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Das Leben

Hannah Arendt

oder

das Handeln als Geburt

und als Fremdheit

I. Das Leben ist eine Erzählung

»Es scheint, als seien bestimmte Personen in ihrem eigenen Leben (und nur in diesem, nicht etwa als Personen!) derart exponiert, daß sie gleichsam Knotenpunkte und konkrete Objektivationen des Lebens werden.«1 Hannah Arendt (1906–1975) schreibt diese Zeilen, die ihr eigenes Schicksal vorwegnehmen, als sie erst vierundzwanzig Jahre alt ist. Sie hat bereits Heidegger, ihr Leben lang eine faszinierende Präsenz, kennengelernt und geliebt und ihre Doktorarbeit in Heidelberg verteidigt: Der Liebesbegriff bei Augustin2, unter der Leitung eben desselben Karl Jaspers, dem sie sich anvertraut. Von vornherein weiß sie sich »exponiert«, und zwar so sehr, daß sie sich als Knotenpunkt und konkrete Objektivation des Lebens sieht.

Nachdem sie zunächst daran gedacht hatte, sich der Theologie zuzuwenden, und sich dann dem Studium und dem »Demontieren« der Metaphysik gewidmet hatte, besetzt das Leben bald den Hauptteil der Überlegungen der jungen Philosophin. Zunächst das Leben schlechthin: Hannah Arendt muß Deutschland 1933 verlassen, um zu überleben, um der Shoah durch das Exil zu entkommen. Sie hält sich zunächst in Paris auf und kommt schließlich 1941 in New York an, wo sie zehn Jahre später die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Als Politologin verfaßt sie eine wesentliche Studie über die Geschichte des Antisemitismus und die Ursprünge totaler Herrschaft, um dann schließlich zu ihren grundlegenden Betrachtungen über das Leben des Geistes zurückzukehren.

Früh von der besonderen Leidenschaft ergriffen, für die Leben und Denken eins sind, stellt sie während ihrer wechselvollen, aber zutiefst kohärenten Laufbahn stets das Leben – an sich und als zu erhellenden Begriff – in den Mittelpunkt. Denn weit davon entfernt, ein »professioneller Denker« zu sein, handelt Hannah Arendt ihr Denken im Zentrum ihres Lebens3. Man könnte in diesem spezifisch Arendtschen Zug eine weibliche Besonderheit erkennen: derart, daß die »Verdrängung«, von der man sagt, sie sei bei der Frau »problematisch«, sie daran hindert, sich in die zwanghaften Paläste des reinen Denkens zurückzuziehen, um ihr Denken in der Praxis der Körper und den Bindungen zu den anderen zu verankern.4

Doch mehr noch: In all ihren Schriften leitet das Thema des Lebens ihr Denken und befragt ebenso die politische Geschichte wie die der Metaphysik, so daß es sich im Laufe seiner zahlreichen Erörterungen läutert und ausfeilt. Die mit großem intellektuellen Mut aufgestellte, heftig attackierte These, Nazismus und Stalinismus seien die beiden Gesichter ein- und desselben Grauens des Totalitarismus, insofern sie auf die gleiche Verleugnung des menschlichen Lebens hinauslaufen, bildet eine der Grundlagen der Arendtschen Reflexion. Diese lebenszerstörende Verachtung, die in anderen Kulturen bereits bekannt war, erreicht seit dem Ersten Weltkrieg unter dem Druck des technischen Fortschritts einen bisher unerreichten Höhepunkt: Von der gleichen Verleugnung bewegt, jedoch in verschiedener Weise, treffen sich die beiden Totalitarismen im Phänomen der Konzentrationslager. So schreibt sie, »daß in Asien nicht die abendländisch-christliche Tradition von dem Wert jedes Menschenlebens dem Gefühl der Massen von der Überflüssigkeit der Menschen – ein Gefühl, das in Europa ganz neuen Datums ist und sich erst aus der außerordentlichen Bevölkerungszunahme der letzten 150 Jahre ergeben hat, um dann in den Krisen der Massenarbeitslosigkeit akut zu werden – entgegensteht«5, oder auch: »Diese Menschen konnte man nicht mehr zu politischen oder revolutionären Aktionen bewegen, indem man ihnen sagte, daß sie nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten; sie hatten bereits sehr viel mehr verloren als die Kette des Elends und der Ausbeutung, als das Interesse an sich selbst ihnen aus der Hand geschlagen wurde […] Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt hatten die vermassten Individuen die Quelle aller Ängste und Sorgen verloren, die das menschliche Leben in der Welt nicht nur bekümmern, sondern es auch leiten und dirigieren. […] Mit ihrer Weltlosigkeit verglichen waren die christlichen Mönche weltverhaftet, voller Interessen für weltliche Angelegenheiten.«6

Dieser ernste Ton, bei dem sich Wut mit Ironie färbt, verrät eine Sorge mit manchmal apokalyptischen Akzenten, wenn Arendt diagnostiziert, das »radikal Böse« liege im »pervertiert-bösen Willen« (im Kantischen Sinne), die Menschen »überflüssig zu machen«: Anders gesagt zerstört der Mensch des vergangenen ebenso wie des latenten Totalitarismus das menschliche Leben, nachdem er den Sinn eines jeden Lebens beseitigt hat, einschließlich seines eigenen. Schlimmer noch, diese »Überflüssigkeit« des menschlichen Lebens, die die Historikerin mit Nachdruck im Aufschwung des Imperialismus festmacht, verschwindet nicht – im Gegenteil – in den modernen Demokratien, die von der Automatisierung überrollt werden: »…wir können immerhin feststellen, daß dieses radikal Böse im Zusammenhang eines Systems aufgetreten ist, in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden. Die totalen Machthaber sind von ihrer eigenen Überflüssigkeit genauso überzeugt wie von der aller anderen, und die totalitären Henker sind so gefährlich, weil es ihnen offenbar einerlei ist, nicht nur ob sie leben oder sterben, sondern ob sie je geboren wurden oder niemals das Licht der Welt erblickten. Die ungeheuere Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat ›überflüssig‹ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.«7

Angesichts dieser Drohung erhebt sich eine vehemente Verteidigung des Lebens in der Vita activa8. Als Gegenpol zum – in der vitalistischen Hartnäckigkeit der Konsumideologie und von der in den Dienst des »Lebensprozesses« gestellten modernen Technik – platt reproduzierten Leben stimmt Arendt eine Hymne auf die Singularität einer jeden beliebigen Geburt an, die fähig ist, das zu eröffnen, was sie ohne Zögern das »Wunder des Lebens« nennt: »Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ›Gesetz‹ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann […] Das ›Wunder‹ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie ›Glaube und Hoffnung‹, also jene beiden wesentlichen Merkmale menschlicher Existenz, von denen die Griechen kaum etwas wußten […] Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren.‹«9

Heute fällt es uns schwer zu akzeptieren, daß das Leben, der heilige Wert der christlichen und nachchristlichen Demokratien, die junge Frucht einer historischen Entwicklung sein soll, und zu begreifen, daß es bedroht sein könnte. Doch eben die Frage nach diesem Grundwert, nach seiner Herausbildung in der christlichen Eschatologie und den Gefahren, die er in der modernen Welt läuft, durchzieht das Werk Arendts von einem Ende zum anderen – von ihrer Dissertation über Augustin bis zum unvollendeten Manuskript über die Urteilskraft –, wenn sie dieses Werk nicht sogar heimlich strukturiert.

1Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 24. März 1930, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, München, Zürich 1985, S. 48

2Berlin 1929

3Julia Kristeva benutzt hier – im Französischen ebenso wie im Deutschen vom üblichen Sprachgebrauch abweichend – das Verb agir/handeln transitiv. In diesen Kontext gehört eine Bemerkung Hannah Arendts, die möglicherweise einen gewissen Einfluß auf diesen Sprachgebrauch Kristevas gehabt haben mag: »Dies Denken hat eine nur ihm eigene bohrende Qualität, die, wollte man sie sprachlich fassen und nachweisen, in dem transitiven Gebrauch des Verbums ›denken‹ liegt. Heidegger denkt nie ›über‹ etwas; er denkt etwas« (Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München 1989, S. 175). (Anm. d. Übers.)

4Mehrere Veröffentlichungen, Kolloquien und Sondernummern von Zeitschriften sind dem Werk Hannah Arendts gewidmet. Besonders hervorzuheben sind: Social Research, Nr. 44/1977; Esprit, Juni 1980; Les Etudes phénoménologiques Nr. 2/1985; Les Cahiers du Grif, Herbst 1986; Les Cahiers de philosophie Nr. 4/1987; Kolloquium des italienischen Instituts für philosophische Studien in Neapel, 1987; Politique et pensée. actes du colloque international de philosophie 1988, Paris 1989 (Nachdruck bei Payot & Rivages, Paris 1996); Hannah Arendt et la modernité. annales de l’Institut de philosophie de l’Université libre de Bruxelles, Paris 1992; colloque international (Genf 1997), Bd. 1: Les Sans-Etat et le droit d’avoir des droits; Bd. 2: La Banalité du mal comme mal politique, Paris, Montréal 1998.

5Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, 2. Aufl. 1991, S. 502 (Hervorheb. v. mir, J. K.)

6Ebd., S. 511 (Hervorheb. v. mir, J. K.)

7Ebd., S. 702 (Hervorheb. v. mir, J. K.)

8Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1981, 11. Aufl. 1999

9Ebd., S. 316-317

1. Eine »derart exponierte« Biographie

Bevor wir die wichtigsten Etappen der Erkundung des Begriffs des Lebens bei Arendt nachvollziehen, sollen einige Hauptmomente ihres Lebens evoziert werden, so wie die Biographen es wiedergeben.10

Wie sie 1930 Jaspers schrieb, handelt es sich bei diesem Leben um eine »exponierte« Existenz, die in der Tat Hannah Arendt derart zu bedingen scheint (wir werden auf den Sinn dieser »Bedingung« zurückkommen, wie sie in der Vita activa definiert ist), daß sie – Leben und Werk ineinander verzahnt – eine »Objektivation« oder ein »Knotenpunkt« des »Lebens« wird.

Hannah Arendt, 1906 in Linden bei Hannover geboren, ist die Tochter von Paul Arendt und Martha Cohn. Die Arendts sind eine »alte Königsberger Familie«, wie die Philosophin in ihrem Fernsehinterview von 1964 mit Günter Gauss erwähnt.11 Als reformierte Juden und Bewunderer von Hermann Vogelstein, einem der berühmtesten Führer der liberalen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, zeigen sie sich gegenüber den Zionisten kritisch, empfangen jedoch Kurt Blumenfeld, den künftigen Vorsitzenden der deutschen zionistischen Organisation. Er wird mit der kleinen Hannah bei ihrem Großvater Max spielen und sie in der Bejahung ihrer jüdischen Identität bestärken. Jacob Cohn, der Großvater mütterlicherseits (im heutigen Litauen geboren), machte aus dem Familienunternehmen die bedeutendste Firma für den Import russischen Tees nach Königsberg (vorher war der englische Tee marktführend). Unter den Cohns gab es viele »großzügige und sensible« Witwen, wie die Großmutter Fanny Spiero-Cohn, zweite Frau Jacobs, die sich gern slawisch kleidete und Deutsch mit russischem Akzent sprach.

Paul Arendt arbeitete als Ingenieur mit einem in Alberta erworbenen Diplom in einer Gesellschaft für elektrische Ausrüstungen; Martha studierte Französisch und Musik während eines dreijährigen Aufenthaltes in Paris. Beide hegten Sympathien für die deutschen Sozialdemokraten und teilten die Goetheschen Ideale der deutschen Bildungselite. Die jüdische Identität war auf natürliche Weise in der Familie gegenwärtig, während die christliche Kultur durch Ada, das Kindermädchen, das sich um Hannah kümmerte, eindrang. Von Geburt ihrer Tochter an führen die Arendts ein Heft Unser Kind, das ihre Entwicklung festhält und in dem sich die scharfsinnigen Bemerkungen von Martha, der aufmerksamen Mutter, der nichts entgeht, herausheben: Als Einjährige »liebt es Hannah sehr, wenn es lebhaft um sie herum zugeht«; Mit anderthalb ist es »in der Hauptsache […] ihre Sprache die sie sehr geläufig hersagt. Versteht alles.«; mit zwei Jahren gibt es für die musikalische Mutter eine Enttäuschung, Hannah »singt nun zumeist falsch, leider!!«; aber mit drei kann sie sprechen, und zwar »nun so ziemlich alles, wenn auch für Fernstehende nicht ganz erkennbar« (schon Philosophin?). Sie ist »ausserordentlich lebhaft immer in Eile u. Bewegung, sehr zutraulich, auch zu ganz fremden Leuten«; mit sechs »lernt [sie] leicht und ist augenscheinlich begabt, rechnet ganz besonders gut.«12

Dieses Glück währte nicht lange, es wurde schnell getrübt durch den körperlichen Verfall Paul Arendts, der an Syphilis erkrankt war. In seiner Jugend zugezogen, lange stabilisiert, verschlimmert sich die Krankheit zwei Jahre nach der Geburt seiner Tochter und erreicht 1911 eine dramatische Phase mit Verletzung, Ataxie und Paresie (eine Art Demenz). Paul Arendt muß seine Arbeit aufgeben, die Familie läßt sich in Königsberg nieder, wo er ins Krankenhaus kommt. Der Großvater Max heitert diese traurigen Stunden während der Spaziergänge mit seiner Enkelin durch seine Kunst des Erzählens auf; und wenn man später im Werk der Philosophin eine Apologie des erzählten Lebens, bios / Biographie, finden wird, dem sie das biologische und stumme Leben, zoe, entgegenstellt, wird man sich an die erzählerische Magie eines anderen Vaters erinnern, der Hannah an das Leben band, während Paul Arendt seinen unerbittlichen Verfall erlebte.

1913: Max stirbt im März, Paul im Oktober. Martha notiert in Unser Kind, daß Hannah von diesem doppelten Ableben nicht berührt wird. »Bis sie mir gelegentlich erklärt, man müsse an traurige Dinge so wenig wie möglich denken, es hat doch keinen Sinn dadurch traurig zu werden. Und das ist so recht bezeichnend für ihre grosse Lebensfreudigkeit […] Sie nimmt das als etwas Trauriges für mich auf. Sie selbst ist unberührt davon. […] Sie ist auch bei der Beerdigung dabei u. weint, ›weil so schön gesungen wird‹…«13

Naivität des kleinen siebenjährigen Mädchens? Oder bereits ein Leben, das sich im Denken entfaltet und weiß, daß es möglich ist, entsprechend seinem Willen zu denken: an traurige Dinge – davon ist abzuraten – oder lieber an Lieder? Wenn ich im Denken bin, fehlt mir nichts? Man kann dies in der Tat annehmen, wenn man die Reflexionen ihrer Mutter liest: »Nun denkt sie auch wieder an ihren lieben Opa u. spricht von ihm lieb u. mit warmem Ton, aber ob er ihr fehlt? Ich glaube es kaum.«14 Ist das Denken nicht die einzige Art und Weise, mit den Toten zu leben, sie nicht zu verlieren und die Trauer zu transzendieren? Wir werden die Spur dieses frühreifen Ausweichens vor dem Tod dank eines Denkens, dem nichts fehlt, im impliziten Streit Hannah Arendts mit dem »Sein-zum-Tode« Heideggers wiederfinden. Ohne sich der Tragik des Todes zu entziehen, eröffnet sie neue Perspektiven, um den gemeinsamen Raum des Erscheinens zu denken: Bindungen, Teilung, Handeln.

Doch die Ruhe währt nur ein Jahr: Mit dem großen Krieg und der sexuellen Entwicklung des sehr jungen Mädchens beginnen die Ärgernisse. Hannah ist nicht mehr ganz so fröhlich, informiert uns Unser Kind; ihre quer wachsenden Zähne erfordern eine Zahnregulierung, unter der sie leidet; ihre schriftlichen Arbeiten sind nicht mehr so ausgezeichnet wie sonst, und selbst im Mündlichen ist sie schwächer – womit alles gesagt ist! Sehr leicht verletzbar, von launenhafter Stimmung, ist sie sogar »ungehorsam und rüpelhaft«! Das Ganze vor dem Hintergrund wiederkehrender kleiner Krankheiten: Fieber, Husten, Nasenbluten, Kopf- und Halsweh. Die Pubertät hat offensichtlich eingesetzt, und Hannah gelingt es noch nicht zu entscheiden, ob sie so robust wie … ihr Vater sein wird. »Könnte sie nicht ihrem Vater ähneln!« notiert Martha. Das wird schon kommen!

Eine harmlose Bemerkung des kleinen achtjährigen Mädchens (wir befinden uns im Jahre 1914) verrät die männliche Identifizierung, die sich abzeichnet: »…wenn uns jetzt ein Kind geboren wird, dann kennt es auch nicht seinen Vater«15, sagt Hannah ihrer Mutter. Seltsame Worte! Hinter dem Begehren zu wissen, woher die Kinder kommen, und seine Eltern zu erkennen, um dabei von ihnen anerkannt zu werden, ist in diesen Worten Hannahs die Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen und ihr Begehren nach dem abwesenden Mann erkennbar – Begehren, diesen Mann zu haben, Begehren, dieser Mann zu sein. Und das Fragen nach ihrem Platz zwischen den beiden Frauen: Wenn wir ein Kind machen würden, wer wäre der Vater? Da Paul und Max tot sind, wo ist der Mann? Wer ist der Mann? Du? Ich? Ein Fremder? Existiert der Mann? Wer kann erkennen, wer kann wissen? Wer kann uns – mir – ein Kind machen? Du? Ich? Niemand? Wenn uns jetzt ein Kind geboren wird, würde es seinen Vater nicht kennen: Wer ist der Vater? Eine intensive Komplizenschaft, die den Mann »erfaßt«, taucht zwischen den beiden Frauen auf, dermaßen, daß das »Paar« Mutter / Tochter 1927 den fünfundzwanzigsten Jahrestag des … Paares Martha / Paul feiert. Hannah ist zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt und arbeitet an ihrer Dissertation in Heidelberg.

1920 heiratet Martha Martin Beerwald, einen Geschäftsmann, Witwer und Vater zweier Töchter, Clara und Eva. Die Beziehung Hannahs zu dieser Schwiegerfamilie und insbesondere zu ihrem Schwiegervater ist, wie man sich vorstellen kann, stürmisch. Sie entzieht sich durch eine ausgesprochene Neigung zu »wilderen Eskapaden«16: jugendliche Version des Lebens, wo Begehren und Freundschaft sich vermengen? Eine glühende Freundschaft verbindet sie mit Anne Mendelssohn, Nachfahrin des Komponisten Felix Mendelssohn (Enkel von Moses Mendelssohn, Haupt der gesellschaftlichen und kulturellen Emanzipation der Juden in der Zeit der Aufklärung) und Freundin von Ernst Grumbach. Fünf Jahre älter als sie, hört dieser junge Mann die Vorlesungen von Heidegger und überträgt auf Hannah seine Begeisterung für den glänzenden Marburger Professor. Anne ist es, die einige Jahre später ihrer Freundin die seltenen Ausgaben der Schriften von Rahel Varnhagen schenkt, deren »Leben« Hannah Arendt schreiben wird.

Mittlerweile sind die zahlreichen Freunde von der intellektuellen Lebhaftigkeit und der Gelehrsamkeit Hannahs beeindruckt. Doch gerät sie in Streit mit einem Lehrer ihrer »Luisenschule« und wird von dort verwiesen! Wie immer ergreift die Mutter ihre Partei, die unruhige Schülerin wird das Abitur als freie Kandidatin ablegen, was ihr 1924 (ein Jahr vor ihrer Klasse) so glänzend gelingt, daß sie die Goldmünzen mit dem Abbild des Herzogs Albrechts I. von Preußen erhält.17 Nachdem Anne nach Allenstein gegangen ist, wird Hannah die Freundin von Ernst Grumbach: Dies ist Anlaß zu heftigem Klatsch, aber auch – immer wieder das Leben! – zum Schönerwerden und Sich-Entfalten. Und das mit Zustimmung ihrer Mutter – die Hannah Arendt im Interview mit Gauss als eine »spezifisch jüdische Menschlichkeit« verkörpernde Person beschreibt, mit ihrem »Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen« sowie »völliger Vorurteilslosigkeit«.18 Wir werden auf den Arendtschen Gedanken eines »Akosmismus« des jüdischen Volkes zurückkommen, der frei ist von Territorien und politischen Begriffen und als Kontrapunkt zu diesem Mangel »eine besondere Wärme« entwickelt, die allerdings nach der Gründung des Staates Israel vom Verschwinden bedroht ist.

In Berlin stößt die sich leidenschaftlich für Kierkegaard interessierende Theologiestudentin schnell auf eine Aporie: »Ich hatte dann nur Bedenken, wie man das denn nun macht, wenn man Jüdin ist. Und wie das vor sich geht?«19 Sie entscheidet sich, alles Interessante zu hören, was in den Universitäten des Landes an Philosophie gelehrt wird: daher Marburg und Heidegger (1889–1976). »Das Gerücht sagte es ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig [sic] geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, daß sie ganz andere Dinge vorbringen, als man mißtrauisch vermutet hat. Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen […]; die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins [sic] werden«, befremdet einigermaßen. »Dies Denken, das als Leidenschaft aus dem einfachen Faktum des In-die-Welt-geboren-seins aufsteigt und nun ›dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist‹, kann so wenig einen Endzweck […] haben wie das Leben selbst.«20

Begeistert und sprudelnd vor Lebendigkeit verliebt sich Hannah, »die Grüne« genannt – sie trug oft ein schönes Kleid dieser Farbe –, in den Professor, der seinerseits leidenschaftlich angezogen wird durch ihre Schönheit und die Tiefe ihres Denkens. Die geheime Idylle beginnt im Februar 1924; Hannah ist achtzehn Jahre alt, Martin Heidegger fünfunddreißig. Der vor kurzem publizierte Briefwechsel von Hannah Arendt und Heidegger ergänzt das polemische Buch von Elzbieta Ettinger und ermöglicht es, die Kraft dieser Verbindung nachzuvollziehen, der nur noch ihre eigene Unmöglichkeit gleichkommt.21 Heidegger, mit Elfriede verheiratet – einer dynamischen Frau mit nationalsozialistischer Gesinnung und dabei einigermaßen »feministisch« – und Vater von zwei Söhnen, hat keineswegs die Absicht, sich scheiden zu lassen. Dennoch beseelt eine intensive Leidenschaft den Professor. So kann man folgenden Absatz in einem Brief aus der Hand Heideggers vom 13. Mai 1925 lesen:

»Diesmal versagt sich mir alle Rede – und ich kann nur weinen, weinen – und das Warum hat auch keine Antwort – und versinkt – vergeblich wartend – im Danken und Glauben. […] Und Deine große Stunde – wo Du eine Heilige wirst – wo Du ganz offenbar wirst. Die Linien Deines Gesichtes sich straffen – gedrängt von der inneren Kraft einer – Sühne, die Dein Leben trägt. Kind – daß Du das kannst – und darin ehrfürchtig und groß geworden bist. Der Ehrfurcht erschließt sich das Leben – und gibt ihm Größe.«22

Codiertes Ritual der heimlichen Treffen; Entfernung Hannahs nach Heidelberg, wo sie – aus offensichtlichen gesellschaftlichen und deontologischen Gründen – unter der Leitung von Karl Jaspers, Korrespondent und Freund Heideggers, an ihrer Doktorarbeit schreibt; die Komplexität dieser Beziehung verzehrt die Studentin. Verletzt, jedoch stolz, verteidigt sich die junge Muse, so gut sie kann. Sie schützt sich hinter einem Schild von Freunden und Liebhabern: Hans Jonas, Zionist; Erwin Löwensohn, Essayist und expressionistischer Schriftsteller; Benno von Wiese, der Nationalsozialist wird und nach dem Krieg als herausragender Professor deutsche Literatur an der Bonner Universität lehrt; und Günter Stern, den sie 1929 heiratet. Günter Stern ist ebenfalls Schüler Heideggers und arbeitet an einer Dissertation über die Philosophie der Musik, die ihm die Kritik Theodor Adornos einträgt, bevor das Vordringen des Nationalsozialismus sich für seine Universitätslaufbahn als fatal erweisen wird.

Heidegger tut so, als ob er nicht versteht, daß diese Verteidigungsstrategie ein glühender Appell an seine ausschließliche Liebe ist, die ihr zu gewähren für ihn nicht in Frage kommt. Die künftige Philosophin gibt sich daraufhin jener Melancholie hin, die sie bereits in »Traum«, »Müdigkeit« und »Adieu« (1923–1924) ausgedrückt hatte, Gedichte, die auf ihre Beziehung mit Ernst Grumbach anspielten. 1925 schickt Hannah Heidegger ein Selbstporträt in Die Schatten, dem im folgenden Jahr weitere Gedichte folgen. In der dritten Person und in Heideggers Vokabular verfaßt, versuchen diese Verse, ihre Angst zu zähmen, ihre Gefühle der Fremdheit und Entfremdung in der Welt ebenso wie das bittere Bewußtsein ihrer Andersartigkeit. Eine grausame Angst, eine schreckliche Phobie – »In diesem Zustand überfiel die Hingestreckte die Angst vor der Wirklichkeit, diese sinn- und gegenstandslose, leere Angst, vor deren blindem Blick alles Nichts wird, die Wahnsinn, Freudlosigkeit, Bedrängung, Vernichtung bedeutet […] mit fast sachlich abwägender Erwartung irgendeiner Roheit […] es sei sie versuchte in gefügiger Freundlichkeit sich anzuschmiegen, blass und farblos und mit der versteckten Unheimlichkeit eines über den Weg huschenden Schattens« –, kaum moduliert von der Eitelkeit der Liebenden, die befürchtet, wegen ihrer erotischen Geschichte könnten die anderen denken, daß sie »hässlicher und gewöhnlicher wurde bis zur Stumpfheit und Zuchtlosigkeit«.23

Die Niederschrift der Vita der Rahel Varnhagen kommt gerade recht: Indem sie sich in dieser Biographie entwirft, indem sie das Leben einer anderen enttäuschten Liebhaberin erzählt, einer assimilierten Jüdin, die schließlich zur »bewußten Paria« wird, und indem sie an ihre Ursprünge anknüpft, scheint Hannah Arendt einen kathartischen Akt zu vollziehen, wenn nicht gar einen selbstanalytischen. Parallel und dank des Einflusses von Kurt Blumenfeld und seiner zionistischen Freunde wird sie sich des Ernstes der politischen Situation in Deutschland bewußt und schließt sich schrittweise dem Lager des Widerstandes an: In Berlin beteiligt sie sich an der Rettung von Regimegegnern, hilft im Frühjahr 1933 Kommunisten, übernimmt einen Auftrag der Deutschen Zionistischen Vereinigung, wird von der Polizei verhaftet und kann – wie durch ein Wunder – fliehen. Im August 1933 verläßt sie schließlich Deutschland, um mit ihrer Mutter nach Frankreich zu gehen.

In diesem Frühjahr 1933 löst Martin Heidegger als Rektor der Universität Freiburg seinen sozialdemokratischen Vorgänger ab, der entlassen wird, weil er sich geweigert hatte, jene Mitteilung zu plakatieren, die den Juden die Lehre verbietet. Heidegger glaubt, die Kultur zu retten, wenn er diese »Rettung des Seins«, für die ursprünglich allein seine philosophische Meditation zuständig war, auf das nationalsozialistische Projekt und den Kult des Volkes überträgt.

Hannah hatte sich 1929 verheiratet, ihre Beziehungen zu Martin brachen 1930 ab.24 »Daß Du jetzt nicht kommst – ich glaube, ich habe verstanden«, hatte sie ihm im April 1928 geschrieben. »Der Weg, den Du mir zeigtest, ist länger und schwerer als ich dachte. Er verlangt ein ganzes Leben.« Hannah erklärt sich bereit, diesen Weg der Einsamkeit zu gehen, da er ihr »die einzige Lebensmöglichkeit« zu sein scheint. Für sie heißt Leben Heidegger lieben: »Ich hätte mein Recht zum Leben verloren, wenn ich meine Liebe zu Dir verlieren würde.« Ohne das gewöhnliche Deine Hannah beendet sie ihren Brief wie folgt: »Und wenn Gott es gibt / Werd ich Dich besser lieben nach dem Tod.«25

Hannah Arendt wird dieses Versprechen halten, dessen Sinn sich in und mit der Zeit wandeln wird: Zunächst engagiert sie sich im politischen Kampf und in einer Reflexion, die keine Gemeinsamkeiten mit der philosophischen Arbeit Heideggers aufweist; im letzten Teil ihres Lebens schließt sie sich seinen grundsätzlichen Überlegungen in wachsamer, vielleicht auch ironischer, aber ganz sicher divergierender Nähe an, was sie dazu führt, eine echte Dekonstruktion des Denkens des Seins durchzuführen. Man könnte sich fragen, ob nicht eine gewisse weibliche Abhängigkeit, im Sinne einer unterwürfigen Passivität, diesen Weg heimlich begleitet. Tatsächlich distanziert sich Arendt nach dem Krieg deutlich von Heidegger26, den sie für die Entlassung Husserls an der Universität Freiburg verantwortlich macht – ein Irrtum, den Jaspers im Briefwechsel korrigiert.27 Sie legt Wert darauf, diesem mitzuteilen, daß sie ohne Einschränkung die Pathologie der Person Heidegger und sein Desinteresse an ihrem Werk, dem Werk einer Frau, verurteilt: »Mir hat immer geschienen, daß Heidegger in dem Moment, wo er seinen Namen unter dies Schriftstück zu setzen hatte, hätte abdanken müssen. Für wie töricht man ihn auch halten mag, diese Geschichte konnte er verstehen. […] kann ich nicht anders, als Heidegger für einen potentiellen Mörder zu halten. […] Nichts als törichte Lügnereien, mit einem, wie mir scheint, ausgesprochen pathologischen Einschlag.«28 »Ich habe ihm gegenüber mein Leben lang gleichsam geschwindelt, immer so getan, als ob all dies nicht existiere und als ob ich sozusagen nicht bis drei zählen kann, es sei denn in der Interpretation seiner eigenen Sachen; da war es ihm immer sehr willkommen, wenn sich herausstellte, daß ich bis drei und manchmal sogar bis vier zählen konnte. Nun war mir das Schwindeln plötzlich zu langweilig geworden, und ich habe eins auf die Nase gekriegt. Ich war einen Augenblick lang sehr wütend, bin es aber gar nicht mehr, bin eher der Meinung, daß ich es irgendwie verdient habe – nämlich sowohl für Geschwindelt haben wie für plötzliches Aufhören mit dem Spiel.«29

Dennoch besucht sie ihn 1950 und auch 1952. Sie führen erneut einen Briefwechsel, und von 1967 an bis zu seinem Tod 1975 begibt sich Arendt jedes Jahr nach Deutschland, um Heidegger zu sehen. Seine Briefe zeigen ihn gerührt und besonders beeindruckt durch die Beziehung, die er zwischen Hannah Arendt und Elfriede Heidegger, seiner Gattin, zu fördern sucht. Nachdem er an die Rolle seiner Frau Elfriede bei der Errichtung seiner Arbeitsstätte, der »Hütte«, erinnert hat und sich auf das neue vorausgesetzte – gewünschte – Verstehen zwischen Elfriede und Hannah bezieht, schreibt Heidegger am 8. Februar 1950: »So mag der gewordene Einklang künftig eingetönt werden in den warmen Ton der Holzwände dieser Stube. Ich bin froh, daß Dein Herdenken sich jetzt im Einblick in diese Werkstatt und durch ihren Ausblick auf die Wiesen und Berge bewegen kann.«30

Einen Monat später, am 19. März 1950, kommt Heidegger auf Hannahs ersten Besuch nach dem Krieg zurück: »Ich wußte dies, als ich Dir am 6. Februar wieder gegenüber stand und ›Du!‹ sagte. Ich wußte, daß jetzt für uns ein neues Wachstum beginne, aber auch die liebende Mühe, alles in ein offenes Vertrauen zu pflanzen. Wenn ich Dir sage, daß meine Liebe zu meiner Frau jetzt erst wieder ins Klare und Wache gefunden, so danke ich es ihrer Treue und ihrem Vertrauen zu uns und Deiner Liebe.«

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393 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783863935665
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