ethnologischer Neugier lässt sich Julian Beck auf seinen Reisen auf die jeweilige Kultur ein und sucht die Nähe zu ihr. In Berlin fällt ihm die Angst der Deutschen vor seiner eindringlichen, sie emotional überwältigenden Theaterform auf, die Angstreflexe heraufbeschwört, zwanzig Jahre nach dem Ende des Faschismus schon wieder durch den Verlust der Distanz auch die mit ihr verbundene Vernunft zu verlieren. Oder sein Staunen über den Karneval und die Tanz- und schamanistischen Zeremonien in Brasilien, den Samba, die Gilden der blocos in den Favelas. In all dem sieht Beck „Theater“ und durch das Theater hindurch das Engagement von Menschen, gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihnen Leid zufügen, zu widerstehen.

Becks Studien sind Suchbewegungen am Rand des bürgerlichen Gesellschaftsmodells, bzw. Expeditionen über es hinaus. So schreibt er über die Praktiken schwarzer Magie in São Paulo und die Kultur der Roma und Sinti, der „Gypsies“, wie er sie im Gestus seiner Zeit im englischen Original nennt – eine Sprechweise, die wir in unserer Übersetzung in ihrer historischen Form beibehalten haben, auch wenn wir sie heute mit Distanz zur Kenntnis nehmen. Julian Beck nennt einige seiner Textblöcke in diesem Buch „Meditationen“, und in diesem Sinne sind sie Versuche, zur Welt zu kommen – an konkreten Orten, mit dem eigenen Körper mittendrin. Und in diesen Meditationen melden sich all die Geister, denen er sich geöffnet hat, um dieses „Leuchten der guten Ziele“ zu erzeugen: Eric Gutkind, Strindberg, Pascal, Martin Buber, Dalí, Allen Ginsberg, Paul Goodman, Artaud, William Carlos Williams, Errico Malatesta, John Cage, die heilige Theresa, Joyce und Pound, Breton, Lorca, Proust, Cummings, Gertrude Stein und Rilke, Cocteau, Pollock und de Kooning, Piscator und Robert Edmond Jones, Becks anderer Lehrer, Malraux und Frost, Auden, Barker, Gauguin, Shakespeare, R. D. Laing, Daniel Cohn-Bendit, Grotowski und Stanislawski, Siddhartha Gautama und Yasodhara, Kropotkin, Lenin, Brecht, Allan Kaprow, Charlie Parker, das I Ging, William Baziotes und der noch nicht ins Deutsche übersetzte Zeitgenosse John Donnes Thomas Traherne, Aleister Crowley, Mao Tse-tung, Wilhelm Reich und der Revolution verschriebene Künstler wie Jerome Rothenberg, Jean Duvignaud, Jean-Jacques Lebel, Ernst Fischer, Ed Sanders, Genet, Georges Lapassade, Guy Debord – all das ist das von Beck zitierte Hinterland seiner Arbeit.

Bei einer Diskussionsveranstaltung in der Berliner Akademie der Künste 2006 bemerkte der Theaterleiter und Kurator Matthias Lilienthal, dass ein Grund für den anhaltend lebendigen Mythos des Living Theatre sicher der sei, dass jeder alles in dessen Arbeit hineinprojizieren könne. Die vielen Einflüsse, die in Becks Notizen sichtbar werden, zeigen, dass dieser Eindruck nicht grundlos ist, da Julian Beck über Jahrzehnte hinweg im Modus der konstanten Suche gelebt hat. Wie ein Feldforscher kartografierte er die Formen der Ausgrenzung und sammelte die herrschenden Stereotype, um sie umzudeuten. Bis zur letzten Buchseite spürt Julian Beck dem „Vaterkomplex“ der eigenen Homosexualität nach, den Klischees über „das fahrende Volk“ und Aporien der eigenen Bürgerlichkeit oder der Rolle der Kunst im bürgerlichen Gesellschaftszusammenhang: „irgendetwas ist schief / wenn picassos gemälde und schönbergs musik / auf den wappen der macht elite prangen / rockefeller sammelt de kooning / in der wall street wird allen ginsberg gelesen / jacqueline kennedy verehrt manet / sie nehmen alles weg.“

Positivität und nonfictional acting

Diese letzte Bemerkung – „sie nehmen alles weg“ – ist vielleicht die berührendste im ganzen Buch. Was soll man dagegen tun? Ich bin älter geworden mit der Selbstverständlichkeit, dass progressives Theater aufklärt, ernüchtert, ironisiert, Distanz lehrt. Und nun erinnern mich die Notizen von Julian Beck an die Option einer anderen Art von „Fortschritt“, an ein anderes Konzept von Wachstum, das wieder zusammenwachsen lässt, was der westliche Fortschritt durchtrennt hat. Und vielleicht wirken viele der Notizen von Julian Beck auch deshalb so frisch, weil sie vor allem Fragen sammeln – zum Teil tatsächlich in Listen, zum Teil aber auch als offene Denkimpulse inmitten längerer Argumentationen. „Das Theater macht Angst“, schreibt Beck 1969 in Italien, „weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben?“

Die Corona-Krise, der Bambusvorhang des neuen Kalten KI-Krieges, den die neue Weltmacht China baut, macht diese Frage nach dem Überleben unseres Planeten umso dringlicher. Julian Becks Notizen sind Teil eines neu erwachenden planetarischen Bewusstseins, das fast zeitgleich auch von Denkerinnen wie Donna Haraway und Lynn Margulis vorbereitet wurde, von James Lovelock oder Bruno Latour und dem ganzheitlichen Wissen der Indigenen. Daher wirkt nach all den Jahrzehnten Das Theater leben wie ein Reisebuch ins Post-Anthropozän, das Antworten auf die Frage, wie unser Planet überleben kann, absichtlich an den Rändern des westlichen Lebensmodells gesucht hat. Die vor mehr als fünfzig Jahren gestellte Frage macht das alte Wende-Buch eines wilden Theatermannes plötzlich wieder brisant. Werke wie Paradise Now schufen positive Szenarien der sozialen Einmischung, deren solidarischer Geist das Gegenteil vom Ellenbogengeist der kapitalistischen Gesellschaften bezeugt.

Hat den Ostdeutschen, fragte mich neulich wohlmeinend ein westdeutscher Journalist, nach 1989 nicht einfach nur ein bisschen der Ellenbogen gefehlt? Dagegen, scheint mir, hat Julian Beck nach szenischen Strategien der Empathie gesucht und Theaterformen entwickelt, die Gefühle der Isolation und Ohnmacht im Erlebnis der Aufführung selbst zu überwinden erlauben. Das führte zu der herausfordernden Idee, eine Praxis des „nonfictional acting“ zu kreieren – also eine Spielweise, die nicht darauf beruht, Figuren und die für sie erfundenen Geschichten darzustellen, sondern sich eher an Strukturen des Rituals und der Zeremonie zu orientieren.

Seltsamerweise verbindet sich der Begriff der Handlung im Theater ja ausgerechnet mit einer Form von Theater, das wie eine Maschine gebaut ist. In ihr führt eins zum anderen, immer voran, weitestgehend berechenbar dem Ende entgegen. Die Handlung ist in diesem Theater der Guckkästen und Fiktionen eine logische Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die sich im Verhalten einer Gruppe von Menschen auflöst. Diese Spielwerke dulden Menschen nur dann und nur gerade so lange, wie sie diesem Fortschritt des Geschehens dienen. Alles, was sie in ihren kurzen Auftritten sagen und tun, ist in diesem Sinne konfektioniert und begründet durch die Logik dieser Maschine – durch ihren Hunger nach entsprechenden Details, die Anlässe zu neuen Handlungen werden und Wissen produzieren, das zu neuen Konflikten führt.

Ganz anders ist hingegen das Verständnis von „Handlung“ in diesem Buch von Julian Beck. „Jeden Augenblick entstehen wir und vergehen: Ich will etwas und etwas will mich.“ Alles ist eingebettet – das Publikum in die Aufführung, das Leben der Ensemblemitglieder in die Art und Weise ihrer Produktion – und zu handeln bedeutet daher in Paradise Now, etwas zu tun, das gemeinsam erzeugt wird, mit anderen, jetzt. „Spielen als Aktion“ heißt Julian Becks siebter Imperativ des zeitgenössischen Theaters. Aus ihm folgt der Gedanke, dass „exzellente Form eine Lüge ist“. Die Kunst des Living Theatre hat sich über Jahrzehnte immer weiter von den Rahmungen gelöst, die sich am Broadway z. B. mit „Könnerschaft“ oder „Brillanz“ verbinden. Diese Verschiebung des Akzents vom Gelungenen in Richtung der Aktion und Unmittelbarkeit entwickelte im Schaffen Julian Becks eine große Kraft. „Perfection is something for assholes“, postuliert sechzig Jahre später Taylor Mac, ein anderer Nachfahre des Living Theatre, in seiner 24 Stunden dauernden Zeremonie zur politischen Geschichte der populären Musik.

Julian Becks Notizen sind keine Musterbücher, keine Betriebsanleitungen wie Brechts „Modellbücher“, sondern Begleitbücher innerer Reinigungs- und Entwicklungsprozesse. Sie sind der Welt entgegengeschrieben und versuchen, eine Ankunft der eigenen Arbeit, der Kompanie und Kreationen da draußen, unter den Menschen und mit den Menschen, durch ein inneres Wissen vorzubereiten. Julian Beck nennt den Broadway und unsere Repertoirebühnen „das exklusive Theater“. Dagegen entwickelte das Living Theatre in den zwanzig Jahren seiner Wanderungen die Idee des geteilten Ritus, eines Festes der Verbindung – nicht nur mit dem Publikum, auch durch das Publikum hindurch. Wobei die Präsenz des physischen Körpers bei der Schaffung seines „neuen Theaters“, in dem Schauspieler und Publikum ineinander aufgehen, eine besonders auffällige Rolle spielt, ähnlich wie im zeitgleichen Schaffen der Wiener Aktivisten und später im Werk von Paul McCarthy oder den Arbeiten von Vinge/Müller oder den Naked Shit Pictures von Gilbert & George.

„Schwimmen, spüren, dass wir Schönheit sind und heilig.“ Esoterik ist der griechischen Wortherkunft nach „dem inneren Bereich“ zugehörig und beim Living Theatre verbindet sich das mit einer Sprache, die sich im inneren Lebens-, Schaffens- und Denkprozess einer Gruppe von Menschen gebildet hat. In Julian Becks Schriften kristallisiert sich diese dem inneren Bereich zugehörige Sprache heraus und verbindet dabei den spirituellen Erkenntnisweg mit dem politischen. Dieser Haltung folgend wendet er z. B. das Stereotyp des technischen Einfühlungslehrers „Stanislawski“ und zeigt ihn als einen Lehrer der reflektierten Trance, des Identitätstauschs, der Immersion ins Andere und des Anderen in einen selbst. Rausch und Trance sind für Beck dabei keine Idealzustände, sondern Mittel der Begegnung und reflektiert eingesetzte Techniken, um Grenzen zu überwinden. Immer wieder geht es um diesen anarchischen Messianismus: das Kommende vorzubereiten.

Der Entstehung des Freien Theaters zuschauen

In diesem Buch kann man heute dem Entstehen des Freien Theaters noch einmal zuschauen. Es lässt sich schwer überprüfen, ob Judith Malina, die Ende der 1960er Jahre in einem italienischen Städtchen vorschlug, auf einen Abendzettel „Freies Theater“ zu schreiben, den Begriff wirklich zum ersten Mal für eine Arbeitsweise verwandte, die mit den Theaterkonventionen der Zeit bewusst gebrochen hat und das auch vermitteln wollte. Auf dem Zettel stand: „Dies ist Freies Theater. Freies Theater wird von den Schauspielern beim Spielen erfunden. Freies Theater wurde nie geprobt. Wir haben Freies Theater versucht. Manchmal gelingt es nicht. Nichts ist immer das Gleiche.“

Freies Theater hieß in dieser Phase des Living Theatre kein literarisches Theater, kein Theater mit Portal, sondern Improvisation ohne Titel und Ansage. Die Formen ihrer Stücke änderten sich im Laufe der Jahre. Aber die Struktur, in der das Living Theatre zu solchen Aufführungsformen gelangte, blieb auch bei anderen Kompanien mehr oder weniger gleich und prägt bis heute die alternative Produktionskultur des Freien Theaters – die Entscheidung für das Kollektiv, für Selbstermächtigung, die Kreation des Werkes weniger durch einen Autor als durch eine Gruppe usw. Gegen das Hochdienen von der Hospitanz zur Intendanz, gegen die übliche Besetzungspraxis bei Schauspielern und gegen fixe Abonnements vollzog sich im Living Theatre seit den 1950er Jahren eine schrittweise Abkehr von Strukturen, denen man sich als Theaterkünstler und -künstlerin unterordnen und anverwandeln muss. Im Freien Theater ist es bis heute, ohne es romantisieren zu wollen, umgekehrt – hier passen sich die Strukturen in der Regel den Menschen und den jeweiligen Projektformen und Bedürfnissen der Kunst an.

Zugleich war das Erwachen des Freien Theaters im heutigen Sinne ein internationaler Prozess: Parallel zum Living Theatre entstand das La MaMa, das nicht minder revolutionäre Theater der Unterdrückten und das Unsichtbare Theater von Augusto Boal, das Teatr Laboratorium und die späteren Special Projects von Jerzy Grotowski, das Bread and Puppet Theater von Peter Schumann oder das Cricot 2 von Tadeusz Kantor. Das Living Theatre beschreiben Julian Beck und Judith Malina als „Besserungstheater“ und stellen es den „Pseudo-Organisationen“ mit ihrer „Architektur von Potentaten“ gegenüber. Gegen das Broadway-Bild des Menschen setzt es sein Antibild des Schauspielers und der Schauspielerin ohne Schminke, ohne Manierismen und Imitation „der falschen Sauberkeit des Weißen Hauses“. Als Joulia Strauß, eine bildende Künstlerin und Aktivistin aus Athen, mich vor einigen Jahren auf dieses Buch hinwies, so weniger aus Gründen, die unmittelbar mit dem Theater zu tun haben, als wegen des hingebungsvollen, selbsterforschenden und kämpferischen Geistes dieser Notizen von Julian Beck.

„Welches Recht habe ich zu denken“, fragt sich Julian Beck, „sie alle könnten sich für Theater interessieren.“ Dass er aber die großen Forderungen und Ideen zuerst auf sich selbst anwendet, macht die Totalität seiner Forderungen irgendwie erträglich. Wobei es darauf nicht ankommt. Julian Beck wurde auf drei Kontinenten ein Dutzend Mal wegen zivilen Ungehorsams verurteilt. Er lebte sein Theater auch im Leben. War er ein Guru? Ja. Trat er posthum in der Serie Miami Vice auf? Ja. Handelte sein Schaffen von den „Problemchen der Bourgeoisie“? Nein. Kam er in die American Theater Hall of Fame? Ja. Und hätte dieses Buch in der deutschen Übersetzung ohne die Mitwirkung vieler Menschen entstehen können? Nein.

Beck spielte sporadisch in Filmproduktionen in Hollywood und andernorts, darunter 1967 den Hellseher Teiresias in Pier Paolo Pasolinis Film Ödipus Rex – wobei dies nur eine der Querverbindungen zu Milo Rau ist, der diesem Buch ein Nachwort schrieb, das Julian Beck als Erfinder eines „Theaters der Unreinheit“ zeigt. Milo Rau zeigt sich zutiefst angezogen von dieser Form eines nicht-bürgerlichen Theaters, das „keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, Produktion und Distribution, Kollektiv und Werk, Protest und Kreation“ kennt. Statt des früheren Vorworts von Judith Malina haben wir uns für den Abdruck ihrer Berliner Festspielrede von 1991 entschieden, in der sie die Geschichte des Living Theatre, ihrer Beziehung zu Piscator und Berlin beschreibt, und die kollektive Entstehung „eines unglaublich schönen Stücks“ zum Thema Freiheit, das sie in einem Workshop am Rammzata-Theater entwickelten und dann an den Orten des Konsums auf dem Breitscheidplatz am Kurfürstendamm und danach auf dem Alexanderplatz aufführten. Auf Wunsch von Garrick Beck drucken wir diese Rede im originalen Wortlaut. Für die Spurensuche nach den Texten, Rechten und Bildern möchte ich Thomas Walker und Dirk Szuszies danken, Anna Opel und Beate Hein Bennett für die Übersetzung, Nicole Gronemeyer für das Lektorat, Bernd Uhlig für seine Fotoserie, Yvonne Büdenhölzer und Anneke Wiesner für ihre Unterstützung beim Entstehen dieses Buches. Das Theater leben ist die Chronik des Bestrebens, Theater nicht als Spiegel des Lebens zu verstehen, sondern als eine Form, ein anderes Leben zu erfahren: „Allein wäre ich zu nichts gut. Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht.“

DAS THEATER LEBEN
Der Künstler und der Kampf des Volkes

Julian Beck

Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel

1

Es gibt körperliche Qualen und geistige Qualen; und selbst wenn die Sterne, so oft wir sie betrachteten, Nektar in unsere Münder gössen, selbst wenn Gras zu Brot würde, die Menschen blieben traurig. Wir leben in einem System, das Leid erzeugt; aus seinen Mühlen fließen Fluten von Leid, ein Ozean, ein Sturm reißt uns hinab und wir ertrinken vor der Zeit.

Das Theater ist wie ein Boot – nicht allzu groß – aber der Aufstand kehrt das System um und die Revolution ist die Wende der Gezeiten.

Ouro Preto, Brasilien, 6. Mai 1971

2

Ich bin ein Sklave, der aus Ägypten kam. Ich habe eine Sklavenmentalität. Aus dem Haus der Sklaverei ins Haus der Lohnarbeit. Als wir vor dreitausendfünfhundert Jahren von einer Kultur in die andere zogen, dachten wir, jetzt wären wir unsere eigenen Herren. Welche Illusion! Einen politischen Herrscher wurden wir los, waren zu unerfahren, unterschätzten die Rolle des Zahlmeisters, des Polizeichefs, der Stützen der Gesellschaft.

Uns war prophezeit (als wir um das Goldene Kalb tanzten): kostbare Edelsteine, Kriegsschiffe, Überfluss, Untergang usw. Noch immer tanzen wir um den falschen Gott – kaltes Metall, Mammon, Idol des Reichtums, und deshalb sind wir noch immer in der Wüste. Als wir das Gelobte Land erreichten, trugen wir das Goldene Kalb mit uns; nicht auf unseren Schultern, sondern im Herzen, und verwandelten das Land in eine Wüste, den ureigenen Ort des Goldenen Kalbes: denn der Glanz des Goldes (Strahlung) lässt das Laub verdörren, lässt die Flüsse (das Blut) und die Gefäße des Herzens versiegen. Das Goldene Kalb ist ein falsches Versprechen.

Viele meiner Brüder haben feuchte Träume von all ihren Schmerzen und Erniedrigungen, aber so bin ich nicht: Ich bin der Sklave, der sich lauter Fluchten ausmalt; von nichts anderem kann ich träumen als von Flucht, dem Emporkommen, ersinne tausend Arten, ein Loch in die Wand zu schlagen, die Gitter zu schmelzen, flüchten abhauen, notfalls das ganze Gefängnis niederbrennen.

Croissy-sur-Seine, Frankreich, April 1970

3

FRANKENSTEIN, III. AKT.

Eine blutige Revolution bricht aus im Gefängnis Welt. Es ist Viktor Frankensteins endgültige Lösung, der letzte verzweifelte Versuch, seine Aufgabe zu lösen: „Wie das menschliche Leiden beenden?“ Und die ganze Welt geht in Flammen auf; und aus der Asche formt sich einmal mehr die Kreatur, sie bedroht die Welt mit Suchscheinwerfer und Netz. Plötzlich passiert die Verwandlung: Die Kreatur lässt ihre Werkzeuge fallen, wirft beide Arme zum Himmel, sie reckt den Kopf empor, die Menschheit lebt, alle Hoffnung liegt auf der Kreatur. Weil wir glauben, dass das Wunderbare geschehen kann. Denn wenn wir die Welt in einer Revolution niederbrennen, mit Gewalt, wird das Leben nur durch ein Wunder, nur durch Mutation weitergehen.

Am Ende des ersten und dritten Aktes formt sich die Kreatur aus jenen toten Körpern, die der Gesellschaft zum Opfer gefallen sind. Die Kreatur, die zum Leben erwacht, entsteht aus den verkohlten Leibern, und das sind wir, am Ende der gewaltsamen Revolution – verkohlt, verwundet, verstümmelt, bedrohlich, aggressiv, zu retten nur noch durch Mutation.

Das Bild der Hoffnung inmitten von so viel Verzweiflung ist zwingend im Katechismus der Revolution. Weil Verzweiflung jedes Handeln zerstört.

Brooklyn, New York City, Oktober 1968

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326 стр. 28 иллюстраций
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9783957493798
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